Quelle: www.woz.ch
Vor sieben Jahren ging bei der Berner Reitschule ein Sprengsatz hoch, nur durch Glück gab es kein Blutbad. Akten zeigen: Es gibt einen «dringend Tatverdächtigen», aber die Bundesanwaltschaft will das Verfahren gegen den Neonazi einstellen.
Es ist Samstag, der 4. August 2007, spätabends. An einem antifaschistischen Festival in der Grossen Halle des Berner Kulturzentrums Reitschule spielt eine Punkrockband vor etwa 1500 BesucherInnen. Ein Besucher entdeckt beim Mischpult, zehn Meter von der Bühne entfernt, einen nach Benzin riechenden herrenlosen Rucksack. Ein herbeigerufener Sicherheitszuständiger bringt den Rucksack durch einen Notausgang ins Freie, schaut hinein, sieht Flaschen und Kabel, die zu einem grauen Gegenstand führen. Der Mann realisiert, dass er einen Sprengsatz vor sich haben könnte, und bringt sich und andere in Sicherheit. Wenige Minuten später geht die Bombe hoch.
Der Feuerball
Der Wissenschaftliche Dienst der Stadtpolizei Zürich rekonstruiert, was im Innern des Rucksacks passiert sein dürfte: Ein Zeitzünder, der aus einem Reisewecker, einer Batterie und einer «kleinen selbstgefertigten Elektronik» besteht, zündet eine «klassische Rohrbombe», eine mit Pulvern aus Feuerwerkskörpern gefüllte graue Plastikröhre. Die Splitter des detonierten Rohrs reissen drei mit Benzin gefüllte 1,5-Liter-PET-Flaschen auf, was zu einer «schlagartigen Verteilung des Benzins und einer Verwirbelung mit der sauerstoffhaltigen Umgebungsluft» führt. Dieses Gemisch entzündet sich sofort. AugenzeugInnen sprechen von einem Feuerball von drei bis fünf Metern Höhe und mehreren Metern Durchmesser. Nicht auszudenken, was dieser Feuerball inmitten der KonzertbesucherInnen angerichtet hätte.
Das Berner Untersuchungsrichteramt stellt im März 2008 die Ermittlungen ein. Begründung: «Die Täterschaft konnte nicht ermittelt werden.»
Das Waffenarsenal
Eineinhalb Jahre nach dem Anschlag, im Dezember 2009, stellt K. S., ein damals 21-jähriger Mann aus dem Berner Seeland, bei der Kantonspolizei ein Gesuch für einen Waffenerwerbsschein. Die zuständigen Polizisten machen ihre Arbeit gewissenhaft und bitten den Nachrichtendienst des Bundes (NDB) um eine Einschätzung zu K. S. Der Nachrichtendienst schreibt: «K. S. bewegt sich seit 2006 im Umfeld von gewalttätigen Personen und rechtsextremen Gruppierungen.» 2008 sei er wegen rassistischer Textpassagen im Internetforum des Neonazinetzwerks Blood and Honour angezeigt worden, es bestehe eine Anklage wegen Körperverletzung und Tätlichkeiten, begangen zusammen mit einem «rechtsextremen Kollegen». Als die Kantonspolizei dann auch noch herausfindet, dass K. S. Anfang 2009 einen Militärkarabiner gekauft hat, lehnt sie das Gesuch von K. S. ab und beantragt stattdessen eine Hausdurchsuchung.
Am 30. März 2010 ist es so weit: Das Waffenarsenal, das die PolizistInnen bei K. S., finden, ist beeindruckend: zwei Langgewehre, vier Karabiner, eine Kalaschnikow AK-47, ein Sturmgewehr 57, eine Pump-Action, vier Pistolen, zwei Schreckschusspistolen, zwei Elektroschockgeräte, ein Schlagring, ein Teleskopschlagstock sowie Magazine, Munition und Zubehör aller Art (inklusive Schalldämpfer und Ziellaser).
In einer Kiste findet die Polizei zudem «diverse pyrotechnische Sprengkörper» und «drei Wecker», in einem Tresor einen «Behälter, angeschrieben mit Ammoniumnitrat» und «diverses elektronisches Zubehör». Ein handschriftlich geschriebenes Rezept zur Herstellung des Plastiksprengstoffs Semtex beschlagnahmen die PolizistInnen ebenfalls.
Der DNA-Volltreffer
K. S. wird eine DNA-Probe genommen. Der Abgleich mit der DNA-Datenbank liefert einen Volltreffer. Das DNA-Profil stimmt mit DNA-Spuren überein, die an den Überresten des detonierten Sprengsatzes in der Reitschule gefunden worden waren. Die konkreten Fundstellen: das Plastikrohr, ein Kabel und ein Klebeband.
Antifaschistische Kreise hatten K. S. schon früh der Tatbeteiligung verdächtigt. Er habe nämlich am Tag nach dem Anschlag und noch bevor die Medien darüber berichteten im Internetforum von Blood and Honour auf eine Medienmitteilung der Festivalorganisationen verlinkt und seiner Freude über den Anschlag Ausdruck verschafft.
Es beginnt nun die «Operation Feuerball», wie die Berner Behörden die Ermittlungen nennen. Der Wissenschaftliche Forschungsdienst der Stadtpolizei Zürich meldet nach Bern, das bei K. S. beschlagnahmte Material enthalte «alle nötigen Komponenten (Pyrotechnik, Anzündmittel, Auslösevorrichtung), welche zur Herstellung einer Unkonventionellen Spreng- und/oder Brandvorrichtung (USBV) nötig sind».
Der Forschungsdienst berichtet zudem von «Hinweisen auf konkrete materialtechnische Zusammenhänge zum Anschlagsversuch bei der Reitschule». So soll etwa eine für die Elektronik gebrauchte Platine am detonierten Sprengsatz «übereinstimmende Passspuren» mit einer Platine vorweisen, die bei K. S. zu Hause beschlagnahmt wurde. In den Augen eines Laien sehen die beiden Platinen ohnehin genau gleich aus – und passen wie Puzzleteile zusammen (vgl. Bildstrecke oben, 3. und 4. Bild).
In einem Gutachten, das fast zwei Jahre später vom selben Forschungsdienst erstellt wird, werden «übereinstimmende Passspuren» plötzlich verneint. Weiterhin gibt es aber keine signifikanten Materialunterschiede bei Platinen und einem Teil der Kabel. Ein oranges Billigkabel, das in Elektronikfachkreisen nicht sehr verbreitet sei, findet sich sowohl bei K. S. als auch in den Sprengkörperüberresten. Die Lötstellen wie auch den Aufbau der elektronischen Schaltungen hält der Forschungsdienst für «vergleichbar».
Im November 2010 durchsuchen PolizistInnen die Räumlichkeiten von K. S. erneut. Sie finden Plastikrohre und Plastikdeckel, die so verschraubt sind wie jene beim Anschlag – der Durchmesser des beschlagnahmten Rohrs ist aber ein anderer. Diesmal nehmen die Beamten auch Computer mit. Auch die Handykommunikation von K. S. wird für einen Monat überwacht. Am Abend nach der Hausdurchsuchung schreibt dieser ein SMS, offenbar als Antwort auf die Frage eines Freundes, was denn auf den beschlagnahmten Computern gewesen sei. «Nüt! ufem PC nix, ds isch uf dr HD.» Die erwähnte externe Festplatte wird nie gefunden werden. Das «nix» auf den beschlagnahmten Computern ist auch nicht gerade nichts: Die FahnderInnen finden Dateiordner mit Namen wie «Bomben», «Gifte», «Sprengstoffe» oder «Zünder». Auch ein beschlagnahmter Ordner aus Karton enthält diverse Anleitungen zur Herstellung von Sprengstoff und Rohrbomben. Und: In einer Art Dossier hat K. S. Medienberichte zum Anschlag gesammelt. Im Verhör darauf angesprochen, wird er später sagen, er habe die Berichte gesammelt, um rechtlich gegen Kreise vorzugehen, die ihn im Internet mit dem Anschlag in Verbindung gebracht hätten.
Nachdem K. S. erfährt, dass gegen ihn Anklage erhoben wird, zählt er einer Frau per SMS die Anklagepunkte auf: «Vorsätzliche Verursachung einer Explosion, evtl. Gefährdung des Lebens, Brandstiftung, versuchte schwere Körperverletzung, versuchte Sachbeschädigung, Widerhandlung gegen das Waffen-, Betäubungsmittel- und Sprengstoffgesetz.» Dann kommentiert K. S.: «Bi ja selber schuld. Wird scho alles guet cho am Schluss.»
K. S., der übrigens nie in Untersuchungshaft genommen wird, erklärt bei einer polizeilichen Einvernahme, es habe ihn schon immer interessiert, «wenns chlepft und tätscht». Überhaupt sei es ihm nur darum gegangen, an Silvester oder am 1. August zeitverzögert ein Feuerwerk zu zünden. «Haben Sie etwas mit dem Anschlag zu tun?», wird er erstmals im Dezember 2010 gefragt. K. S., der ansonsten alle Fragen in diesem Verhör beantwortet hat, gibt zu Protokoll: «Dazu will ich im Moment nichts sagen.» Bald sollte K. S. überhaupt keine Aussagen mehr zur Sache machen.
Die Aussageverweigerung
K. S. bekommt einen Pflichtverteidiger. Und der berät ihn gut. K. S. macht Gebrauch von seinem Recht auf Aussageverweigerung. «Dazu möchte ich nichts sagen» ist von nun an seine Standardantwort auf fast alle relevanten Fragen. Er begründet die Aussageverweigerung mit der Angst, «von linker und auch von rechter Seite ins Fadenkreuz» genommen zu werden, wie er auf Frage seines Anwalts sagt. Plötzlich ist K. S. nicht mehr der starke Krieger, als der er sich im Internet früher so gerne inszenierte: Im Vernehmungsprotokoll heisst es: «Herr S. beginnt zu weinen.»
Die Berner Behörden übergeben den Fall im Februar 2012 der Bundesanwaltschaft. Zur Liste der Anklagepunkte kommt der Tatbestand der «Gefährdung durch Sprengstoffe und giftige Gase in verbrecherischer Absicht» hinzu.
Dass von mehreren TäterInnen ausgegangen werden muss, ist schon längere Zeit klar. An einem Klebeband, das den Sprengsatz zusammengehalten hatte, findet sich ein Fragment eines Handballenabdrucks – allerdings ist es von schlechter Qualität. Die Qualität reicht aber aus, um K. S. als Urheber auszuschliessen. «DNA-Mischprofile», die auf den Überresten des Reitschule-Sprengsatzes gefunden wurden, stammen in einem Fall von drei Personen, in einem Fall von zwei Personen – nur die sogenannte Hauptkomponente stammte jeweils von K. S.
Die Bundesanwaltschaft befragte infolge der Handyüberwachung zwei Männer und zwei Frauen als «Auskunftspersonen». Dies sind Personen, bei denen noch unklar ist, ob sie einer Tat beschuldigt werden oder nicht. Alle vier verweigern die Aussage. DNA-Proben werden zwar genommen, aber nach der Intervention eines Anwalts nicht ausgewertet – während anderswo im Land Proben von Schwarzfahrern oder Hausbesetzerinnen bedenkenlos mit der DNA-Datenbank abgeglichen werden.
Die Einstellung
Dann, im Januar 2013, die grosse Überraschung: Die Bundesanwaltschaft verkündet, das Verfahren in Sachen «Sprengstoff-Vorfall» einstellen zu wollen. Lediglich für die Verstösse gegen das Waffen- und Betäubungsmittelgesetz solle K. S. einen Strafbefehl erhalten.
Der Rechtsbeistand der PrivatklägerInnen aus der Reitschule ist damit nicht einverstanden und reicht elf Beweisanträge ein: Unter anderem sollen weitere ZeugInnen befragt und die Handballenabdrücke von Auskunftspersonen optisch mit jenem am Bombenklebeband verglichen werden. Die Bundesanwaltschaft lehnt alle Beweisanträge ab.
Martin Stupf, Staatsanwalt des Bundes, verfasst im Januar 2014 die angekündigte «Einstellungsverfügung», in der er mehrere Tatindizien kommentiert:
- DNA-Spuren: Wann und wie der Kontakt mit den Gegenständen im Rucksack stattgefunden habe, sei nicht geklärt, weil K. S. keine Aussage gemacht habe.
- Sprengstoffe: Es habe K. S. nicht nachgewiesen werden können, dass er etwas anderes als Feuerwerksbasteleien im privaten Bereich getätigt habe.
- Elektrobauteile (Leiterplatine): Hier hätten die «materialanalytischen Untersuchungen» im Vergleich zwischen den beim Anschlag benutzten und den beim Verdächtigen beschlagnahmten Leiterplatinen zwar «keine nennenswerten Unterschiede» gezeigt, «es konnte aber auch nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass diese vom selben Ursprung sind, da es sich um handelsübliche Ware handelt und jede beliebige Person Zugang dazu hat».
- SMS: Das Eingeständnis, dass er (K. S.) ja selber schuld sei, lasse «keine Rückschlüsse darauf zu», dass er damit den Anschlag gemeint habe – es sei ja auch wegen anderer Delikte ermittelt worden.
- Platzierung des Sprengsatzes: Es habe keine Person ausfindig gemacht werden können, die K. S. mit dem Rucksack bei der Reitschule gesehen habe.
Die PrivatklägerInnen akzeptieren die Einstellung nicht. Ihr juristischer Vertreter, Matthias Zurbrügg, weist in seiner Beschwerde ans Bundesstrafgericht in Bellinzona darauf hin, dass in der Voruntersuchung das Prinzip «in dubio pro duriore» gelte, dass es im Zweifel also zu einer Gerichtsverhandlung kommen soll. Erst das Gericht entscheidet dann im Zweifel für den Angeklagten. Alle Indizien zusammen würden «keinen Zweifel» an der Beteiligung von K. S. am Anschlag zulassen.
Mit einem Entscheid aus Bellinzona ist in den nächsten Wochen zu rechnen. K. S. wollte sich auf Anfrage nicht zu den Vorwürfen äussern. Er sagte einzig, er sei froh, wenn das Verfahren endlich zu Ende gehe.