Quelle: http://www.otherdavos.net
Der Titel des Anderen Davos 2011: «Für eine andere Welt. Für ein anderes Gesellschaftssystem» verweist auf die vielfältigen Erscheinungsformen der Krise des internationalen kapitalistischen Systems.
Es ist nicht einfach nur eine neue Episode der Konjunkturkrisen des Kapitalismus seit 1974-75 (1981-1982, 1990-1991 usw.).
Es ist nicht einfach nur eine «Finanzkrise» nach der Krise von 1997-1998 (Asien und Russland), der «Dotcom-Blase» (2000), der «Subprime-Krise» (2007), der Krise der «Bad Banks» (Lehman Brothers) oder der «Staatsschuldenkrise» Griechenlands (2009-2010), gefolgt von Irland, Portugal und Spanien – allesamt Staaten und Bevölkerungen, die damit entmündigt werden.
Es ist nicht einfach nur das Scheitern der «Antworten» der herrschenden Klassen auf die Probleme der Kapitalverwertung. Antworten wie erstens die gesteigerte Ausbeutung der Arbeit, mit gleichzeitiger Schädigung der Gesundheit der Lohnabhängigen; zweitens die massive Umverteilung des Reichtums zugunsten der «Aktionäre» (mit sprunghaftem Ansteigen der sozialen Ungleichheiten); und drittens die Förderung verschiedener Formen von privater und öffentlicher Verschuldung, zur Ankurbelung des erschöpften Wirtschaftsmotors.
Es ist all das… und gleichzeitig viel mehr. Es ist eine weltweite Krise des (kapitalistischen) Entwicklungsmodus. Eine besondere Kombination von Wirtschaftskrise, sozialer Krise und Klima-erschütterung. Gerade diese letzte Komponente wird heute schon auf die Ärmsten der Welt abgewälzt. Die Bedingungen für ihr Überleben und für die Reproduktion ihrer Gesellschaften werden ganz konkret untergraben.
Die Auswirkungen dieser Krise des 21. Jahrhunderts zeigen verschiedene Gesichter :
* Angriff auf die gesellschaftlichen Lohnanteile wie die öffentliche Finanzierung des Bildungswesens, die Alters-renten, das öffentliche Gesundheitswesen. Anders gesagt geht es um Abbau und Privatisierung des «Wohlfahrtsstaats» und des Service public.
* Dauerhafte Massenarbeitslosigkeit im Weltmassstab, wobei die industrielle Reservearmee immer mehr Langzeitarbeitslose umfasst, die zunehmend verarmen. Damit hat das Kapital ein leichtes Spiel, alle Kategorien von Lohnabhängigen gegen einander auszuspielen. Die Folge ist Lohndrückerei und die erleichterte Durchsetzung von despotischen Formen der Arbeitsorganisation und der Nutzung der Arbeitsfähigkeit der Lohnabhängigen durch die Unternehmen.
* Explosion der «Zwangsvollstreckungen», der «Zwangsräum-ungen» und der Zahl der Obdachlosen, während die faktische Konzentration des Immobilienbesitzes nie gekannte Ausmasse erreicht.
* Enteignung des wissenschaftlichen Fortschritts durch eine wirtschaftliche Macht mit steigender Zentralisation und Konzentration, indem das geistige Eigentum immer mehr ausgeweitet wird.
* Aneignung von riesigen Landwirtschaftsflächen durch Konzerne oder «Staatsfonds» für den Raubbau durch das Kapital. Währenddessen sind Kleinbauer_innen und Landlose massiver Verarmung ausgeliefert. Und der Zugang zu Nahrung wird für immer mehr Menschen ein Problem, in den Ländern der Peripherie wie auch in den sogenannt «reichen» Ländern, wo «Suppenküchen» die Nachfrage nicht mehr erfüllen können.
* Zunehmende private Aneignung von Wasser, einer lebenswichtigen Ressource…
Der soziale Krieg – zynischerweise als «Epoche der notwendigen Reformen» bezeichnet – bedingt sehr reale und konkrete Kriege um die Kontrolle beschränkter Ressourcen (Energie, Boden, Güter des Grundbedarfs usw.). Damit werden auch künftige Konflikte in Regionen vorbereitet, die als strategisch wichtig gelten (Mittlerer Osten, Zentralasien).
Betreffend staatliche Institutionen und Regierungen zeigen die jüngsten Episoden der Wirtschafts- und Umweltkrise den überragenden Einfluss einer herrschenden Fraktion des Kapitals – des Finanz-kapitals – auf. Privatbanken werden ohne Gegenleistung oder ohne jene elementaren Auflagen gerettet, die das Ausmass der «Opfer» berücksichtigen würden, die sie der grossen Mehrheit der Bevölkerung aufzwingen. Die Durchsetzung dieser Opfer gründet auf autoritären Massnahmen im Geist von «Law and Order». Soziale Bewegungen werden kriminalisiert, demokratische Rechte werden eingeschränkt. Hinzu kommt gegenüber Migrant_innen institutionalisierte Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Es entstehen «neue Mauern» und «Internierungslager». Überall in Europa sind Bündnisse zwischen der «anständigen» Rechten und offen fremdenfeindlichen, rassistischen und faschismusnahen Parteien politischer Alltag geworden.
Einige sogenannte Schwellenländer (China, Indien, Brasilien) – deren Eliten imperialistische Ambitionen hegen – scheinen mit ihrem Wirtschaftswachstum die Zeichen eines endzeitlichen Kapitalismus zu widerlegen. Dabei werden jedoch die menschlichen und ökologischen Kosten dieser Entwicklung ignoriert. Es ist zudem alles andere als sicher, dass der aktuelle Verlauf dieses «Wachstums» nicht gestört wird durch die Auflehnung der unterdrückten und ausgebeuteten Bevölkerung sowie durch spezifische Krisen, die mit diesem Expansionsmodell einhergehen.
Damit wird deutlich, dass die verschiedenen sozialen Mobilisierungen – in Europa, Lateinamerika, China – auf massive Herausforderungen stossen. Antworten und Reaktionen, auch nur in Ansätzen, können nicht mehr einfach als Verlängerung vergangener Kampfformen der « Arbeiterbewegung » des 19. und 20. Jahrhunderts gedacht werden. Umso mehr als die Sozialdemokratie bewiesen hat, dass sie sich vollständig in das herrschende System und in den Regierungsturnus «Mitte-Links» – «Mitte-Rechts» eingefügt hat.
Zunächst ergibt sich die Dringlichkeit, dass Erfahrungen von Selbstorganisation der Lohnabhängigen Schwerpunkt sämtlicher Überlegungen und Vorschläge bilden. Diese Erfahrungen spiegeln übrigens auch die vom Kapital eingeforderte Intelligenz des «Gesamtarbeiters», dessen «Kompetenz» und «Leistung» von Abteilungen für Humanressourcen gerne gelobt werden…
Zudem zeigt sich die Notwendigkeit, den beschränkten Rahmen der traditionellen Gewerkschaftsarbeit zu überwinden. Dafür müssen Formen von Verbindungen entwickelt werden, die – «kleine» oder «grosse» – kollektive Antworten ermöglichen gegenüber den entschlossenen und andauernden Angriffen in allen Bereichen des überalterten Kapitalismus. Damit verbunden ist auch die notwendige Erneuerung des Internationalismus, nicht nur gegen transnationale Konzerne, sondern auch gegen Staaten, die faktisch ihre Sparpolitik koordinieren, gleichzeitig aber ihre «komparativen Vorteile» weiterhin ausspielen wollen gegenüber ihren Rivalen.
Schliesslich muss auch die Frage der Umverteilung von Einkommen und Reichtum offen angegangen werden. Damit ist auch die Frage der privaten Aneignung von gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsmittel gestellt. Im Bewusstsein, dass die Art des «Wachstums» des kapitalistischen Systems eine Form der Zerstörung von Menschen und Ökosystemen ist, unter dem Kommando von Profitinteressen und Erfordernissen privater Kapitalakkumulation.
Das Andere Davos 2011 sieht sich als Initiative im Zusammenhang mit vielen ähnlichen Aktionen die – im Wissen um den niedrigen Stand der Bewegungen der Lohnabhängigen weltweit – sich dennoch in die Lage versetzen wollen, alle Erfahrungen zur Geltung zu bringen, die den intelligenten und subversiven Charakter der Kämpfe der Bevölkerung enthüllen, wie es die soziale Bewegung in Frankreich überaus deutlich gemacht hat.