Viele Menschen haben aufgehört in den Kategorien des Systems zu denken

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Krise ist seit 2008 ein geflügeltes Wort. Aus der Finanzkrise wurde nach den massiven Umschuldungsmaßnahmen, in dessen Kontext Milliarden von Steuergeldern in private Banken gepumpt wurden, staatliche Schuldenkrisen.

Diverse Länder der EU gerieten in finanzielle „Schieflage” darunter auch Griechenland. Das von der EU und dem IWF verabreichte Heilmittel hiess Schuldenreduktion, Privatisierung und Sparmaßnahmen. Im Mai 2010 akzeptierte das griechische Parlament ein internationales Hilfspaket über 110 Milliarden Euro, verpflichtet sich aber im Gegenzug zu drastischen Sparmaßnahmen. Massenproteste waren die Antwort, in dessen Zuge es am 25. Mai 2011 zur Besetzung des Syntagma-Platzes, dem zentralen Platz vor dem griechischen Parlament kam. Der Platz blieb bis zur polizeilichen Räumung am 30. Juli besetzt.

Fast drei Jahre zuvor, im Dezember 2008, gingen Bilder eines brennenden Weihnachtbaumes auf dem Syntagma-Platz um die Welt. Jugendliche hatten ihn im Rahmen von massiven, den ganzen Dezember anhaltenden, Protesten in Brand gesteckt. Unmittelbarer Auslöser für die Proteste war die Erschießung des 15-jährigen Alexis Grigoropoulos durch einen Polizisten in Athen. Die Krawalle des Dezembers haben aber in aller Deutlichkeit die soziale, politische und ökonomische Krise zum Vorschein gebracht, welche längst nicht nur Griechenland erfasst hatte.

Dimitra, Vasilis, Paschalis und Evangelia* sprechen über die seit 2008 gewachsene politische Bewegung und die Zusammenhänge des Dezembers 2008 mit der aktuellen Bewegung, die Veränderungen innerhalb der griechischen Gesellschaft, die sich gerade durch ein wachsendes Bewusstsein manifestieren, und den Mangel einer geeigneten Sprache der Linken, um die Gesellschaft als Ganzes anzusprechen.

* Interviewt wurden Dimitra und Vasilis, beides AktivistInnen und WissenschaftlerInnen, sowie Paschalis und Evangelia, die in wissenschaftlichen Zusammenhängen arbeiten. Alle vier sind in Athen wohnhaft und haben die Bewegungen vor Ort miterlebt. Das Interview wurde geführt von RaGeo.

Am 6. Dezember 2008 wurde der 15-Jährige Alexis Grigoropoulos von einem Polizisten in Athen erschossen, daraufhin kam es während des ganzen Dezembers zu massiven Krawallen in Athen, aber auch in anderen Städten Griechenlands. Es war nicht der erste Vorfall dieser Art und allgemein schien, dass die Gründe für den Aufstand tiefer lagen und der Mord an Alexis nur der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte, oder wie würdet ihr die Situation damals einschätzen?

Pascalis – Um die Ereignisse in Athen nach dem Mord an Alexis verstehen zu können, müssen wir etwas zurückblenden. Die Explosion des Dezembers war sicherlich ein unmittelbarer Aufschrei, der sich direkt gegen die Erschießung des Jungen richtete. Aber nicht nur. Die Ereignisse waren auch Ausdruck einer allgemeinen Militarisierung des Öffentlichen Raums – ein Prozess, der in dem linken Stadtteil Exarchia, wo Alexis erschossen wurde, deutlich zu beobachten war. Im Wesentlichen war es aber auch eine Reaktion auf die vielschichtigen Restrukturierungsprozesse innerhalb der Arbeitswelt und allen anderen Feldern des sozialen Lebens in Griechenland, die seit den 1990ern zu einer starken Marginalisierung diverser sozialer Gruppen geführt haben und sich in einem erdrückenden Mangel an Perspektiven manifestieren. Die Form, die der Dezember angenommen hat, ist somit aufs engste mit dem Rückzug des Staates aus dem Sozialen verknüpft. So gab es die Besetzungen des Gewerkschaftsverbandes – The General Confederation of Greek Workers (GSEE) – in Athen, welche die Frustration gegenüber den traditionellen Gewerkschaften zum Ausdruck brachte, es wurden öffentliche Theatereinrichtungen besetz, um über die Rolle von Kultur zu debattieren und in besetzten Stadtteilzentren wurde über die allgemeine Rolle von Politik in der Gesellschaft diskutiert. Es war eine Bewegung, die jeden Aspekt des alltäglichen Lebens einnahm, sie sprach zur Kultur, zu den Medien, zu allem.

Wenn diese Bewegung sich in einem so breiten Rahmen äußerte, dann liegt die Frage nahe, wer denn die Menschen waren, die sich an den Protesten beteiligten.

Evangelia – Wer genau alles beteiligt war, ist schwer zu fassen. Am Anfang war es sicherlich eher eine Bewegung der Mittelklasse. Dann aber, nach einigen Tagen begannen sich diverse marginalisierte Gruppen, MigrantInnen, ArbeiterInnen etc. zu beteiligen.

Pascalis – Ich würde sagen, dass es primär eine Bewegung junger Menschen, StudentInnen und prekarisierter ArbeiterInnen war. Es war aber auch eine Bewegung von und mit MigrantInnen – vor allem der zweiten Generation –  aber auch Papierloser. Es war das erste Mal, dass sich MigrantInnen an den politischen Prozessen der Linken beteiligten und dass Menschen, die in vielerlei politischen Initiativen arbeiteten, zusammenkamen und sich gemeinsam organisierten.

Ihr habt auf die Rolle der Besetzungen hingewiesen. Organisation jenseits des unmittelbaren Zusammenkommens an Demonstrationen scheint ein wichtiges Thema gewesen zu sein.

Dimitra – Auf jeden Fall. Die Proteste kreierten neue Initiativen, die sich dezentral organisierten und sich an öffentlichen Orten trafen. Diese Initiativen überdauerten den unmittelbaren Aufstand und einige Zusammenschlüsse entstanden erst nach dem Dezember. So denke ich, dass die Erfahrung des Dezembers sehr wichtig war. Im Kontext der Bewegung wurden viele radikalisiert und sie begannen sich in einer Art und Weise in der öffentlichen Sphäre zu bewegen, wie sie dies vorher nicht getan hatten.

Pascalis – Die Bewegung war nicht innerhalb der traditionellen Linken organisiert, sondern es waren die Direktbetroffenen, die sich zusammenschlossen. Es gab im Dezember in Athen mindestens drei zentrale Orte für diese Treffen: Das Polytechnikum, die Fakultät der Rechtswissenschaften und jene der Wirtschaftswissenschaften. Neben diesen Treffpunkten waren die eigenen Medien auch enorm wichtig, zumal für eine gewisse Zeit die Massenmedien – gerade bei jungen Menschen – durch eigene Medien ersetzt wurden. Alles in Allem wurde im Kontext des Aufstandes sehr breit über gesamtgesellschaftliche Alternativen diskutiert, was ich als einen deutlichen Beleg dafür sehe, dass die Ereignisse nicht nur eine Reaktion auf die Polizeigewalt waren, sondern einen tiefer liegenden Grund hatten.

Wie sind denn die Ereignisse des Dezembers 2008 rückblickend einzuschätzen und was für eine Bedeutung haben sie?

Dimitra – Wichtig war, dass die Bewegung enorm breit war und sich nicht nur jene beteiligten, die schon vor dem Aufstand in verschiedenen linken Bewegungen aktiv waren. Spannend zu sehen war aber, dass es gerade die Positionen der radikalen Linken waren, die innerhalb der Bewegung ideell dominierten. Dennoch muss festgehalten werden, dass die extreme Rechte und die Nationalisten ebenfalls einen verstärkten Zulauf verzeichneten. Dies war paradox, denn im ersten Moment waren diese Parteien komplett marginalisiert, im Rückblick aber vermochten sie aus den Ereignissen für sich Kapital zu schlagen und ihre Basis auszubauen.

Evangelia – Die Ereignisse waren schwer zu verorten. Diese massive Gewalt, war auf jeden Fall auch für Griechenland etwas Neues, das uns selbst erschreckte. Gesamthaft wird es wohl noch einige Jahre dauern, um zu verstehen, was die genaue Bedeutung dieser massiven Gewalt war. Aber es ist wichtig zu sehen, dass im Vorfeld der Ereignisse die ökonomische, soziale, politische und kulturelle Krise immer spürbarer wurde und deutlich zum Vorschein kam, dass die Vorstellung junger Menschen, was ihre Zukunft betrifft, nicht mehr dieselben sein könnten, wie jene ihrer Eltern. Der Dezember brachte dieses Bewusstsein in aller Deutlichkeit hervor.

Ihr legt großen Wert darauf, dass die Bewegung mehr war als ein unmittelbarer Gewaltausbruch. Ihr sprecht die Organisationsformen und ein gewachsenes Bewusstsein über gesamtgesellschaftliche Abläufe an. Hat sich nach 2008 dann auch etwas verändert?

Evangelia – Die große Veränderung liegt gerade darin, dass viele Menschen in den letzten vier Jahren angefangen haben sich Fragen zu stellen, die sie sich in der Vergangenheit nicht gestellt haben. Lange Zeit war es nur die radikale Linke, die sich kritisch mit den gesellschaftlichen Prozessen auseinandersetzte und die herrschende Ordnung grundsätzlich in Frage stellte. Jetzt aber beginnen dein Vater und deine Mutter dich zu fragen, was jetzt mit ihrem Geld zu tun sei, was denn jetzt passiere. Sie versuchen zu verstehen, wie das System funktioniert. Die Menschen haben angefangen, sich darum zu kümmern, weil es für ihr Leben wichtig geworden ist. Das Spektrum jener, welche sich mit sehr grundsätzlichen Fragen auseinandersetzen, hat sich somit geöffnet und die Debatten sind mitten in der Gesellschaft angekommen, sie sind so offen wie nie zuvor – das ist ein zentraler Wandel.

Wenn wir nun einen Zeitsprung machen und die Protestbewegung rund um die Schuldenkrise Griechenlands und die geplanten Sparmaßnahmen anschauen, dann nehmen diese doch ähnliche Formen an. Und ihr habt die Kontinuität der Strukturen von 2008 betont, gibt es da direkte Verbindungen zu heute? Oder anders gefragt, wäre diese massive Bewegung heute überhaupt möglich ohne die Ereignisse von 2008?

Vasilis – Im Hinblick auf die aktuelle Protestbewegung war der Dezember 2008 sehr wichtig. Die damals 16- bis 20- jährigen Menschen, die versuchten, ihre Solidarität mit Alexis zu zeigen in dem sie auf die Straße gingen, wurden in diesem Moment auch politisiert. Heute sind diese Menschen zwischen 19 und 23 Jahre alt und sie sind sich sicherer darin geworden, wie mit der Krise umzugehen ist und was diese Krise für ihr eigenes Leben bedeuten wird.

Dimitra – Ein wichtiger Unterschied zu 2008 ist, dass der Protest damals als eine Jugendrevolte verstanden wurde. Die aktuellen Proteste gegen die Sparmaßnahmen und die Krise interpretiert niemand mehr als einen Jugendprotest, denn sie haben die ganze Gesellschaft erfasst. Dies zeigt nicht zuletzt auch die Besetzung des Syntagma-Platzes, die in sehr breiten Gesellschaftsschichten Rückhalt genoss. Letztlich ist die Frage, ob ohne den Dezember die Syntagma-Platzbesetzung nicht geschehen wäre, nicht beantwortbar, aber auf jeden Fall hatte der Dezember eine wichtige Rolle in der Wegbereitung, diese Prozesse sind aber innerhalb der Gesellschaft abgelaufen und die nachzuvollziehen ist enorm schwierig.

Am 25. Mai 2011 wurde der Syntagma-Platz nach einer langen Periode von Demonstrationen und Streiks gegen die griechische und europäische Sparpolitik besetzt. Von außen beobachtend hatte man jedoch das Gefühl, dass der Protest im Vorfeld der Besetzung etwas abgeflaut war und in den Zeitungen wurde Berichtet, dass die GriechInnen ihr Schicksal nun angenommen hätten und bereit wären sich auf die neuerlichen Restrukturierungsmaßnahmen einzulassen. Was waren also die Bedingungen, die letztlich zu der Besetzung führten?

Vasilis – Es war in den 1990ern, als der Staat den Menschen sagte: „Nehmt Kredite auf, die griechische Ökonomie floriert, es ist nicht gefährlich!” Am Anfang der angekündigten Restrukturierung war die Meinung noch dominant, dass wir nun für diesen Fehler der 1990er bezahlen müssen und dass wir selbst Schuld an dieser Misere seien. Die Menschen glaubten, dass der öffentliche Sektor nicht funktioniere, die Wirtschaft nicht besonders produktiv sei und wir somit individuell weniger Löhne in Kauf nehmen müssten. Aber dann siehst du die Zahlen von Eurostat und du siehst, dass die Produktivität in Griechenland in etwa dieselbe ist wie jene in Frankreich, Spanien oder Deutschland.

Die Menschen hörten auf zu glauben, dass die Krise von ihnen verursacht worden sei und sie über individuelle Sparmaßnahmen behoben werden könne. Als dann im Verlaufe des letzten Jahres die negativen Nachrichten nicht abrissen und immer mehr Menschen ihre Arbeit verloren, entstand eine Situation, in der viele offensichtlich nicht zu Hause bleiben wollten. Sie wollten ihre Wut mit anderen teilen. All diese Menschen die ihre Arbeit verloren haben, die wurden spürbar politischer und zeigten mehr Bereitschaft, sich zu engagieren. Der Syntagma-Platz war ein guter Ort für diese Menschen, da konnten sie hin und sie kamen.

Evangelia – Ja ich denke auch, dass viele mit dem Fortlauf der Krise immer besser verstanden, was da genau abläuft. Projekte wie „Debtocracy”[1] unterstützten den Lernprozess ungemein und die Menschen begannen die Bedeutung von Schuld zu verstehen. Sie haben verstanden, dass es in der Schuld keine Perspektive gibt und dass man noch so viel sparen kann, noch so viel Lohnkürzungen hinnehmen kann, die Schuld aber dennoch nicht abnehmen wird. Also warum sollten wir das alles auf uns nehmen?

Vasilis – Ja, wir konnten gar nirgends anders hin als auf den Syntagma-Platz, das ist der Hauptplatz, direkt vor dem Parlament, der Feind ist dort, vor dir.

Die Besetzung dauerte schließlich bis am 30. Juli und hatte somit auch Bestand, als Ende Juni über die Sparmaßnahmen, welche von der EU vorgegeben wurden, im Parlament abgestimmt wurde. Tage also, in denen die Behörden die Innenstadt sperren wollten und es immer wieder zu massiven Zusammenstößen mit der Polizei kam, wie konnte der Platz dennoch gehalten werden?

Vasilis – Als die Besetzung anfing, da wollte die Polizei die Situation nicht weiter anheizen und hoffte, dass die Bewegung auszusitzen sei und abflachen würde. Am Anfang hatte das Ganze auch nicht einen so politischen Charakter. Dann wuchs die Bewegung an und es wurde noch kritischer, den Platz zu räumen. Die Hoffnung der Behörden war, dass mit dem Sommer nur noch wenige bleiben würden und es einfacher aufzulösen sein werde – letztlich geschah dann auch genau das. Hilfreich war aber sicher, dass der Platz und dessen Zugänge polizeilich schwer zu kontrollieren sind. So war lange Zeit das Hauptziel der Polizei, das Parlament zu bewachen und sicherzustellen, dass niemand rein geht.

Pascalis – Der Staat spielt mit dem Gleichgewicht und versucht, den Schein einer Demokratie zu wahren. Denn wenn die Behörden versucht hätten, von allem Anfang der Besetzung mit Repression zu begegnen, dann wäre die Situation wohl eskaliert. Andererseits versucht der Staat ein gewisses Mass an Barrieren zu setzen. So wurde etwa am 29. Juni 2011, an dem Tag als über das Sparprogramm abgestimmt wurde, von den Behörden dazu aufgerufen, nicht in die Innenstadt zu kommen. Der Platz war zu diesem Zeitpunkt noch besetzt und dem Aufruf der Behörden wurde nicht Folge geleistet. So mussten die Abgeordneten, um abstimmen zu können, unter Polizeischutz in das Parlamentsgebäude. Das hatte eine massive Symbolkraft.

Dimitra – Am Abend nach der Abstimmung wurden die Abgeordneten gar durch den Hinterausgang hinausgeleitet und es gab Bilder im Fernsehen von mit Taschenlampen geführten Politikern die durch den Garten hinter dem Parlament geleitet wurden.

Besetzungen von öffentlichen Gebäuden, Demonstrationen in den Strassen und die Inbesitznahme des Syntagma-Platzes – Öffentliche Räume spielen in beiden Bewegungen, jener von 2008 und auch in der aktuellen, symbolisch wie praktische eine zentrale Rolle?

Vasilis – Der Öffentliche Raum ist zentral. Öffentlicher Raum ist der Ort, wo was verändert werden kann, es ist der Ort wo du dich ausdrücken kannst, zeigen kannst, wer du bist. Dies gilt vor allem auch für ausgeschlossene und marginalisierte Gruppen.

Pascalis – Im Zentrum zu sein ist aber nicht nur symbolisch wichtig, sondern auch ganz real politisch wie ökonomisch. Denn die Zentren vieler griechischer Städte sind wichtige Orte für die Tourismusindustrie. Die Inbesitznahme des Zentrums hat somit auch die Form eines Streikes der Stadt. Man interveniert sehr aktiv in die sozialen Abläufe einer Stadt, manchmal unterbricht man sie gar vollkommen, die Stadt als produktiven Ort wird lahm gelegt. Ich glaube, dass das sehr wichtig ist. Dies bringt die Gegenseite auch zum Ausdruck, wenn die Stadtbehörden betonen, dass der Protest aufhören müsse, weil die Wirtschaft und der Tourismus Schaden nehmen würden.

Ein weiterer Aspekt, den wir beobachten konnten, ist, dass die Bedeutung von Gewalt und Ausschreitungen im Öffentlichen Raum nicht nur rein physisch Gehalt haben, sondern – gerade weil das im Öffentlicher Raum stattfindet – in einer sehr dynamischen Art und Weise das reflektiert und materialisiert was in der Gesellschaft als sozialer Konflikt abläuft. So denke ich dass die Präsenz und Ereignisse im Öffentlichen Raum in den letzten vier Jahren stark zu dem gewachsenen politischen Bewusstsein beigetragen haben, das wir heute beobachten können.

Evangelia – Gerade bei der Syntagma-Platzbesetzung hatten wir das Gefühl, dass sich die Stadt als Ganzes beteiligt und somit war das Zentrum mehr als nur eine Kulisse für den Protest. Wichtig ist zu sehen, dass der Syntagma-Platz nicht nur räumlich zentral liegt, sondern auch von einer sehr heterogenen Bevölkerungsschicht umgeben ist. So kann man einerseits zu Fuss in die teuersten Einkaufsstraßen von Athen gehen, gleichzeitig sind aber auch sehr arme Stadtteile in unmittelbarer Nähe. Und die Menschen, die auf den Platz kamen, um die Besetzung zu unterstützen, die kamen aus all diesen Schichten, es gab da keine scharfe Trennung.

Ihr habt im Zusammenhang mit der Besetzung des Syntagma-Platzes gesagt, dass die Bewegung eher unpolitisch anfing, dass sich dies aber verändert habe im Verlauf der Besetzung. Gleichzeitig habt ihr betont, dass 2008 von Anfang an die radikale Linke auf der ideellen Ebene sehr präsent war. Welche Rolle spielt denn die Linke heute?

Pascalis – In den letzten paar Monaten verstärkt – aber auch schon in den Jahren zuvor – war zu beobachten, dass es teilweise eine feindselige Einstellung gegenüber linken Gruppierungen gab und das ist etwas, das wir analysieren müssen, vor allem die Ursachen dieser Stimmung. Ich glaube aber, dass eine bewusste Diskreditierung linker Ideen auch ein Teil des neoliberalen Programms war, das wir in den letzten Jahrzehnten gesehen haben. Es war eine Politik, die sich gegen Gewerkschaften, gegen Streiks und ganz allgemein gegen eine Kultur des Widerstandes richtete. Dann kommen die internen Probleme der Linken in Griechenland hinzu.

Vasilis – Ja, wir haben tatsächlich ein grosses Problem mit den linken Parteien in Griechenland. Es gibt drei große linke Parteien, unter anderem die Kommunistische Partei, die sehr konservativ ist und sich nicht zu anderen Teilen der Linken öffnen will, das ist also ein Problem. Dies nicht zuletzt deshalb, weil ich glaube, dass sich einiges bewegen lassen würde, wenn die Linke in Griechenland heute geeint wäre.

Die Bewegung von 2008 hat offensichtlich einige Spuren in der griechischen Gesellschaft hinterlassen, gerade auch im Hinblick auf die aktuellen Proteste. Was denkt ihr, wird von der Besetzung des Syntagma-Platzes bleiben?

Pascalis – Zum Beispiel sind alternative Ökonomien, die bis anhin komplett abnorm waren, ins öffentliche Interesse gerückt. Bis vor einigen Jahren hatten wir quer durch die Gesellschaft einen neoliberalen Konsens. Heute müssen sogar Massenmedien eingestehen, dass es Alternativen gibt.

Ich weiß nicht, ob der Syntagma-Platz revolutionär war, aber viele Menschen haben während der Besetzung aufgehört, in den Kategorien des Systems zu denken. Und erst so wurde es überhaupt möglich, sich im Klaren zu werden, welches Verhältnis diese Schuld ausdrückt und die einzige Antwort darauf sein kann, dass wir sie nicht bezahlen. Für viele Menschen war die Erfahrung des Syntagma-Platz eine praktische Radikalisierung. Dies ist auch durch partizipatorische Prozesse auf dem Platz gefördert worden, und auch wenn ich nicht weiss, was der Ausgang sein wird, so bin ich mir doch sicher, dass alle, die dort waren, informierter und bewusster gegenüber der gegenwärtigen Situation sind.

Evangelia – Die Menschen diskutieren heute auf der Strasse, ob aus dem Euro ausgetreten werden soll, wie es mit Europa weitergehen soll. Es werden also Diskussionen geführt, die noch vor einigen Jahren nur von einer ganz kleinen Minderheit linker Menschen geführt wurden. Aber jetzt handeln sie! Insofern kann gesagt werden, dass das was im Dezember 2008 war, eine erste Reaktion war, dass das, was wir aber in den letzten Jahren gesehen haben, das ist ein wachsendes Bewusstsein.

Vasilis – Wir haben mit den Protesten der letzten Jahre erreicht, dass heute alle über die aktuellen Abläufe Bescheid wissen. Heute weiß jeder, was die Europäische Zentralbank, Mary-Lynch oder Standard & Poor’s ist. Diese Namen sind zu Begriffen unseres Alltags geworden. In Bezug darauf, wie es nun weitergeht, da sehe ich zwei Wege. Das eine ist eine konservative Variante, die von einer nationalistischen, patriotischen und eher geschlossenen Einstellung geprägt sein würde und sich gegen die ImmigrantInnen und AusländerInnen richten würde. Gerade unter Konservativen ist die Haltung weit verbreitet, dass Griechenland aus der EU raus sollte und es alleine besser gehen würde. Die zweite Alternative ist eine linke. Damit die Linke aber erfolgreich sein kann, muss die Bewegung eine Sprache finden, um mit den Menschen im Alltag zu kommunizieren.

Evangelia – Dieser Aspekt mit der fehlenden Sprache hat sich auch während der Besetzung des Platzes als ein zentraler Aspekt herauskristallisiert, an dem wir als Bewegung arbeiten müssen. Denn viele waren sich einig, dass es offensichtlich an der geeigneten Sprache fehlt, um die eigenen Ideen zu vermitteln, und so wurde immer stärker betont, dass wir eine Sprache finden müssen, die zugänglich ist.

Dimitra – Ich denke wir sollten aber auch nicht zu romantisch sein. Die extreme Rechte wurde gestärkt, nationalistische und patriotische Parteien und Gruppen treten aggressiver auf. Und so gibt es auch viele Leute, die sich der Globalität des Problems bewusst sind und darauf aber reagieren, indem sie sagen, dass die Regierung nicht patriotisch genug und nur ein Puppe Amerikas und Deutschlands sei. Was ich damit sagen will ist, dass auch, wenn die Menschen die Situation besser durchdringen, dies nicht heißt, dass sie sich links positionieren und über Umverteilung von Wohlstand und solchen Sachen diskutieren würden. Denn es ist halt immer noch so, dass es der einfachere Weg ist den ImmigrantInnen, dem CIA oder wem auch immer die Schuld zu geben – es gibt heute viele irre Argumente, aber es sind einfache Antworten und viele fühlen sich von diesen Antworten angezogen.

Nun zum Schluss noch eine letzte Frage. Nach all dem, was ihr erzählt habt, ist mir bewusst, dass diese Frage nur schwer zu beantworten sein wird, aber dennoch, was denkt ihr, wo führt die Situation hin?

Vasilis – Wenn wir sagen, dass wir nicht verstehen können, was 2008 abgelaufen ist – weil das alles sehr neu war -, dann sagen wir aber auch, dass wir die Veränderung um uns herum noch nicht ganz verstanden haben. Gerade die Staatlichkeit hat sich stark verändert und wir haben diese Veränderung noch nicht durchdrungen, weshalb wir auch die Reaktion nicht ganz einordnen können. Die Besetzung des Syntagma-Platzes etwa stand unter dem Motto „Direkte Demokratie”, weil wir uns ausgeschlossen fühlen, nicht nur von offiziellen demokratischen Abläufen, sondern vom alltäglichen Leben. Im neoliberale Staat – wir haben diverse Privatisierungswellen seit den 1980ern durchgemacht – schlägt die Welle der Privatisierungen nun auf den Öffentlichen Raum über und dies bedeutet eine verstärkte Exklusion aus dem alltäglichen Leben.

Allgemein ist es heute schwer, Hoffnung zu finden. In den 1980ern und 90ern war die Hoffnung, nach einem Abschluss an der Universität eine Arbeit zu finden, noch intakt, heute aber glaubt daran niemand mehr. Niemand glaubt, dass er in der Zukunft besser leben wird als vorher. Wenn wir also an Entwicklung glauben sollen, dann müsste doch vor uns eine bessere Zukunft liegen? All dies, was heute geschieht, die Situation, in welcher wir uns als Gesellschaft befinden, das alles sind ziemlich neue Sachen. Die Reaktionen auf diese neuen Erscheinungen sind aber sehr asymmetrisch. Wir haben keine Strategie, um gegen die Privatisierung anzugehen. Deshalb denke ich, dass die Linke neue Mittel und Strategien entwickeln muss. Eine solche Strategie muss Brücken bilden zwischen den linken Bewegungen insbesondere auch mit Nordeuropa. Denn auch wenn immer behauptet wird, dass es einen Unterschied zwischen Nord- und Südeuropa geben würde, so sind die exkludierenden Prozesse doch überall die gleichen.

Evangelia – Ich denke, es ist aber auch nicht zu vernachlässigen, was auf der persönlichen Eben passiert ist. Am Anfang – also noch vor dem Dezember 2008 -, als wir zusammen an einem Streik oder an einer Demonstrationen waren und die Polizei kam oder wir Tränengas rochen, gingen wir weg. Nun aber, nach all diesen kollektiven Erlebnissen, nach all dem, was in den letzten Jahren passiert ist, dem kollektiven Widerstand im Dezember 2008, haben wir auch ein neues Selbstbewusstsein gefunden, wer wir sind und wie wir agieren können. Dieses neue Verständnis haben wir auch auf dem Syntagma-Platz erlernt und dies wird bleiben, bei vielen.

Vasilis – Die Menschen haben ein Verständnis dafür gewonnen, dass sie Gerechtigkeit und am gesellschaftlichen Leben partizipieren wollen. Das ist auch der Grund, warum eines der zentralen Mottos der Syntagma-Platzbesetzung „Direkte Demokratie” war. Ich weiß aber nicht wie sich dies in der Zukunft artikulieren wird, so stellt sich doch schon nur die Frage, was denn „Direkte Demokratie” heißt. Offensichtlich fühlen sich aber viele ausgeschlossen. Ich weiß aber auch nicht, was wir erwarten sollen. Was international in den letzten Monaten geschah, war aber definitiv sehr wichtig. Die Bewegung heute in Spanien und an anderen Orten hat uns Mut gemacht. Dennoch müssen wir feststellen, dass auch noch heute die Wirtschaft sich nicht an unseren Bedürfnissen orientiert, sondern dass sich alles nur um Finanzen und Märkte dreht. So ist es offensichtlich immer noch wichtiger, was an den Börsen geschieht, als das was bei den echten Menschen abläuft. So denke ich, dass das System echt falsch ist und wir was ändern müssen.

http://linksunten.indymedia.org/de/node/47525

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