Der Kampf um den Rücktritt des tunesischen Interimspremiers Ghannouchi – Augenzeugenbericht von drei Italienischen Aktivisten.
“Eine Revolution ohne Anführer und ohne Waffen machen ist keine leichte Sache, das muss erfunden werden, die Tunesier und Tunesierinnen sind aber stolz darauf, dem Drama dieser Tage zum Trotz. Das Fehlen einer Mitte offenbart sich in einem vermeintlichen Chaos, das sich tatsächlich aber gerade durch die Vielfalt der Lebensformen ein weiteres Mal als kollektive Kraft und Intelligenz erweist”.
Ben Ali ist abgehauen, seine Köter sind aber noch da…
Nach dem Präsident Ben Ali am 14. Januar durch den Druck des Volkszorns geschasst wurde, ist Tunesien wieder in Bewegung, der politische und soziale Transformationsprozess ist auf die gesamte arabische Welt und darüber hinaus über gesprungen findet weiter bei hoher Intensität statt: zur gleichen Zeit gibt es Revolten in Ägypten, Algerien, Marokko, Bahrain, Iran, Libyen, Libanon. Auf der anderen Seite des Meeres wird Griechenland weiter durch ein unstillbares anti-regierungsfieber erschüttert. In Libyen schließlich, ist der im Gang befindliche Bürgerkrieg gleichzeitig eine politische Revolution gegen eine korrupte und blutrünstige Diktatur.
Von hier aus begann, was wider besseres Wissen die “Jasminrevolution” genannt wurde, die in Wahrheit eine Absetzungsbewegung ist, die darum kämpft, zu einer politischen Revolution gegen die Versuchungen einer unmöglichen Rückkehr zur Normalität zu werden. Seit dem 25. Februar haben sich die Straßen erneut gefüllt und den Rücktritt des Ministers Ben Alis Ghannouchi, einem altgedienten Mann des Regimes, Banner der Reaktion und der Ordnungspartei gefordert. Seit Sonntag, dem 20. Januar ist die Kasbah der Medina, das historische und politische Zentrum von Tunis erneut besetzt. Das Gleiche findet in den anderen Städten Tunesiens statt, wo die Medinen – zentrale Orte der Städte – insgesamt durch Tausende Menschen belebt werden, die behaupten, dass sie “gewillt seinen, bis zum Tod zu bleiben, wenn nicht alle Mitglieder des alten Regimes zurücktreten und Tunesien frei sein wird”. “Keinen Schritt zurück” ist das, was diese neue Demonstrationsform des tunesischen Volkes kraftvoll behauptet. Der Tahir-Platz ist zur Methode geworden, ähnlich dem lateinamerikanischen “Planton”. Überall finden Proteste statt und die Konfliktmomente mit der verhassten Regimepolizei nehmen Tag für Tag zu.
Am 25. Januar hatte eine Demonstration mindestens 200000 Menschen auf die Straße gebracht – für ein kleines Land wie Tunesien, eine gigantische Zahl. Insgesamt ist im ganzen Land eine Million Menschen af die Straße gegangen. Auf der Straße rufen viele “Degage!” (“Geh!”, d.Ü.) und sie begleiten den Ruf mit einer aussagekräftigen Bewegung des Armes- Eine neue Deklination des “Que se vayan todos” das wir während der ersten tiefen Krise des neoliberalen Modells kennen gelernt haben. Wenn es alle zusammen rufen, wirkt es so, als würde eine Welle über den Platz rollen, die erhobenen Arme bewegen sich hin und her und versprühen Wut und Freude. Der Gedankengang ist einfach, er impliziert aber gleichzeitig die Bewusstwerdung der Schwierigkeit und der Radikalität eines revolutionären Wandels: die Macht muss an die Basis zurück, an das Volk. In einem Land, in dem 40% der Bevölkerung von einem Dollar am Tag lebt ist es kein Zufall, dass es die Jüngeren sind, die am lautesten schreien. Sie haben nicht viel zu verlieren, aber viel zu gewinnen.
Zuerst hat das Volk den Platz der Kasbah durch kleine Menschenströme gefüllt, die ihn zu Fuß aus den Gassen und den Alleen der Ringstraße ansteuerten, dann sind Tausende wieder zurück, sie sind aus der von den Rebellen in eine Festung umgewandelten Altstadt raus und daraufhin zum Palast des Innenministeriums gezogen, einem großen, grauen Gebäude, Sitz der Folterer Ben Alis. Mindestens 5000 Leute haben die Gitterabsperrungen und den Stacheldraht der Armee entfernt, und den Palast friedlich blockiert. Es gab junge Männer und Frauen, die auf dem Boden saßen und sangen. Andere standen auf Fenstersimsen, weitere noch waren auf Militärfahrzeuge geklettert. Alle forderten mit Nachdruck den sofortigen Rücktritt Ghannouchis. Plötzlich würden die ersten Maschinengewehrsalven in die Luft geschossen, als Antwort gab es Steine, Wut, und dann ein Hagel aus Steinen und Tränengaspatronen, auf den erste Schüsse in die Menge um weh zu tun folgten. Am Abend gab es schon Verletzte auf der Straße und brennende Barrikaden um die zentral gelegene Avenue Bourghiba.
Erst am späten Abend erreicht uns eine genauere Verletztenbilanz: drei durch Feuerwaffe, 30, die durch Antirioteinheiten verletzt wurden und ein Toter, einem 17-jährigen Jugendlichen Namens Mohammed Hanchi, den ein Gewehrschuss am Hals traf. Der Lärm der Schüsse ist so laut, wie das Schweigen der offiziellen tunesischen Medien Ohrenbetäubend ist. Die italienischen tappen ihrerseits auf eine Art im Dunklen, die den Beigeschmack bösen Willens hat.
Am Abend trifft eine Erklärung des Interimspräsidenten Ghannouchi ein, der im Juli vorgesehene Wahlen verkündet, aber nicht den zentralen Knoten der Proteste löst, nämlich das Bedürfnis, die mit der Diktatur verbundenen führenden Klasse auf Null zu setzen.
Samstag, der 26. ist ein Tag des Zorns, die Nachricht vom durch einen Schuss in den Hals getöteten Jugendlichen durchdringt die Kasbah, die andere Nachricht ist, dass sich die Leiche in der Hand der Militärs befindet, so dass das Warten der Angehörigen zum Warten Aller wird. Unverzüglich fordern hunderte Jugendliche aus den schmalen Gassen des Suk heraus das Recht ein, ihre Wut und ihre Empörung kund zu tun. Die Kids verlassen die Medina und es geht sofort mit Tränengaswürfen los, sobald sie sich auf der Alle der Kolonialstadt blicken lassen. Der Riot weitet sich auf die gesamte Umgebung aus, das Gas dringt bis in die Altstadt, ein Steineregen fällt auf die Polizei herab, der es nicht gelingt, die Demonstranten zurück zu drängen.
Am frühen Nachmittag geleitet eine Demonstration mit mehr als 5000 Leuten die Leiche Mohammeds zum Friedhof. Am Fuße der Kasbah wächst die Zahl der Polizisten weiter. Ein Polizeirevier wird in Brand gesteckt, es scheint so, als sei die gesamte Plebs der Casbah auf der Straße.
Von da an beginnt die Guerilla…
An Maschinenpistolensalven, Cs-Gas, Schockgranaten gegen Kids, die mit Steinen bewaffnet sind, wird nicht gespart. Zwischen der Rue Palestine und der Rue de Paris werden Barrikaden aus jedem verfügbaren Material organisiert, die Gewalt der Polizei aber ist nicht darauf ausgerichtet, ein Ende zu haben, alles, was am Fuße der Kasbah geschieht wird von den Demonstranten selbst dokumentiert und bei einem verzweifelten Lauf durch die Gassen der Medina sofort zum Kommunikationszentrum gebracht, das im besetzten Teil der Stadt liegt. Die Interaktion zwischen Realem und Virtuellem in jenem Zelt ist transparent. Die Stimmen der Straße landen durch Fatima, einer jungen, Kopftuch tragenden Arbeiterin mit unerschütterlicher Energie im Netz. Sie nehmen ihren Weg zum Rest der Welt aus dem Munde Omars auf, ein dunkles Mondgesicht und Doktorarbeit über Edward Said. Auf dieser Ebene manifestiert sich die kollektive Intelligenz als ein Lebensnerv dieser Im Gang befindlichen Revolution. ( http://www.facebook.com/setting.kassaba)
Stundenlang werden Ketten und Barrikaden organisiert, um den zentralen Platz zu verteidigen, auf dem die Zelte und die Bühne des Protests stehen.
Die ersten bestätigten Informationen sprechen von einer Bilanz von drei Toten, während nicht bestätigte Gerüchte von 15 Toten sprechen. Die Tatsachen fasst die Aussage eines Mannes unter den Platzbelagerern, der lakonisch erklärt: “Ben Ali ist abgehauen, seine Köter sind noch da”. http://www.youtube.com/watch?v=B6UoCXNkD6E&feature=player_embedded http://www.facebook.com/setting.kassaba
Samstag Nacht legt sich nach der Gewalt des Tages eine Ruhe, wie bei einer Sperrstunde, Militärfahrzeuge besetzen die Straßen. In der Zwischenzeit erreichen uns Nachrichten aus den Provinzen, die ein kompliziertes Mosaikwerk von Revolten erzeugen, die in Sfax, Sousse, Kasserine, Gafsa usw. im Gange sind.
Eine Revolution ohne Anführer und ohne Waffen machen ist keine leichte Sache, das muss erfunden werden, die Tunesier und Tunesierinnen sind aber stolz darauf, dem Drama dieser Tage zum Trotz. Das Fehlen einer Mitte offenbart sich in einem vermeintlichen Chaos, das sich tatsächlich aber gerade durch die Vielfalt der Lebensformen ein weiteres Mal als kollektive Kraft und Intelligenz erweist.
Von der Platzbesetzung und dem Basispunkt der Gewerkschaft UGTT aus startet ein Aufruf an die Generaldirektion des Transportwesens, die kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel zu gestatten, damit möglichst viele eine Chance bekommen, Tunis zu erreichen.
Seit heute haben die tunesischen Medien den Generalstreik ausgerufen, niemand hatte es gemerkt, dass sie statt dessen für Tunesien arbeiteten… Wer weiß, ob sie nicht die Freiheit erringen, von dem, was ihr Volk gerade tut zu berichten.
Aus Tunis, 27. Februar 2011