Quelle: http://www.jungewelt.de/2011/06-20/073.php
Während in Dresden am Freitag abend rund 250 Neonazis unter dem Motto »Damals wie heute: Nationale Souveränität statt Fremdbestimmung« demonstrierten, hat zeitgleich unter Polizeischutz eine Kundgebung der NPD direkt vor den Räumen der jungen Welt in Berlin stattgefunden. Ab 18 Uhr versammelten sich die Rechtsextremen in der Linienstraße, nur wenige Meter vom Hintereingang der jW entfernt. Nach Aussage der Polizei gegenüber jW war es »eine politische Entscheidung«, die NPD-Versammlung dort stattfinden zu lassen. Weder die Öffentlichkeit noch unsere Geschäftsleitung und Redaktion waren zuvor informiert worden. Der Einsatzleiter der Polizei war auch während der Neonazikundgebung für sie nicht zu sprechen.
Mitarbeiter von Redaktion und Verlag blieben zunächst im Gebäude und führten auf der Terrasse im sechsten Stock eine lautstarke Protestaktion durch. Kochgeschirr aus der Teeküche und eine Lautsprecheranlage wurden eingesetzt, antifaschistische Parolen gerufen. Aus dem Haus flogen auch mit Wasser gefüllte Luftballons. Noch bei Redaktionsschluß hieß es, die NPD-Versammlung unter dem Motto »Arbeiter, wehrt euch« zur Erinnerung an den gescheiterten Aufstand in der DDR am 17.Juni 1953 sei vor der Zentrale der Partei Die Linke, dem Karl-Liebknecht-Haus am Rosa-Luxemburg-Platz, angemeldet. Dort hatten sich Hunderte Gegendemonstranten versammelt. Polizeisperren trennten sie vom tatsächlichen Kundgebungsort der NPD, die zwar nur wenige, dafür aber bundesweit bekannte Teilnehmer wie Parteichef Udo Voigt aufzubieten hatte.
Erbost über die von der jW-Etage ausgehenden Störungen, versuchte eine Gruppe von Neonazis, in die Verlagsräume im Erdgeschoß vorzudringen, wurde aber dann doch von der Polizei aufgehalten. Nach dem Abzug der Neonazis hielten Polizeibeamte das Haus umstellt und kontrollierten jW-Mitarbeiter, die sich auf den Heimweg machen wollten. Mit der Begründung, vom Dach der Redaktion seien Wasserbeutel auf die Neonazikundgebung geworfen worden, nahm die Polizei Besucher der jungen Welt sowie Geschäftsführer Dietmar Koschmieder vorübergehend in Gewahrsam, fotografierten sie und stellten Personalien fest. Die »freiheitsbeschränkenden Maßnahmen« dauerten fast zwei Stunden.
Neben diesen Maßnahmen zeigte die »Informationspolitik« von Polizei und Versammlungsbehörde, daß die Verantwortlichen nicht aus der Kritik gelernt haben, die mehrere Berliner Politiker nach dem Aufmarschversuch gewaltbereiter Neonazis am 14. Mai in Berlin-Kreuzberg äußerten. Der Versammlungsort der Neonazis war auch seinerzeit von Polizei und Organisatoren nicht bekanntgegeben worden. Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Benedikt Lux, warf Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) eine »naive Geheimhaltungstaktik« vor. Angemeldet wurde sowohl die Neonazidemonstration auf dem Mehringdamm, von der Gewalt gegen friedliche Protestierer ausging, als auch die Kundgebung am Freitag vor unserer Haustür von NPD-Kader Sebastian Schmidtke.
Körting hatte nach dem 14. Mai im Abgeordnetenhaus versichert, die Polizei werde in Zukunft einen Tag vorher den Ort von rechtsextremistischen Aufzügen mitteilten.
Von Claudia Wangerin