In Beiruts Innenstadt steigen die Wohnungspreise, in Bulgarien wird eine lange Grenzmauer gebaut und die Türkei meldet sich mehrende Typhuserkrankungen, auch die Masern tauchen wieder auf. Was das alles miteinander zu tun hat? Es ist der Krieg in Syrien, der diese Vorgänge verbindet. Im ersten Fall ist der Grund die steigende Zahl der Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen, in letzteren sind es die syrischen Flüchtlinge selbst. Der Konflikt in Syrien hat sich im nun anstehenden dritten Kriegswinter erneut verschärft. Was als vermeintliche Revolution im Zuge des »arabischen Frühlings« begonnen hat, ist zur größten humanitären Katastrophe geworden, die der Nahe Osten bisher erlebt hat.
Als vor zweieinhalb Jahren, im Frühling 2011, Syrerinnen und Syrer begannen, in Massen friedlich eine Veränderung des politischen Systems einzufordern, reagierte die Diktatur auf ihre Art konsequent: Sie versuchte einzuschüchtern und schoss auf die Demonstrierenden, bis der Konflikt sich schließlich militarisierte. Die friedlichen Aktivistinnen und Aktivisten wichen den bewaffneten Kämpfern, die Bürgerkomitees den Milizen, aus der »Revolution« wurde ein Bürgerkrieg – gemacht, denn unausweichlich war diese Entwicklung nicht.
Verdeutlicht wird sie in drei Dokumentarfilmen, die auf Festivals und im Fernsehen gerade ein gewisses Publikum finden: Da ist Iara Lees Dokumentation »The Suffering Grasses«, gedreht Anfang 2012, die bereits rückblickend den Beginn des syrischen Aufstands beschreibt. Aktivisten sprechen über ihre Hoffnungen, noch hat der bewaffnete Kampf die Erinnerung an die erste Phase des Aufstands, an die Aktivistenkomitees und Demonstrationen, nicht verdrängt.
So wie Lees Film keine neutrale Dokumentation ist, sondern Sympathie mit den Aufständischen bezeugt, so will Matthew VanDykes nun auch bei Youtube eingestellter kurzer Film »Not Anymore: A Story of Revolution« ausdrücklich um Unterstützung für den Kampf in Syrien werben. Aber hier ist die Szenerie bereits eine ganz andere. Die zwei Protagonisten des Films, ein Kommandeur der Free Syrian Army und eine junge Syrerin, die Fotografin auf Seiten der Aufständischen ist, bewegen sich durch die umkämpften Straßen Aleppos. Der Tod ist allgegenwärtig, die Stimmung der Protagonisten wechselt zwischen Zynismus, Trauer und dem Ringen um Hoffnung.
Man kann nun noch die BBC-Dokumentation »Syriens Kinder« von Ian Pannell und Darren Conway heranziehen, die Mitte November 2013 im deutschen Fernsehen lief. Der Film begleitet zwei Ärztinnen auf ihrem Weg durch Flüchtlingslager und Behelfskrankenhäuser. Es ist eine Tour des Schreckens, das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen, für die Versorgung von Kranken und Verwundeten mangelt es am grundlegenden Material, zu der ständigen Angst vor Luftangriffen, die gezielt die Lazarette treffen sollen, kommt die Unsicherheit hinter den Frontlinien, seit sich Rebellengruppen auch untereinander bekämpfen. Der furchtbare Höhepunkt des Films ist erreicht, als ein Pausenhof voller Kinder und Jugendlicher von einer Brandbombe getroffen wird und die Ärzte im notdürftig ausgestatteten Hospital nur unzureichende Erste Hilfe leisten können. Aus dem Krieg in Syrien ist längst eine humanitäre Katastrophe geworden.
Als die arabischen Revolten Syrien erreichten, war klar, dass eine entscheidende Weichenstellung bevorstand. In Damaskus herrschte nach dem Sturz Saddam Husseins die letzte verbliebene Ba’ath-Diktatur, hier traten die Konflikte in der Region besonders deutlich zutage. Hier traf der neue auf den alten Nahen Osten, mit direkten Auswirkungen auf die Nachbarstaaten.
Aus dem Konflikt in Syrien ist daher schnell ein komplexer Stellvertreterkrieg geworden. Dabei hat die Zurückhaltung des Westens und vor allem der US-amerikanischen Regierung eine nicht weniger unheilvolle Rolle gespielt als die militärische und politische Unterstützung des syrischen Regimes durch Russland, Iran und ihre Verbündeten. Weitere regionale Akteure wie die Golfstaaten und die Türkei haben indirekt interveniert und Jihadisten konnten die entstandenen Freiräume nutzen; sie sind nun ein Machtfaktor in Syrien geworden – sie waren es zu Beginn des Konflikts nicht.
Der August 2013 mit dem Giftgasangriff bei Damaskus, dem vermutlich über 1 000 Menschen zum Opfer fielen und auf den Europa und die USA nicht reagierten, war ein Wendepunkt. Für kurze Zeit, als ein Militärschlag der USA wahrscheinlich schien, verfiel das syrische Regime in Panik, bis klar wurde, dass die westlichen Staaten dem weiteren Geschehen tatenlos zusehen würden. Die Armee Bashar al-Assads konnte nun nicht zuletzt durch die direkte Intervention der Hizbollah und mit iranischer Waffenhilfe die Situation für sich nutzen und ihre Positionen festigen. Das heißt aber nicht, dass ein militärischer Sieg Assads, wie er schnell bei Erfolgsmeldungen des Regimes in der westlichen Presse herbeianalysiert wird, auch nur annähernd möglich wäre. Es geht allein darum, den Krieg in die Länge zu ziehen und zu brutalisieren, langfristige politische, militärische oder ökonomische Erfolgsaussichten hat Assad nicht.
Paradoxerweise hat das Regime allerdings durch seinen Giftgaseinsatz internationales Renommee gewonnen, es gilt wieder als Partner, nun bei der Giftgasvernichtung. Assad hat auf diese Weise etwas Singuläres vollbracht: Er hat es, rund 100 Jahre nach dem Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg, als erster geschafft, diese Massenvernichtungswaffe politisch nutzbringend einzusetzen.
Da man sich im Westen entschieden hat, den Konflikt in Syrien als scheinbar unabwendbares Schicksal zu betrachten, bleibt der Blick auf eine Katastrophe: Die Dynamik des Kriegs lässt sich an den Flüchtlingszahlen ablesen; innerhalb des Jahres 2012 stiegen diese von ein paar tausend auf fast eine halbe Million an, im April 2013 überschritt die Anzahl der von der Uno registrierten syrischen Flüchtlinge bereits die Millionengrenze, ein halbes Jahr später waren es schon zwei Millionen. Die Zahl steigt weiter, bis Mitte November sind wieder 200 000 dazugekommen; und das sind nur die im Ausland registrierten Flüchtlinge, nach Schätzungen der Uno kommen dazu über vier Millionen Syrerinnen und Syrer, die der Krieg aus ihren Wohnungen vertrieben hat, die aber im Land geblieben sind.
Die Lage der syrischen Flüchtlinge, die in der internationalen Berichterstattung bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit erfährt, droht auch die politische Situation in den Aufnahmeländern weiter zu verschlechtern. Die Türkei und Jordanien haben jeweils über eine halbe Million Syrer aufgenommen, im Libanon mit seinen rund 4,5 Millionen Einwohnern halten sich nach offiziellen Angaben mehr als 800 000 Syrer auf. Die fünftgrößte jordanische Stadt ist mittlerweile das in der Wüste gelegene Flüchtlingslager Zaatari, das zeitweise bereits über 200 000 Flüchtlinge zählte.
Das Auftreten von Krankheiten wie Kinderlähmung, Masern und Typhus überrascht in dieser Situation genauso wenig wie die einzig bemerkenswerten europäischen Reaktionen auf den Krieg in Syrien: der Bau von Grenzanlagen und die noch bessere Überwachung des Mittelmeers. Die überlebenden Opfer des Giftgasangriffs vom August haben weiterhin keinen Zugang zu medizinischer Hilfe; sie leben in den Gebieten rund um Damaskus, die einer Hungerblockade und ständigen Boden- und Luftangriffen der Armee Assads unterliegen. Insgesamt, so die Schätzung, befinden sich, je nachdem, von welcher Bevölkerungszahl man ausgeht, mindestens ein Viertel, vielleicht aber auch ein Drittel aller Syrerinnen und Syrer auf der Flucht. Welche anderen politischen oder militärischen Handlungen hätten ein verheerenderes Ergebnis bringen können?