Vor zirka drei Wochen verfassten in Gaza drei Studentinnen und fünf Studenten zusammen und verfassten eine offene e-mail an die Welt, in der sie ihrer tiefen Frustration Luft machten: über die Belagerung Gazas, die zynischen politischen Spiele von Hamas, Fatah, der UN und der Internationalen Gemeinschaft und über die Allgegenwart der Kontrolle und des Terrors durch religiöse Fanatiker in ihrem Leben. Die Gazauischen Cyber-AktivistInnen, die ihre Namen nicht preisgeben, um ihre Familien und sich selber nicht zu gefährden, sind über die Resonanz ihres Aufschreis überrascht: Tausende aus Gaza selber und aus aller Welt sind ihrer Aufforderung bereits gefolgt und haben ihnen zurückgeschrieben, bereit, sie zu unterstützen.
Die Schließung des Jugendzentrums Sharek, einer der letzten unabhängigen Nichtregierungsorganisationen Gazas, am 30.11.2011 hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Proteste dagegen waren von der Polizei brutal niedergeschlagen worden. Neben vielen anderen Jugendlichen waren auch zwei der VerfasserInnen des Manifests verhaftet und misshandelt worden.
Manifest der Jugend von Gaza:
Es muss sich was ändern!
Fuck Hamas. Fuck Israel. Fuck Fatah. Fuck UN. Fuck UNWRA. Fuck USA! Wir, die Jugend von Gaza haben die Schnauze voll von Israel, der Hamas, der Besatzung, den Menschenrechtsverletzungen und der Gleichgültigkeit der Internationalen Gemeinschaft! Wir würden am liebsten schreien und diese Mauer des Schweigens, der Ungerechtigkeit und der Gleichgültigkeit durchbrechen, wie die israelischen F16 die Schallmauer; schreien mit der ganzen Kraft unserer Seele, um die gigantische Frustration rauszulassen, die uns in der geschissenen Situation, in der wir leben, innerlich verzehrt; wir sind wie Läuse zwischen zwei Fingernägeln, leben in einem Albtraum innerhalb eines Albtraums, da ist kein Raum für Hoffnung, kein Raum für Freiheit. Wir haben es satt, in diesen politischen Auseinandersetzungen festzustecken; haben die pechschwarzen Nächte satt, in denen Flugzeuge über unseren Häusern kreisen; haben es satt, dass unschuldige Bauern in der Pufferzone abgeknallt werden, weil sie ihr Land bestellen; haben die bärtigen Typen satt, die überall rumrennen und ihre Macht missbrauchen und junge Leute verprügeln oder einsperren, die für das auf die Straße gehen, woran sie glauben; wir haben die Mauer der Schande satt, die uns vom Rest des Landes abschottet und uns in einem winzigen Fleckchen Land einsperrt; wir haben es satt, als Terroristen dargestellt zu werden, als hausgemachte Fanatiker, die Taschen gefüllt mit Sprengstoff und die Augen voller Hass; wir haben die Gleichgültigkeit satt, mit der die Internationale Gemeinschaft uns begegnet, die sogenannten Experten in der Formulierung von Betroffenheit und in der Verabschiedung von Resolutionen, aber Feiglinge, wenn es darum geht, irgendwas von dem, was sie beschließen, auch umzusetzen; wir haben die Schnauze gestrichen voll davon, ein beschissenes Leben zu führen, von Israel gefangen gehalten, von der Hamas verprügelt und vom Rest der Welt total ignoriert zu werden.
In uns wächst eine Revolution heran, eine riesige Unzufriedenheit und Frustration, die uns zerstören wird, wenn wir keinen Weg finden, diese Energie in etwas umzusetzen, was den Status Quo in Frage stellt und uns irgendeine Art Hoffnung gibt. Der letzteTropfen, der unser Herz vor Frustration und Hoffnungslosigkeit überlaufen ließ, war das, was am 30. November geschah, als Sicherheitsleute von der Hamas mit ihren Knarren, ihren Lügen und ihrer Aggressivität zum Sharek Youth Forum (www.sharek.ps), einer der führenden Jugendorganisationen, kamen, alle rauswarfen, manche ins Gefängnis brachten und Sharek verboten weiter zu machen. Ein paar Tage später wurden Demonstranten vor Sharek geschlagen und manche eingelocht. Wir erleben wirklich einen Albtraum in einem Albtraum. Es ist schwer, in Worten zu beschreiben, unter was für einem Druck wir leben. Mit Müh und Not haben wir die Operation Gegossenes Blei überstanden, als uns Israel in Grund und Boden gebombt, Tausende Wohnungen und noch viel mehr Leben und Träume zerstört und ausgelöscht hat. Die Hamas sind sie nicht losgeworden, wie sie eigentlich vorhatten, aber eins haben sie geschafft: uns Angst einzujagen, die wir nicht mehr loswerden, und uns alle mit posttraumatischem Stress-Syndrom zu infizieren, weil es kein Entkommen gab.
Wir sind Jugendliche, auf deren Herzen eine große Last liegt. Wir tragen eine Schwermut in uns, die so drückend ist, dass wir es kaum schaffen, den Sonnenuntergang zu genießen. Wie sollten wir auch, da düstere Wolken am Horizont aufziehen und sich Bilder elender Erinnerungen einstellen, sobald wir nur die Augen schließen. Wir lächeln, um den Schmerz zu verbergen. Wir lachen, um den Krieg zu vergessen. Wir hoffen, um nicht gleich und auf der Stelle Selbstmord zu begehen. Während des Angriffs beschlich uns die Gewissheit, dass Israel uns auslöschen und von der Erde verschwinden lassen wollte. In den letzten Jahren hat die Hamas alles daran gesetzt, unsere Gedanken, unser Verhalten und unsere Bestrebungen zu beherrschen. Wir sind eine Generation junger Leute, die daran gewöhnt sind, durch Raketenbeschuss bedroht zu sein, eine Generation mit der scheinbar nicht erfüllbaren Mission, unter diesen Umständen ein normales, gesundes Leben zu führen, und werden dabei nur zähneknirschend von einer mächtigen Organisation geduldet, die sich in unserer Gesellschaft wie ein Kebsgeschwür ausgebreitet hat, Chaos und Verwüstung produziert und dabei in alle lebendigen Zellen, Gedanken und Träume dringt und sie zerstört, während sie die Menschen unter ihrem Terrorregime lähmt – ganz abgesehen davon, dass wir in einem Gefängnis leben, einem Gefängnis, das von einem sich als „demokratisch“ bezeichnenden Land betrieben wird.
Die Geschichte wiederholt sich auf das Grausamste, und es scheint niemanden zu kümmern. Wir haben Angst. Hier in Gaza haben wir Angst davor, in den Knast zu kommen, verhört, geschlagen, gefoltert, bombardiert, getötet zu werden. Wir haben Angst vor dem Leben, denn jeder einzelne Schritt, den wir tun, will genau kalkuliert und überlegt sein, allenthalben gibt es Einschränkungen, wir können uns nicht bewegen, wie wir wollen, sagen, was wir wollen, tun, was wir wollen, manchmal können wir nicht mal denken, was wir wollen, weil die Besatzung unsere Herzen und Hirne auf eine so gräßliche Weise besetzt hat, dass es wehtut und uns danach ist, vor Frust und Wut endlos Tränen zu vergießen!
Wir wollen nicht hassen, wir wollen all das nicht empfinden, wir haben keine Lust mehr, Opfer zu sein. ES REICHT! Schmerz, Leiden, Kontrolle, Einschränkungen, unlautere Rechtfertigungen, Terror, Folter, Ausflüchte, Bombardierungen, schlaflose Nächte, getötete Zivilisten, schwarze Erinnerungen, elende Zukunft, quälende Gegenwart, entgleiste Politik, fanatische Politiker, religiöser Scheißdreck, Einkerkerung – es reicht! WIR SAGEN SCHLUSS DAMIT! Das ist nicht die Zukunft, die wir wollen!
Drei Dinge wollen wir: Wir wollen frei sein. Wir wollen ein normales Leben führen können. Wir wollen Frieden. Ist das zu viel verlangt? Wir sind eine Friedensbewegung aus jungen Leuten in Gaza und mit Unterstützern anderswo, und wir werden keine Ruhe geben, solange die Wahrheit über Gaza nicht überall auf der Welt bekannt ist und zwar so, dass stille Zustimmung oder dröhnende Gleichgültigkeit nicht mehr möglich sind.
Das ist das Manifest der Jugend von Gaza für Veränderung!
Wir werden damit beginnen, die Besatzung, die uns umgibt zu zerschlagen, wir werden uns aus diesem mentalen Kerker befreien und unsere Würde und unsere Selbstachtung zurückgewinnen. Wir werden aufrecht gehen, auch wenn man uns angreift. Wir werden Tag und Nacht daran arbeiten, diese miesen Bedingungen, unter denen wir leben, zu ändern. Wo wir auf Mauern treffen, werden wir Träume errichten.
Wir hoffen nur, dass du, ja du, der du dies gerade liest, uns dabei unterstützen kannst. Um rauszukriegen, wie, schreib an unsere Wand oder kontaktiere uns direkt:
freegazayouth [at] hotmail.com
Wir wollen frei sein, wir wollen leben, wie wollen Frieden.
FREE GAZA YOUTH!
Übersetzung und Einleitung: Sophia Deeg / Quelle: linksunten
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