Eine Revolution wird nicht in 18 Tagen auf dem Platz der Freiheit vollendet, sie ist ein Prozess, der sich nicht auf ein Land beschränken lässt. Im Mittelpunkt der globalen Kampfwelle steht momentan zweifellos Nordafrika. In ägypten gärt die Unruhe weiter – mittlerweile wird von der zweiten oder dritten Revolution gesprochen. Wieder werden im ganzen Land öffentliche Plätze besetzt; diesmal richte sich der Protest gegen die Militärführung an sich, sagen viele der Aktivisten. Ob es bei der Masse der Menschen tatsächlich große Illusionen über den Charakter des Militärs gegeben hat, sei dahingestellt. Die Armee hat seit den Tagen des Aufstands als einzige Institution so etwas wie den »Staat« dargestellt – die Diktatur des Hosni Mubarak stellte sich in der Endphase als dezentral organisiertes Willkürregime dar; die entscheidende Macht im Alltag hat weniger der Zentralstaat denn die lokalen Fürsten ausgeübt, die auch die (Geheim-)Polizei unter ihre Kontrolle hatten. Um deren Entmachtung geht es im Moment; bislang hat der Militärrat eine doppelte Strategie gefahren: Einerseits hat er die Rolle eines Schlichters übernommen, der auch notfalls z.B. Unternehmer mit Gewerkschaftsvertretern an einen Tisch zwingt. Und er hat einzelne besonders verhasste Figuren aus der Schusslinie genommen, indem er sie festgesetzt und Prozesse gegen sie versprochen hat. Andererseits hat er immer mit Repression gedroht, wenn die Menschen »zu weit« gingen, tausende Aktivisten und Aktivistinnen verhaftet und vor Militärtribunalen abgeurteilt. Diese Doppelstrategie funktioniert immer weniger: Die wenigen tatsächlich durchgeführten Prozesse endeten mit Urteilen, die verglichen mit denen, die gegen Regimegegner verhängt wurden, lächerlich waren. Die Menschen in Betrieben, in den Slums, überall, fordern die endgültige Absetzung der Mubarakgünstlinge auf allen Ebenen. Die Ersetzung der neoliberalen Klientelherrschaft durch ein «moderneres» Herrschaftssystem lässt sich nicht einfach einführen, schon gar nicht angesichts der prekären ökonomischen Rahmenbedingungen, die wenig Spielraum für sozialdemokratische Ideen lässt. Die Gründung von (von der alten Staatsgewerkschaft) unabhängigen Gewerkschaften sehen viele Linke hier und dort als Hoffnungsschimmer, als Transformationsinstrument. In einem Interview der FreundInnen der klassenlosen Gesellschaft sagt der Kairoer Journalist Jano Charbel: »…mit dieser unabhängigen Gewerkschaftsbewegung werden auch radikalere Gewerkschaften entstehen, die damit anfangen, die Hierarchien in der Fabrik und die ganze Struktur der Gesellschaft zu hinterfragen.« An dieser Stelle sei einmal ein dickes Fragezeichen gesetzt: Die Arbeiterkämpfe in Ägypten (ob nun gewerkschaftlich organisiert oder informell) sind momentan angesichts der großen wirtschaftlichen Misere eher defensiv ausgerichtet, nur selten kommt es zu tatsächlichen Produktionsausfällen – »Selbstverwaltung« oder »Teilhabe« hieße momentan nur Teilhabe am Elend. Zudem bleibt die Rolle der neuen Gewerkschaften im Moment unklar; ihre Schwerpunkte liegen im Öffentlichen Dienst und in der komplett darnieder liegenden Textilindustrie, wo es eher um die Modalitäten der Abwicklung denn um Aufbruch geht. Darum herum organisieren sich etwa Bauern und Fischer, also quasi Selbstständige.
Die soziale Bewegung in Ägypten dauert an
Auf der Gegenseite geht die Angst um: »Es gibt sehr wohl einen Unterschied zwischen Kapitalismus und Korruption. Nur ist das leider erstickt worden von der Einstellung ‘the whole damn thing is corrupt’« äußerte sich die Präsidentin der Amerikanischen Universität Kairo vor kurzem in der New York Times. Steven Colatrella arbeitet in seinen Thesen zur globalen Streikwelle heraus, dass zwei Linien der aktuellen Streikwelle in Nordafrika kulminiert sind. Arbeiterkämpfe in Schlüsselbereichen der globalen Arbeitsteilung (Transport, Rohstofferzeugung und -verarbeitung einschließlich Landwirtschaft) und Kämpfe im Öffentlichen Sektor, wobei die dort Beschäftigten mit den NutzerInnen ihrer Dienstleistungen zusammenkommen. Auf Ägypten bezogen ist das durchaus plausibel.
In den zwei Jahren vor der Revolte kämpften die Arbeiter vor allem im Transportsektor, der große Streik von 70 000 Truckern im Dezember 2010 ging dem Aufstand direkt voraus. Seither brodelt es weiter, es gibt Streiks bei den Eisenbahnen, den Flughäfen und regional von Taxi- und Minibusfahrern. Die große Bedeutung des Transports zeigt sich auch in seiner Unterbrechung: regelmäßig blockieren streikende Arbeiter und protestierende Slum- und Dorfbewohner Straßen und Schienen, um ihre Forderungen durchzusetzen. Auch kleinere Streiks in der Energieerzeugung und Baustoffindustrie waren erfolgreich.
Im Öffentlichen Dienst ist auf den wichtigen Streik der Steuereinsammlerinnen Ende 2008 zu verweisen. Neben Streiks an den Unis war außerdem das medizinische, pflegerische und technische Personal an den Krankenhäusern immer wieder im Kampf. Seit der Revolte haben Kämpfe im Öffentlichen Dienst noch zugenommen, von Polizei und Verwaltungsangestellten über staatlich bezahlte Imame bis zu den Heiratsregistrierern.
Eine wichtige politische Funktion im Vorfeld der Aufstandsbewegung hatten die Kämpfe im relativ kleinen (wenn auch im Vergleich zu anderen arabischen Ländern großen) industriellen Kern der Wirtschaft (vor allem in der Textilindustrie). Durch neue Organisationsstrukturen und die Mobilisierung großer Arbeitermassen konnten sie die Spaltungspolitik des Regimes über den Haufen werfen; die soziale Trennung zwischen Arbeitern, städtischen Armen und Teilen der studierten, aber arbeitslosen »Mittelschichtsjugend« löste sich vorübergehend auf. Der Aufstand der TextilarbeiterInnen in Mahalla al Kubra 2008 ist der wichtigste unmittelbare Vorläufer der Aufstandsbewegung.
Durch seinen quantitativen Ansatz übersieht Colatrella allerdings die Zäsur durch die Krise 2008. Es gab keinen statistischen Rückgang von Streiks und Protesten, so dass man von einer ungebrochenen Welle ausgehen könnte. In Wirklichkeit haben sich die Kämpfe aber deutlich verändert. Bis Ende 2007 waren sie davon geprägt, dass Betriebe ihren Anteil an den Gewinnen im Wirtschaftsboom und bei der Privatisierung einforderten und mafiöse Machenschaften anklagten. Ab Ende 2007 fraß die massive Inflation und Verteuerung vor allem von Lebensmitteln die erkämpften Lohnsteigerungen auf. Ab Mitte 2008 erfasste die Wirtschaftskrise die Textilindustrie, der mittlerweile der Kollaps droht.
Die Kämpfe gingen zwar weiter, wurden aber »politischer« in dem Sinne, dass sie Institutionen wie die Gewerkschaft angriffen und den Staat aufforderten, für einen Weiterbestand der Firmen zu sorgen oder eine soziale Absicherung zu übernehmen. Gleichzeitig wuchs eine Protestbewegung für ein stärkeres soziales Engagement des Staates etwa durch Lebensmittelsubventionen, Gesundheitsversorgung und eine verbesserte Infrastruktur. Diese »Krisenkämpfe« haben einen ausgeprägt egalitären Geist, z.B. ist die Forderung nach Festeinstellung von prekär Beschäftigten heute meist selbstverständlich. Sie sind aber auch als Arbeitskämpfe defensiv und ihre Forderungen an den Staat könnten als Sehnsucht nach vergangenen staats»sozialistischen« Zeiten oder einem neuen Keynesianismus gedeutet werden. So zumindest die Interpretation unabhängiger Gewerkschaften und linker Parteien, die mit ihren Organisierungsversuchen an solchen Perspektiven anzuknüpfen versuchen. Meiner Ansicht nach sind solche Forderungen aber erstmal Ausdruck des verbreiteten Gefühls: »We want a better life and we want it now!« Da Lohnforderungen unter den gegebenen Rahmenbedingungen illusorisch sind und existenzbedrohte oder bereits bankrotte Unternehmer nicht in die Pflicht genommen werden können, richten sich die Forderungen erstmal an den Staat.
Im Verhältnis zu den im Land lebenden rund 100 Millionen Menschen ist die ägyptische Industrie nur sehr marginal in globale Produktionsstrukturen eingebunden. Wo sollen die ArbeiterInnen also einen Punkt finden, um Macht auszuüben? Ein sehr großer Teil der ägyptischen Bevölkerung lebt in einer informellen Dienstleistungsökonomie. Tourismus und persönliche Dienstleistungen sind seit dem Aufstand massiv eingebrochen und dementsprechend sind die davon abhängigen Menschen in einer verzweifelten Lage. Das drückt sich u.a. in zunehmender (teilweise organisierter) Gewalt im Alltag aus. Ärzte werden von Patienten und deren Angehörigen bedroht; es gibt immer wieder tödliche Auseinandersetzungen um Lebensmittel und Benzin; in Alexandria stürmten Ende April Hunderte eine Textilfabrik, um die Maschinen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen (woraufhin Arbeiter und Mitglieder der popular committees die Fabrik »befreiten«). Dieses Subproletariat war ein Teil der Machtbasis der alten Elite; hier können die lokalen Fürsten des Regimes bezahlte Schläger rekrutieren, um Demonstrationen anzugreifen.
Besteht also analog zum kriegerischen Zerfall vieler Länder Osteuropas nach ‘89 die Gefahr eines – möglicherweise religiös geprägten – Zerfalls von Ägypten? Noch ist die Bewegung gegen die alten Machtstrukturen auch in den Betrieben und im Alltag stark genug, auf die bislang vereinzelten Ereignisse zu reagieren. Eine Verschlechterung der ökonomischen Lage, die Finanzierung von islamistischen Gruppierungen durch Saudi Arabien und eine Stagnation der Revolte könnten die Lage allerdings verschlechtern.
In den islamistisch legitimierten Bürgerkriegen der 90er Jahre, etwa in Algerien, stritten mafiöse Netzwerke um die Verteilung des Kuchens. Das war die Begleitmusik der neoliberalen Privatisierungspolitik, die in Ägypten mit dem Aufstand an ihr Ende gekommen ist. Auf welcher Basis sollte eine islamistische Bewegung heute also fußen? Die Taliban versprechen, den äußerst gewalttätigen Zerfall der Gesellschaft durch ein extrem rigides Regime zu überwinden, also wieder eine abgeschottete und »eingefrorene« Gesellschaft aufzubauen. Das ist in einem Land wie Ägypten kaum eine Perspektive, zu sehr hängt das Land allein schon bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln vom Weltmarkt ab. Die größere Gefahr ist allerdings, dass das Regime in Zusammenarbeit mit den autoritären Golfmonarchien die Situation genau so weit eskaliert oder eskalieren lässt, dass es von einer Mehrheit wieder als notwendiger Ordnungsfaktor anerkannt wird.
Nicht nur deshalb muss die Bewegung auf die Instrumentalisierung des Subproletariats als Schläger anders reagieren, als es die Teile der mittelständischen »Protestelite« tun, die eine ambivalente Kooperation mit dem Militär als Ordnungsfaktor suchen; das ging soweit, dass die Revolutionary Youth Coalition die Vertreibung von Demonstranten vom Tahrirplatz politisch vorbereitete. Die zugrundeliegenden sozialen Probleme müssen angegangen werden. Es gibt durchaus Ansätze und Versuche, die soziale Lage des »informellen Proletariats« aufzugreifen und Widerstandsstrukturen von unten aufzubauen. Zahlreiche Stadtteilversammlungen nehmen die Verbesserung der Lebensbedingungen in Angriff. »Interreligiöse Solidarität« setzt sich immer wieder gegen angestachelte Konflikte durch: »Den Protest … hatten Kopten gestartet, ihm hatten sich jedoch auch Muslime und viele junge Protestierende angeschlossen… Religion spielte keine große Rolle. Er richtete sich in Slogans und Plakaten vorrangig gegen das Militär und die Polizei, forderte den Rücktritt von General Tantawi und eine zivile Übergangsregierung« (Tahrir–Beobachtungen in Ägypten. Ausgabe Nr.1 / 24.Mai 2011). Es gibt auch häufig selbstorganisierten Widerstand gegen Polizei und Militär, für die Freilassung von Gefangenen, es gibt Häftlingsrevolten u.a.m. – leider wird über solche Bewegungen hierzulande wenig berichtet.
aus: Wildcat 90, Sommer 2011
Quelle: http://www.wildcat-www.de/wildcat/90/w90_aegypten_sb.html