Get Swiss or Die Trying

Quelle: http://www.vice.com/alps/read/get-swiss-or-die-trying-v7-n8?Contentpage=-1

Stell dir vor, du lebst in einem Raum ohne Fenster. Dein Schlafzimmer—eine Militärkajüte—teilst du mit fünf Typen, die du kaum zwei Wochen kennst. In dem Luftschutzkeller, den man hier Wohnzimmer nennt, gibt es für 50 Insassen gerade mal einen Fernseher. Und die meisten von ihnen sprechen eine Sprache, die du nicht im Geringsten verstehst. Draussen erwartet dich nichts als die Steppenfratze einer unbesiedelten Schweizer Alpenpampa. Es gibt weder Bäume noch Strassenbeleuchtung. Nur endlos viele Steine und einen schwarzglänzenden Stausee, der so kalt ist, dass dir die Haut brennt, wenn du die Füsse reinstreckst. Alles ist still. Bis auf das unablässige Surren der Starkstrommasten, die knapp 60 Meter vor deiner Tür vorbeilaufen. Du lebst hier, ohne zu wissen, wie lange du bleibst oder wohin du später gebracht wirst. Dein Tagesablauf ist klar geregelt. Drei Mahlzeiten am Tag, Nachtruhe um 22 Uhr, Ausgang am Wochenende. Eigentlich gibt es rein gar nichts zu tun. Du hast nichts verbrochen, du bist nicht kriminell. Du bist hier, weil du einen Antrag auf Asyl gestellt hast. Seit dem Juli 2013 befi ndet sich in einem ungenutzten Militärbunker auf dem Lukmanierpass das abgelegenste Asylzentrum der Schweiz. Bis zum Oktober sind hier zwischen 40 und 80 Asylbeantragende untergebracht. Sie bleiben, bis sie in eine andere Unterkunft „verlegt“ werden, ihrem Antrag stattgegeben wird oder sie in irgendein Land geschafft werden, von dem man mutmasst, dass es ihr jeweiliges Heimatland ist. Wir sind dorthin gefahren und haben versucht, mit den vorübergehenden Bewohnern dieses modernen Verlieses in Kontakt zu kommen. Da die Sicherheitsleute wie Trolle ihre Höhle bewachten und der Bund unser schriftliches Gesuch auf Einlass in die Räumlichkeiten abgelehnt hatte, blieb uns nichts anderes übrig, als zu warten, bis irgendwann jemand herauskam.


Nasri war der einzige unserer Gesprächspartner, dem es nicht so kalt war. Ab und zu wagt er sogar einen Sprung ins Wasser.

Der Erste, der sich mit uns unterhalten wollte, war Nasri. Er ist achtzehn und ursprünglich aus Afghanistan. Nasri war total locker und wirkte wie ein gewöhnlicher Student. Er ist sehr humorvoll, spricht fliessend englisch und überraschte uns mit seiner ansteckenden, positiven Ausstrahlung. Er liebt Autos und hasst Produkte aus China. Er ist gläubiger Muslim und so westlich wie Dosenbier. Sein Lieblingsauto ist der Fort Mustang GTI. Er meinte, dass sich die Wanderwege der Umgebung wohl perfekt für eine Rallye eignen würden. Sein Facebook-Profil ist voll mit Fotos von ihm im schwarzen Blazer am Strand und mit seinem geliebten Lexus. Ob er wirklich erst achtzehn ist? Sei er, aber das sei eigentlich egal, wenn man keine Papiere hat. Da viele behaupten, minderjährig zu sein, sind die Typen vom Amt ziemlich misstrauisch. Um hierher verlegt werden zu können, muss man aber volljährig sein. Da wird bei Unklarheiten schon einmal etwas nachgeholfen. Den grössten Teil seiner Kindheit hat er, wie viele Afghanen, im Iran verbracht. Weil seine Familie für sich dort keine Zukunft mehr sah, reisten sie nach Istanbul. Am Tor zum Westen haben sie, wie es ihnen empfohlen wurde, ihre Pässe ins Meer geworfen. Dann trennten sich seine und ihre Wege. Jetzt sitzt er hier oben auf dem Pass und raucht Zigaretten. 8.50 Franken kostet die Packung im Passhospiz. Zwar hat er sich Europa viel gastfreundlicher vorgestellt, aber über seine Lage beschwert hat er sich kaum. Nur die gähnende Langeweile und das ungesalzene Essen im Heim stören ihn. Nasri organisierte uns im Handumdrehen ein paar weitere Gesprächspartner.


Das ist der Typ, den sie Bierwolf nennen. Er steht neben der „Schulungsbaracke”, in der organisatorische Dinge geklärt werden.

Zum Beispiel diesen Typen mit dem Spitznamen Bierwolf—ein Äthiopier, dessen Namen wir einfach nicht aussprechen konnten. Der Bierwolf war um Welten weniger positiv eingestellt als Nasri. Er ist Nichtraucher und mag die Berge nicht. Er hasst sie. Und er hasst das Wandern. Dafür mag er Tupac und 50 Cent. Am liebsten wäre er bei seiner Frau und seinen zwei kleinen Töchtern, die in Buchs, St. Gallen, leben. Falls das mit dem Visum nicht klappen sollte, will er es in Griechenland versuchen. Dort sei es angeblich ziemlich leicht, eine Aufenthaltsbewilligung zu kriegen.

Und dann gab es noch Joseph, einen französischsprechenden Blumenhändler aus Eritrea mit dem Spitznamen Mafioso. Joseph ist ein bunter Hund. Wenn sie im Asylbunker einen Preis für den besten Look vergeben würden, er hätte ihn garantiert schon zehnmal gewonnen. Als ich ihm erzählt habe, dass ich viel zeichne, hat er mich überredet, ihn zu porträtieren. Dabei hat er posiert wie ein Prinz aus dem 18. Jahrhundert. Seine Freude zeigte er mir mit einem Blick, der nahelegte, dass ich verdammt froh darüber sein konnte, ihm diese Ehre erweisen zu dürfen. Überhaupt war er entgegen seiner Coolness die ganze Zeit über relativ nervös. Schon bei unserer ersten Begegnung hatte er ziemlich aufgebracht telefoniert. Es stellte sich heraus, dass er sich „schwierig verhalten“ hatte und daher noch am selben Tag verlegt werden sollte. Wohin, wusste er nicht. Später erfuhren wir, dass er nach Italien überstellt werden sollte. Aber schlecht gelaunt sei er ohnehin, weil es hier oben keine warmen Kleider für die Insassen gäbe, abgesehen von den Arbeitskleidern. Die dürfen sie aber nur tragen, während sie einen der vielen Sozialjobs in der Gemeinde verrichten, wie Schutt von Wanderwegen wegräumen oder Strassen sanieren.


Joseph beweist, dass man Stil nicht kaufen kann.

Vielleicht haben wir bisher den Eindruck erweckt, so ein Bunker im Niemandsland sei etwas Besonderes. Das ist Schwachsinn. Die Situation ist ziemlich symptomatisch dafür, wie der gegenwärtige Kurs der Schweizer Einwanderungspolitik aussieht. Die folgenden drei Geschichten zeigen, dass der Stil, mit dem das Bundesamt für Migration (BFM) die humanitäre Tradition der Schweiz auslebt, durchaus drakonische Züge entwickeln kann. August 2013 im Solothurner Dorf Kestenholz: Zehn Asylsuchende demonstrieren gegen ihre Unterbringung in einem Luftschutzkeller ohne Tageslicht und Frischluftzufuhr. Eigentlich hätte für sie eine Containeranlage gebaut werden sollen, aber die gut 1.700 Stimmbürger lehnten die Finanzierung ab. Die Demonstration war ein Desaster. Der Bahnhofsplatz verwandelte sich in einen modernen Pranger. Die Querulanten wurden beschimpft und von einem Typen mit Bier und Milch beschüttet. Die Behörden verzichteten darauf, ihnen das zustehende Tagesgeld oder Nahrungsmittel zukommen zu lassen. Nach vier Tagen wurde das Spektakel von der Polizei aufgelöst. Die Demonstranten wurden einzeln an Standorte „verlegt“, die nach Angaben der Behörden auf keinen Fall einen „höheren Standard“ wie bisher aufwiesen. Kaum 60 Kilometer entfernt, in der aargauischen Kleinstadt Bremgarten, eröffnete der Bund im August 2013 ein Asylzentrum für bis zu 150 Personen. Das von der Stadtregierung als „nicht ideal“ eingeschätzte Gebäude ist eine ehemalige Truppenunterkunft der Armee. Bereits im April schloss das BFM zusammen mit der Gemeinde eine sechsseitige Vereinbarung ab, die regelt, wie sich die Migranten in der Stadt bewegen dürfen. Das heisst, die Behörden verhängten de facto ein Rayonverbot für 32 „sensible Zonen“ auf öffentlichem Grund. Darunter der Sportplatz, das Schwimmbad, Schulhäuser und Kirchen. Kein Zutritt ohne ausdrückliche Erlaubnis der Heimleitung und Begleitung eines Sozialarbeiters. Kein Unterricht für Migrantenkinder. Ausgangszeiten von 9 bis 17 Uhr.


Viel machen, ausser herumlungern und in die Gegend starren, kann man hier oben eigentlich nicht.

Aber die ungeschlagene Gummizelle unter den Bundesasylzentren ist das „Minimalzentrum Waldau“, eine Containersiedlung in der Bündner Gemeinde Landquart. Es ist der Ort, an den Asylbewerber geraten, die in anderen Bündner Unterkünften „verhaltensauffällig“ geworden sind. Das Etikett „Minimal“ ist reine Schönfärberei. Im Aufenthaltsraum—einer 2,5 mal 6 Meter grossen Baracke—gibt es gerade einmal einen alten Herd, kahle Wände, einen Plastikboden. Es gibt keine Betreuer vor Ort, dafür aber 7,30 Franken Tagesgeld. Seit 2006 leben hier aufsässige Teenager gleichermassen wie traumatisierte oder gewalttätige Kerle. Bereits drei Monate nach Inbetriebnahme brannte die gesamte Anlage nieder. Im Juni 2012 fackelten erneut zwei Container ab. Ein algerischer Insasse berichtete der Schweizer Wochenzeitung WOZ, dass er aus Angst vor einem Zimmergenossen selbst im Winter nächtelang im Freien übernachtete. Aber die bisher grösste Katastrophe ereignete sich wohl im Januar 2013, als die Leiche des 32-jährigen Feras Motaleeb auf dem Gelände gefunden wurde. Der palästinastämmige Libanese gelangte wegen einer Schlägerei im Asylheim Davos nach Waldau—und weil er sich im Transitzentrum Cazis geweigert hatte, eine Zigarette auszulöschen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen eines Tötungsdeliktes. Die Behörden weigern sich, das Lager zu schliessen. Henri Dunant würde sich im Grab umdrehen.

Es sieht so aus, als seien diese Fälle erst der Anfang einer neuen, dunklen Epoche europäischer Grenzpolitik. Als der durch die Schengener Durchführungseinkommen (Schengen II) geschaffene „Schengener Besitzstand“ Ende der neunziger Jahre in EU-Recht überführt wurde, orientierte sich die EU mit ihrem asylpolitischen Konzept—ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“—massgebend an der deutschen Linie der „sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten“. Damit können Personen, die ein Schengenland von einem solchen Land aus „unrechtmässig“ betreten haben, im Handumdrehen dorthin zurückverfrachtet werden. Die Konsequenz: Leute, die nicht aus einem solchen Land stammen, werfen reihenweise ihre Pässe weg. Das Ergebnis: Ein bürokratischer Alptraum, der tausende Migranten dauerhaft in Bewegung hält. Eine politische Maschinerie der Isolation, bewaffnet mit einer Architektur des Provisoriums. Mit der Annahme der Asylgesetzrevision im Juni 2013 wurde in der Schweiz die gesetzliche Grundlage geschaffen, um diese Art von Einwanderungspolitik systematisch etablieren zu können. Also eigentlich trat ein Grossteil der Beschlüsse des neuen Asylgesetzes bereits im Herbst 2012 ein, da sie vom Parlament als „dringlich“ eingestuft worden waren. Bundeseinrichtungen wie etwa Militärbunker dürfen nun ohne Bewilligung der Kantone für drei Jahre als Asylzentren genutzt werden.

Aufsässige Asylbewerber können problemlos in speziellen Zentren untergebracht werden. Und innerhalb einer zweijährigen Testphase verfügt der Bund über eine Blankovollmacht, die es ihm erlaubt, sämtliche Verfahrensbestimmungen ohne Referendumsanspruch zu ändern. Ein Trial-and-Error-Dekret. Nasri war zuversichtlich, dass er wenigstens nicht aus der Schweiz abgeschoben wird, da sie das einzige europäische Land ist, in dem seine Fingerabdrücke festgehalten sind. Er hofft darauf, sich im Alpenland bald eine eigene Existenz aufbauen zu können und nicht andauernd von Heim zu Heim gereicht zu werden. Es klingt absurd, dass jährlich Unsummen dafür ausgegeben werden, Menschen vom sozialen Geschehen abzuschotten, während das Bevölkerungswachstum zurückgeht, die Arbeitslosenquote bei gerade einmal 3 Prozent liegt und mehrere Berufssparten notorisch unterbesetzt sind. Aber noch absurder ist das Bild, wie täglich drei Dutzend Wanderer mit ihren Lunchpaketen, ihrer Sonnencreme und ihren Wanderschuhen an den geröllhackenden Migranten vorbeimarschieren, ohne im Geringsten zu ahnen, wer diese schuftenden Kerle sind. Als wir am Abend aufbrechen, habe ich ein mulmiges Gefühl im Bauch. Ich weiss, Nasri, das könnte genau so gut ich sein.

This entry was posted in Antifa, Migration, Schweiz and tagged , , , . Bookmark the permalink.

Leave a Reply