Massivste soziale Unruhe in London – Dezentrale Ausbreitung von kollektiver Aneignung und Konfrontationen mit der Polizei – Ausweitung auch auf andere Städte wie Liverpool, Birmingham und Leeds – Bilder von brennende Gebäude erzeugen durch die Presse ein Klima der Angst, Rufe nach dem Einsatz der britischen Armee werden immer lauter.
London. Pulsierende Millionenstadt, europäische Zentrale des Kapitals. Ort der olympischen Sommerspiele 2012 –Hauptstadt vom Mutterland des Fussballs. Dies ist das Bild, was normalerweise von der britischen Hauptstadt transportiert und beworben wird. Nun beginnt seit dem 6. August dieses Bild enorme Risse zu bekommen. Grund? Die Polizei erschiesst am vergangenen Donnerstag (4. August) den 29-jährigen Mark Duggan. Am Samstag, dem 6. August protestieren Angehörige und andere solidarische Menschen aus seiner Community gegen den tödlichen Polizeieinsatz und verlangen Aufklärung. Die Polizei betreibt bis zu diesem Zeitpunkt eine schwache Informationspolitik, versucht dem Opfer die Schuld in die Schuhe zu schieben und stellt ihn als Kriminellen dar. Die Demonstration verläuft friedlich und endet an einer Polizeiwache. Übereinstimmenden Berichten zufolge wird dann eine Jugendliche Opfer eines Übergriffes durch einen Police Officer. Dies gilt mittlerweile als Auslöser der ersten Ausschreitungen am Samstag. Polizeiautos werden angezündet, Steine und andere Gegenstände werden auf die Bereitschaftspolizei geworfen. Später werden Geschäfte vereinzelt geplündert und zum Teil angezündet. All dies passiert lokal isoliert im Stadtteil Tottenham.
Am folgenden Sonntag dann erstmals auch die Ausweitung auf andere Stadtteile wie Enfield und Brixton. In der gesamten Betrachtung bleibt es im Vergleich zum Vortag aber etwas ruhiger. Dann der „schwarze Montag“ – erst berichten die Medien hauptsächlich von fallenden Börsenkursen durch die Herabstufung der Kreditwürdigkeit der USA. Im Laufe des Abends rücken jedoch immer mehr die mittlerweile massivsten Unruhen in England seit den 1980 Jahren in den Fokus der deutschen Medien. Die ARD Tagesthemen (Montag, 8. August) berichten um 22.30 als erstes von London, die Börsenkurse brennen virtuell, London aber real! Verstörende Bilder werden transportiert: Ein brennendes Möbellager im Stadtteil Croydon – Menschen die Geschäfte plündern. Kriminelle seien in ihrem Element.
Die Hintergründe werden jedoch (fast) ausgeblendet: Wie zu den Krawallen in den 1980er Jahren wird England wieder von den konservativen Tories regiert (und den LibDems, der engl. FDP). Damals war es prime minster Margret Thatcher, die der Rezession mit tiefen Einschnitten für die Bevölkerung begegnete. Die Gewerkschaften wurden zerschlagen und es taten sich soziale Spannungen, Streiks und Riots auf. Auch in den letzten Monaten wurde heftig gegen die Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen der Regierung demonstriert. Die Studiengebühren wurden massiv erhöht. Dies rief einen breiten Widerstand hervor – das Bündnis „UK Uncut“ wurde geboren. Die ersten Massendemonstrationen mit zehntausenden fanden statt und im November wurde die Tory-Parteizentrale von tausenden gestürmt (siehe Fotostrecke: http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-61526.html). Die Medien reagierten mit Berichten über Chaoten, etc… Weiter ging es im Dezember, erstmals beteiligten sich sichtbar auch linksradikale Aktivisten und der schwarze Block konnte direkte Aktionen in der Innenstadt durchführen. Auch wurde Prinz Charles und seine Frau Camilla in ihrem Rolls Royce angegriffen (siehe http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,733822,00.html).
Anfang 2011 dann die „Anti-Austerity Protests“ von UK Uncut und hautsächlich den Gewerkschaften gegen die Sparmaßnahmen (austerity measures im Englischen). Einen guten Überblick liefert hier Wikipedia ( https://secure.wikimedia.org/wikipedia/en/wiki/2011_United_Kingdom_anti-austerity_protests). Am 26. März dann die bisher größte Demonstration in den letzten Jahren in London: 250 000 – 500 000 Menschen beteiligten sich am Aufruf der Gewerkschaften. Anarchisten lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei, Banken und Geschäfte wurden geschmasht. Youtube Channel „STUDENTPROTESTLONDON“ hat all dies in einer 10-teiligen Doku gefilmt ( http://www.youtube.com/watch?v=A87CDYV9UKw&feature=related).
Wir sehen also, dass es schon sehr viele soziale Spannungen in den letzten Monaten gegeben hat – Die Menschen sind verunsichert, der englische Sozialstaat wird massiv beschränkt, die Arbeitslosigkeit und die Verschuldung steigt. Wie auch schon in den Jahrzehnten zuvor wiederholt sich nun auch die Geschichte in den ärmeren, stark migrantisch geprägten Stadtteilen Londons: Ein Polizeieinsatz als Auslöser für massive Krawallen und Plünderungen. Einen kurzen Einblick mit Updates liefert ein Artikel auf linksunten ( https://linksunten.indymedia.org/de/node/44833#comment-25249).
An der jetzigen sozialen Unruhe sind die Gewerkschaften und linksradikalen Aktivisten jedoch nicht beteiligt. Es rebelliert die ärmste und am meisten ausgegrenzte Schicht: junge perspektivlose Migranten in Vierteln aus Tottenham, Enfield, Brixton und Hackney (kleine Auswahl) – Ihre Wahl der Mittel ist drastisch: Plünderungen und brennende Gebäude, keine Demonstration, keine Pressesprecher, keine organisierte politische Gruppe. Warum ist dies so? To make it simple: diese Menschen haben keine politischen Repräsentanten, kaum jemand kümmert sich um sie, sie sind der Regierung scheissegal.
Bereits im Juli 2011 berichtete die englische Tageszeitung „The Guardian“ über mögliche Riots, weil die Sparmaßnahmen der Regierung zahlreiche Jugendzentren bertrifft (Video: http://www.guardian.co.uk/society/video/2011/jul/31/haringey-youth-club-closures-video). Im Nachhinein eine treffende Prognose… Dass dies sich nun nicht nur auf London beschränkt zeigt, die Regierungsmaßnahmen und der Riss in der Gesellschaft betrifft das ganze Land. In Birmingham z. B. wird laut BBC am Montag geplündert und eine Polizeiwache geht in Flammen auf. Berichte aus Liverpool zeigen brennende Autos – Britain is going up in flames!
Ein kurzes Video zeigt die Motivation der Menschen in Clapham Junction http://www.youtube.com/watch?v=sXcI-NL3Tro
“We want to get our taxes back!” – An jeder Ecke Londons ist der Konsum allgegenwärtig – kein Wunder, dass die Menschen sich jetzt ihren Teil vom Kuchen nehmen. Ob sie oppertun, politisch motiviert oder wie auch immer handeln lässt sich für uns schwer sagen, denn die Presse berichtet nur über die “Kriminalität” eines wütenden Mobs. Natürlich ist es klar, dass sich keiner bei der BBC interviewen lässt, warum er den “currys.digital” store ausräumt (eine Elektronikkette wie Media Markt). Da ist die so vielfältig er- und gewünschte soziale Unruhe mal da und dann will plötzlich keiner damit in Verbindung gebracht werden. Ein bißchen nach dem Motto “if its not my riot i wont join in”. Aktivisten sollten sich aber beteiligen, um auch die wahllose Gewalt gegen Sachen einzudämmen: In der local community als Gruppe die kleinen Läden und den Wohnraum schützen, Flyer mit Repressionstipps verteilen und die corporate businesses (die Ketten) gezielt angreifen. Denn gerade die großen Ketten verdrängen den lokalen Einzelhandel, Güter werden nicht mehr lokal produziert und verkauft, sie vernichten damit Jobs und tragen den Kapitalismus in seiner konsumfreundlichsten Art und Weise.
Genauso ist es wichtig eine Gegenöffentlichkeit zu den Massenmedien zu schaffen – sie versuchen mit ihrer dramatischen Berichterstattung ein Klima der Angst zu schaffen, um die herrschende Ordnung zu stabilisieren. Erste Analysen und Gegenöffentlichkeit gibt es mittlerweile aus linksradikaler Perspektive auf Indymedia UK & Indymedia London: https://london.indymedia.org/articles/9828; https://london.indymedia.org/articles/9821.
In den BBC News wird von den Journalisten ein Einschreiten der Armee gefordert, die Regierung hat heute morgen eine Notkonferenz (COBRA) einberufen (siehe Artikel http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/08/london-riots-escalate-police-battle). Ein Fussballspiel von „West Ham“ vs. „Aldershot“ wurde abgesagt, genauso wie das Länderspiel England vs. Holland ( http://www.guardian.co.uk/football/2011/aug/09/england-holland-off-london-riots).
Der Staat und die Medien rüsten auf, es wird sicher nicht lang dauern bis der Notstand ausgerufen wird. Zuletzt wurde das Militär 1919 im Inneren eingesetzt – damals streikte die Polizei. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Unruhen weitergehen werden. Mit welcher Intensität hängt sicher auch von der Reaktion des Staates ab. Law & Order, Notstand und Armee ist mittlerweile in der Hysterie der Medien am wahrscheinlichsten – die staatliche Ordnung in Gefahr. Der Hauch von Revolution hat sich zum Wind gesteigert, aber ist es eine Revolution in der die Linke intervenieren kann und will? An den sozialen Problemen hat sich auf jeden Fall nichts geändert, eine Gegenöffentlichkeit und die Solidarität mit den Menschen in den Communities ist sicher ein Ansatz – Spread the news!
Übersichskarte zu den Brandherden in London: http://maps.google.co.uk/maps/ms?msid=207192798388318292131.0004aa01af6748773e8f7&msa=0&ie=UTF8&ll=51.558503,-0.055275&spn=0.114195,0.298691&source=embed
Guardian Liveticker: http://www.guardian.co.uk/uk/blog/2011/aug/09/london-riots-violence-looting-live
Indymedia UK: http://www.indymedia.org.uk/
Indymedia London: https://london.indymedia.org/