Rußland: Neofaschistischer Überfall und Polizeirazzia gegen Migranten
Rund 1000 russische Faschisten haben am Sonntag auf einem von Migranten aus Zentralasien betriebenen Großmarkt im Moskauer Stadtteil Birjulowo ein Pogrom veranstaltet. Unter der Parole »Rußland den Russen« verprügelten sie Beschäftigte, warfen Rauchbomben, kippten Autos um und zerschlugen Fensterscheiben. Als die Polizei erschien, warfen die Faschisten Flaschen, Steine und Abfallkörbe auf die Beamten. Knapp 400 der Randalierer wurden festgenommen; auch die berüchtigte Sonderpolizei OMON war im Einsatz.
Am Montag morgen schob die Polizei dann eine Aktion gegen »illegale« Arbeitsmigranten nach. Im Umfeld eines anderen Großmarkts wurden nach Agenturmeldungen mindestens 1200 Migranten festgenommen; es seien Waffen und große Mengen an Bargeld sichergestellt worden, teilte die Polizei mit.
Auslöser der Randale gegen die Migranten war der Mord an einem jungen Russen am vergangenen Donnerstag. Er war von einem unbekannten Täter erstochen worden, als er seine Verlobte vor Belästigungen schützen wollte. Der Täter ist flüchtig; nach einem veröffentlichten Foto der Überwachungskameras wird vermutet, daß es sich um jemanden aus dem Kaukasus oder Zentralasien handeln könnte. Die Polizei hat für die Ergreifung des Täters die außerordentlich hohe Belohnung von einer Million Rubel (ca. 23000 Euro) ausgesetzt.
Der Anlaß für die Ausschreitungen ist aber im Grunde beliebig. In der russischen Hauptstadt herrscht seit Jahren ein Klima von Haß und Ausgrenzung gegen Migranten. Es hat mehrere Grundlagen: die tiefste ist die Verunsicherung der russischen Gesellschaft durch den tschetschenischen Separatismus und seine terroristischen Weiterungen. Diese Stimmung hat sich im Zuge des zweiten Tschetschenien-Krieges radikalisiert. Präsident Wladimir Putin schraubte durch rigoroses Vorgehen gegen wirkliche und vermeintliche Terroristen im Nordkaukasus seine Popularitätswerte nach oben; es ist Rußland aber nur oberflächlich gelungen, die Situation dort zu befrieden. Vor dem Hintergrund dieser Verunsicherung sind nach allen Umfragen die Bewohner der an Tschetschenien angrenzenden russischen Teilrepublik Dagestan von allen Migranten die unbeliebtesten.
Die zweite Ebene der Fremdenfeindlichkeit ist eine ins Rassistische transformierte soziale Verachtung von Migranten durch die Bewohner der vergleichsweise wohlhabenden russischen Hauptstadt. Vermutlich Hunderttausende – denn niemand zählt sie – Migranten aus dem Kaukasus und den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens machen die Drecksarbeit als Straßenfeger, Putzhilfen, Bauarbeiter, Lastenträger usw. Sie verdienen auch für russische Verhältnisse extrem wenig, haben meist keinen legalen Aufenthaltsstatus und sind dadurch in besonderer Weise durch Arbeitgeber und Polizei erpreßbar. Daß manche auch in die Klein- oder größere Kriminalität abwandern, ist nicht erstaunlich. Da die Wohnverhältnisse der Migranten in überbelegten Wohnungen oder Kellerlöchern prekär sind, fällt es »weißen« Russen leicht, sich die Migranten als dreckig und verkommen vorzustellen, was wiederum die Verachtung potenziert. Auf der anderen Seite herrscht eine latente Furcht vor Migranten: seit Jahren werden die Russen mit einer familienpolitischen Daueragitation beschallt, wonach die »Slawen« ausstürben und die »Schwarzen« durch ihre höheren Geburtenziffern das Land zu majorisieren drohten. Der Rassismus von oben dieser Kampagne für mehr »russische« Kinder läßt gelegentliche Bekenntnisse von Politikern zu der Tatsache, daß Rußland ein Vielvölkerstaat ist, in den Hintergrund treten. Wahlen sind damit jedenfalls nicht zu gewinnen. Ebenso wenig mit einer geregelten Einwanderungspolitik, die Migranten einen gesicherten Rechtsstatus verliehe. Denn sie würde gleichzeitig deren ökonomische Diskriminierung erschweren und liegt so nicht im Interesse der Mehrheitsbevölkerung, ob diese nun Baufirmen betreibt oder nur eine billige Kinderfrau sucht. So kommt es, daß auch die liberale Opposition, die sich auf das gutsituierte großstädtische Bürgertum stützt, in der Migrationspolitik keinen Gegenstandpunkt zum Alltagsrassismus der kahlgeschorenen Jungs aus den Vorstädten entwickelt.
Quelle: http://www.jungewelt.de/2013/10-15/021.php