Straflosigkeit und Staatsverbrechen an Frauen
Ein Text von Theres Hoechli
„Donnerstag, 16. April 2009, ich starte den Tag mit der schaurigen Zeitungsnotiz: ‚Wieder eine Frau getötet!’, die dritte in diesem Monat und bereits die 18. in diesem Jahr. Weinen, sich entrüsten oder resignieren, was mehr kann man tun? Was tun, wenn die Presse diesen Opfern noch einmal mehr Gewalt antut, indem sie sie auf der Kehrseite der Zeitung oder in den Fernsehnachrichten blutig der Öffentlichkeit präsentieren? Nayely Gonzalez war 24 Jahre alt, Mutter eines Kindes. Ihren Körper fand man in einer Schlucht, nachdem sie für einen Tag als vermisst gegolten hatte. Vom Mörder weiss man nichts.
Ich begleite die verzweifelte Familie zur Staatsanwaltschaft, um um mehr Information zu bitten. Der Staatsanwalt kann uns jedoch nicht mehr sagen, als in der Zeitung steht: elf Stichwunden, eine davon tödlich im Hals, heraustretende Eingeweide, vermutlich wurde sie vor ihrem Tod vergewaltigt. Weder über den Mörder noch über das Handlungsmotiv kann er Auskunft geben. Nichts, weil die Gutachten nicht richtig eingereicht wurden. Bis heute gibt es keine weiteren Untersuchungen und der Fall bleibt in völliger Straflosigkeit. Bis Ende des Jahres 2009 sind noch weitere 40 Frauen ermordet worden, deren Familien Gerechtigkeit für ihre Toten fordern.“
Dies die Worte von Anabel, einer Oaxaquenerin, die sich seit Jahren für die Frauenrechte einsetzt, und ohnmächtig und wütend die steigende Anzahl ermordeter Frauen beobachtet. Morde, die verhindert werden könnten, wenn die Regierung und zuständigen Behörden ein wirkliches Interesse daran hätten, das Leben der Frauen in Oaxaca zu schützen und ihnen mehr Sicherheit zu geben und wenn die Täter verfolgt und angemessen bestraft würden.
Oaxaca ist ein gefährlicher Ort für Frauen, wenn man die Statistiken betrachtet. Der Bundesstaat hat die vierthöchste Rate an Frauenmorden in Mexiko und auch bei weiteren Formen von Gewalt an Frauen, sexuelle, physische und psychische, liegt er unter den ersten fünf Rängen. In elf der 31 Bundesstaaten Mexikos spricht man von Feminizid, Oaxaca ist einer davon. Die mexikanische Feministin und Abgeordnete Marcela Lagarde hat den Begriff “Feminizid” wie folgt definiert: „Feminizid ist die Gesamtheit von frauenfeindlichen Umständen und Vorfällen. … Feminizid geschieht, weil die zuständigen Autoritäten nachlässig und fahrlässig sind oder mit den Gewalttätern unter einer Decke stecken. Es wird institutionelle Gewalt ausgeübt, wenn der Zugang der Opfer zur Justiz behindert und somit zur Straflosigkeit beigetragen wird. … Der Staat versagt darin, im Rahmen des Gesetzes zu handeln und es durchzusetzen, Gerechtigkeit zu suchen und der Gewalt gegen Frauen vorzubeugen und diese Gewalt zu beenden. Feminizid ist also ein staatliches Verbrechen.“
Das Kollektiv Huaxyacac, das aus verschiedenen Frauenorganisationen Oaxacas besteht, hat im Jahr 2004 begonnen den Feminizid, in Oaxaca zu dokumentieren. Da die zuständigen Institutionen verhindern, offizielle Zahlen zu erhalten, wurden entsprechende Zeitungsnotizen gesammelt und ausgewertet. Die so dokumentierten Zahlen liegen weit unter der wirklichen Anzahl vergangener Verbrechen an Frauen, von denen viele nicht einmal angezeigt werden, geschweige denn in der Zeitung erscheinen.
Anfang dieses Jahres gab das Kollektiv den Bericht 2008/09 „Feminizid in Oaxaca, Straflosigkeit und Staatsverbrechen an den Frauen“ heraus, der neben Frauenmorden auch Fälle von innerfamiliärer und sexueller Gewalt und verschwundenen Frauen zählt und die institutionelle Gewalt thematisiert. Der Bericht mit harten Zahlen und Fakten soll aufzeigen, in welcher Schuld die Regierung Oaxacas, wie auch Mexikos, bei den Frauen steht.
Die Zahlen sind erschütternd. In den zwei untersuchten Jahren kam es zu 101 Morden an Frauen. Dabei stieg die Anzahl vom Jahr 2008 zum Jahr 2009 um 35%, wie auch die Fälle von sexueller Gewalt. In den letzten zwei Monaten kam es allein in der Mixteca, einer Region Oaxacas, zu fünf Ermordungen, wobei es sich bei den Tätern in allen Fällen um Familienmitglieder handelt; Ehemänner, Schwiegersöhne oder der Vater. Die häusliche Gewalt ist die weitaus meist verbreitete und Oaxaca liegt auf erstem Rang nationalweit. Glücklicherweise gipfelt es in den meisten Fällen nicht in einem Mord, doch die psychische und emotionale Dauerbelastung der Frauen ist enorm. Laut offizieller Umfrage litt in Oaxaca jede zweite Frau mindestens einmal in ihrer momentanen Partnerschaft unter Gewalt, sei es physische, sexuelle, psychische oder finanzielle.
„Nach dem ersten Schlag bat er mich um Entschuldigung und natürlich musste ich mich ihm beugen. Er tat, wie wenn nichts geschehen wäre, liess mich aber nicht mehr mit seiner Familie sprechen und erst recht nicht mit der meinen.“
Oaxaca liegt im Süden Mexikos und ist einer der ärmsten Bundesstaaten des Landes. Viele der ländlichen Gemeinden leben in grösster Marginalisierung mit wenig Zugang zu Bildung, Erwerbsarbeit und einem funktionierenden Gesundheitssystem. Oaxaca weist die höchste Rate von Tod im Kindsbett auf. Dies ist ein weiteres Indiz für den Feminizid, da diese Tode verhindert werden könnten. Jährlich sterben Frauen während der Schwangerschaft oder beim Gebären, da sie keinen Zugang zu einem Gesundheitszentrum haben oder dieses schlecht ausgebildetes Personal hat.
Die Frauen sind von der Armut umso härter betroffen, als sie zudem in einer patriarchalischen und machistischen Gesellschaftsstruktur leben und Diskriminierung in der Gemeinschaft erfahren, die sie in ihrer persönlichen Freiheit und Entwicklung einschränken. Gewalt gegenüber Frauen wird toleriert, welche sich oft nicht bewusst sind, dass sie ein Recht auf ein gewaltfreies Leben haben. Viele Organisationen in Oaxaca arbeiten daran, den Frauen ihre Rechte zu vermitteln und sie soweit zu stärken, dass sie sich dafür einsetzen und sie verteidigen können. Ein Beispiel ist ein Diplomkurs, in dem 28 Frauen aus verschiedenen indigenen Gemeinden zu juristischen Mentorinnen ausgebildet wurden (siehe unten).
In Mexiko und besonders in Oaxaca befindet sich der Rechtsstaat in einer schweren Krise. Rechtliche Mittel greifen nicht, Korruption, Straflosigkeit von Gewalttaten, Repression von sozialen Bewegungen und Protesten sind an der Tagesordnung. In den Fällen von Gewalt gegenüber Frauen zeigt sich zudem ein Desinteresse der meist männlichen Beamten, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und den Feminizid mit Präventionsarbeit zu bekämpfen. Mit jeder ungestraften Gewalttat zeigen sie sich einverstanden damit und geben freies Feld für weitere Gewalt.
Seit Februar 2009 gibt es in Oaxaca zwar ein Gesetz für das Recht der Frauen auf ein gewaltfreies Leben, aber es fehlen die entsprechenden Ausführungsbestimmungen, ohne die das Gesetz nicht wirksam ist. Es fehlt zum Beispiel eine entsprechende Gesetzgebung zum Schutz von Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Vor allem Opfer familiärer Gewalt sind in Gefahr, da die wenigen Täter, die überhaupt zur Rechenschaft gezogen werden, oft mit einer kleinen Geldbusse wieder nach Hause, zu Frau und Kindern, geschickt werden. Die Straflosigkeit gerade für Delikte an Frauen ist hoch. Viele reichen keine Klage ein, weil sie den Behörden nicht trauen, und von den wenigen Klagen wird gerade mal 1% der Täter zur Rechenschaft gezogen. Zudem werden die Frauen häufig mit unsensiblem Personal konfrontiert, vor dem sie erst beweisen muss, dass sie geschlagen wurde und sie keine Schuld daran hat.
Als weiteres Beispiel für die Missachtung der Frauen wird die Gesetzesreform über Schwangerschaftsabbruch angesehen, die vor einem Jahr vom Parlament in Oaxaca angenommen wurde und den Frauen das Recht über ihren Körper zu entscheiden stark einschränkt. Diese Reform wurde bereits in 18 Staaten angenommen und es besteht die Gefahr, dass es zu einer nationalen Verfassungsänderung kommt. Durch die Reform würde der Schwangerschaftsabbruch vollständig verboten, selbst nach Vergewaltigung, oder wenn das Leben der Frau in Gefahr ist. Frauen, die aus Not dennoch ihre Schwangerschaft abbrechen, können strafrechtlich verfolgt werden. In anderen Bundesstaaten sitzen bereits mehrere junge Frauen im Gefängnis, mit Strafen bis zu 25 Jahren. Dies in einem Land, wo eine überwiegende Mehrheit der Gewalttäter nie bestraft wird. Der Protest nationalweit ist gross und auch die Organisationen von Oaxaca beteiligen sich an verschiedenen Initiativen und Aktionen, um diesen Rückschritt im Bereich der Frauenrechte zu verhindern.
Was tun, fragt sich Anabel, gegen die Ohnmacht? Was tun gegen die Wut, die einen überkommt, beim täglichen Lesen von Zeitungsberichten über Gewalttaten an Frauen, und dem gleichzeitigen Wissen, dass sie verhindert werden könnten?
Nicht aufhören zu schreien! Die Ungerechtigkeit und sinnlose Gewalt in die Welt hinaus schreien, um Augen und Herzen zu öffnen und die Gewalttäter und unfähigen Behörden anzuprangern, die sie ungestraft laufen lassen.
Der Weg ist steinig, aber jede Frau, die sich traut, Widerstand zu leisten, jeder Beamte, der sensibel die Klage einer Frau anhört und ernst nimmt, ist ein Erfolg.
Juristische Mentorinnen
„Morgen werden wir zu juristischen Mentorinnen diplomiert. Aber diese Arbeit und unser Wissen werden wir in unsere Gemeinden tragen, um Frauen, die unter den Schlägen und Misshandlungen ihrer Partner oder Familienangehörigen leiden, helfen zu können.“
Carmela, 43 Jahre alt
Während acht Monaten erhielten 28 indigene Frauen eine Ausbildung in grundlegendem juristischem Wissen und in der Beratungstätigkeit, damit sie Frauen ihrer Gemeinde, die unter Gewalt leiden beraten und begleiten können auf dem Weg aus der Gewaltspirale. Der Diplomkurs wurde von der NGO „Consorcio para el Dialogo Parlamentario y Equidad Oaxaca“ erteilt und von der Autonomen Universität von Oaxaca beglaubigt.
Viele der diplomierten Frauen begleiten bereits Fälle. Damit die anfallenden Ausgaben, wie Telefon- und Reisekosten gedeckt werden können, sind wir auf Spenden angewiesen. Wenn Sie die Mentorinnen in ihrer Arbeit unterstützen wollen, finden Sie den Link und weitere Information über die Arbeit Consorcios auf der Homepage von Consorcio: www.consorciooaxaca.org.mx oder per email an theres@consorciooaxaca.org.mx (auf Deutsch möglich).
Quelle: chiapas.ch