Aktuelle und hängige Vorfälle in Winterthur, Zürich und Aarau zeigen: In der Schweiz sind Polizei- und Justizapparate auf Gemeinde- und Kantonsebene eng verflochten. Unabhängige Untersuchungsinstanzen für Gewalt von Polizeibeamten fehlen.
Treffen mit Angela D. in einer Parterrewohnung in einem Aussenquartier Winterthurs. Die Neunzehnjährige hat im Sommer die Matura gemacht und arbeitet derzeit als Praktikantin. Was sie nach dem Zwischenjahr studieren möchte, darüber hat sie sich natürlich Gedanken gemacht: Psychologie oder Fotografie. Am Abend des 21. September rückt ein Gummigeschoss einen dieser Berufswünsche in weite Ferne. Mit ihrem linken Auge wird sie nie mehr richtig sehen können.
Mit einer friedlichen Tanzdemo gegen die Stadtentwicklung Winterthurs und die Sparmassnahmen ein Zeichen zu setzen, fand sie originell. «Dass dem Spardiktat auch günstige Ferienprogramme für Kinder aus armen Familien zum Opfer fallen, finde ich daneben», sagt sie. Und so nahm sie zum ersten Mal in ihrem Leben an einer Kundgebung teil. Sie tanzte friedlich in der Menge auf dem Platz vor dem Salzhaus, als die Polizei gegen die Tanzdemo vorrückte (siehe WOZ Nr. 39/13). «Es waren vielleicht fünf Leute, die zwischen dem Polizeikordon und den Tanzenden standen und Zoff suchten. Die Polizei hätte die doch problemlos aus dem Verkehr ziehen können. Aber offensichtlich verstand sie diese Aktion als Signal, gegen uns alle vorzugehen. Sie spritzte mit dem Wasserwerfer direkt in den Soundwagen. Panik brach aus. Ich flüchtete mit meinen Freunden sofort Richtung Bahnhofplatz, es war der einzige mögliche Fluchtweg.» Aber der war ebenfalls abgeriegelt. Sie waren eingekesselt. Auch von dieser Seite rückte die Polizei vor. Also versteckte sich Angela D. zwischen zwei parkierten Autos.
Und dann geschieht, was sie nicht für möglich gehalten hätte: Ein Gummigeschoss prallt in ihr linkes Auge. Angela D. geht zu Boden und schreit. Das ist um 22.45 Uhr. «Ich stand unter Schock.» FreundInnen bringen sie zunächst in ein Gebäude. Ein Kollege ruft die Ambulanz. Die aber sagt, da sei wohl kein Durchkommen. Taxis und Busse sind keine zu finden in der abgeriegelten Innenstadt. Also machen sie sich zu Fuss auf ins Spital. Durch eine Polizeisperre kommt die schwer am Auge verletzte Frau nur mit Mühe, nachdem sich eine Kollegin lautstark für sie eingesetzt hat. Um 23.28 Uhr nimmt das Spital Angela D. auf. Am nächsten Tag wird sie ins Universitätsspital Zürich eingewiesen und fünf Tage später operiert. Der Sehkraftverlust auf dem verletzten Auge beträgt über achtzig Prozent. Der Sehnerv wird für immer geschädigt bleiben.
Stadträtin geht in Deckung
Und wie reagierten Polizeikommandant Fritz Lehmann und Stadträtin Barbara Günthard-Maier, die für den Polizeieinsatz verantwortlich sind, als die Medien über die schwere Verletzung der neunzehnjährigen Winterthurerin berichteten? Zunächst gar nicht. Es verstrichen zehn Tage. Polizeikommandant Lehmann behauptete gegenüber dem «Tages-Anzeiger», die Polizei habe erst mehr als eine Woche später davon erfahren.
Sehr früh davon erfahren haben muss jedenfalls Fritz Lehmanns Chefin Barbara Günthard-Maier. Florian S., ein Kollege von Angela D., hatte am Montag nach der Tanzdemonstration die Stadträtin per Facebook mit deutlichen Worten auf den Vorfall hingewiesen und ihr eine Fotografie vom verletzten Auge geschickt. Wie ein Screenshot belegt, wurde diese Nachricht auf Günthard-Maiers Account als gelesen zur Kenntnis genommen.
Die WOZ hätte die FDP-Politikerin gern mit diesem Sachverhalt konfrontiert. Michael Scholz, der stellvertretende Informationschef der Stadtverwaltung, wehrt ab: «Bis zum Abschluss von internen Untersuchungen werden sich weder Stadträtin Günthard-Maier noch die Polizei zu den Vorfällen um die Tanzdemo äussern.»
Die Stadträtin taucht ab, geht in Deckung. Dass ihr frühes Wissen um die schwere Verletzung der jungen Frau ebenfalls Gegenstand der polizeiinternen Untersuchungen sein wird, ist nicht anzunehmen.
Besuch vom Kommandanten
Als der Polizei allerdings zu Ohren kam, dass Angela D. Medien Interviews gab, meldete sie sich unverzüglich bei der Winterthurerin. Polizeikommandant Lehmann werde sie besuchen. «Er hat Schokolade mitgebracht, sich entschuldigt und gesagt, ein solcher Fall dürfe nicht passieren. Der Vorfall werde untersucht.»
Ein Interview mit dem Polizeikommandanten ist derzeit ebenfalls nicht möglich. Bianca Lussi, Mediensprecherin der Stadtpolizei Winterthur, bestätigt lediglich: «Es laufen bei den beteiligten Korps der Kantons- und Stadtpolizei polizeiinterne Untersuchungen. Vorderhand werden die Einsätze analysiert.»
Sofern Behörden Fehler begehen, besteht offensichtlich keine Verdunkelungsgefahr. Unabhängige Untersuchung? Fehlanzeige. Die Polizei untersucht sich vorderhand selbst. Sie und die zuständige Stadträtin stehen unter Druck. Nicht nur vonseiten der KundgebungsteilnehmerInnen. Deren Tenor lautet unisono: Der Einsatz sei provokativ und aggressiv gewesen und habe erst die Eskalation ausgelöst. Auch politisch wird Druck gemacht: Die SP bereitet einen Vorstoss im Stadtparlament vor, der die Veröffentlichung der Einsatzpläne fordert. Das sagt Winterthurs Juso-Präsident Nyima Tsering. Ausserdem sorgt die (bewilligte) Kundgebung «Freiräume statt Albträume» am kommenden Samstag, 12. Oktober, dafür, dass die Sache nicht unter den Tisch gekehrt wird. Mit Konzerten, Reden und einer Kollekte für Angela D. Als Organisatorin zeichnet die Juso. Sie fordert als Konsequenz aus der Eskalation den Rücktritt von Stadträtin Günthard-Maier und Polizeikommandant Lehmann.
Während des Polizeieinsatzes an der Tanzdemo Ende September wurden vier KundgebungsteilnehmerInnen verletzt, neben Angela D. erlitten zwei junge Männer ebenfalls Verletzungen im Augenbereich, ein Juso-Mitglied verbrachte wegen einer Gehirnerschütterung einige Tage im Spital, ein Polizist wird auf einem Ohr taub bleiben, unter den Verletzten befindet sich auch ein Feuerwehrmann.
Angela D. hat sich einen Anwalt genommen. Sie möchte, dass der «unverhältnismässige» Polizeieinsatz lückenlos aufgeklärt wird und sie Schadenersatz erhält. Mit ihrem Anwalt bereitet sie eine Strafanzeige vor. Ihr Verhältnis zur Polizei, das vorher «neutral» gewesen sei, ist ein anderes: «Jetzt bin ich sehr misstrauisch.»
Asymmetrische Auseinandersetzung
Wer es mit Polizeigewalt zu tun bekommt und sich mit Strafanzeigen dagegen wehrt, hat einen schweren Stand. Denn wer Ordnungshüter anzeigt, legt sich in der kleinräumigen Schweiz auf Gemeinde- und Kantonsebene mit einem eng verflochtenen Apparat an. Es ist eine asymmetrische Auseinandersetzung. Untersuchungsrichterinnen, Staatsanwälte und Gerichte arbeiten eng mit der Polizei zusammen. Die Gewaltenteilung funktioniert wegen der Nähe und der personellen Verflechtung nur bedingt. Wenn, wie jetzt in Winterthur, der Polizeiapparat sich selbst untersucht, sind Absprachen vor der Beweisführung leicht möglich. Der Rechtsstaat, der das Individuum vor der Staatsmacht schützen sollte, stösst in solchen Fällen auf den unteren Ebenen der Justiz immer wieder an seine Grenzen (vgl. «Polizeilich geschützte FundamentalistInnen» im Anschluss an diesen Text).
Strafanzeigen gegen PolizistInnen sind selten von Erfolg gekrönt. Die Justiz behandelt solche Anzeigen bloss widerwillig. Nichteintreten und Einstellung der Verfahren sind häufig. Beispielhaft dafür steht der öffentlich gut dokumentierte Fall des Zürcher Pressefotografen Klaus Rózsa. Als er am 4. Juli 2008 einen Polizeieinsatz beim besetzten Hardturmstadion gegen ein Fest der BesetzerInnen dokumentieren will, hindert ihn die Polizei nicht nur bei seiner Arbeit als Journalist und verletzte damit die Pressefreiheit, sie unterzieht ihn unrechtmässig einer Personenkontrolle, verhaftet und verletzt ihn. Rósza erstattet Anzeige. Auch die Polizei zeigt den Fotografen an. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren wegen Amtsmissbrauch, Nötigung, Freiheitsberaubung und Körperverletzung ein. Das Bezirksgericht verurteilt Rósza hingegen wegen Gewalt und Drohung gegen zwei Stadtpolizisten und mehrfacher Hinderung einer Amtshandlung (weil er sich gegen seine Verhaftung wehrte).
Das Zürcher Obergericht hat das Urteil gegen Rósza kürzlich aufgehoben – die Personenkontrolle eines Journalisten bei seiner Arbeit sei «nicht angebracht» gewesen. Und auch das Bundesgericht hat in dieser Angelegenheit gesprochen: Es hat die Einstellung des Verfahrens gegen die Polizisten aufgehoben und die Staatsanwaltschaft angewiesen, entweder einen Strafbefehl zu erlassen oder die Untersuchungsergebnisse zu ergänzen und Anklage gegen die Stadtpolizisten zu erheben. Die Angelegenheit hat insgesamt fünf Jahre in Anspruch genommen – Klaus Rósza musste mehrere Zehntausend Franken aufbringen, um zu seinem Recht zu kommen.
Der Weg über die Gerichte steht formal allen offen. Aber BürgerInnen, die ihn einschlagen, sollten über gute AnwältInnen, Nerven, Zeit und ausreichend finanzielle Mittel verfügen – und bereit sein, bis vor Bundesgericht zu gehen. Ein hohes Abschreckungspotenzial für alle, die ihre Rechte wahren möchten. Das ist keine Einschätzung polizeifeindlicher Kräfte. Der Ausschuss gegen Folter der Vereinten Nationen forderte im Jahr 2010, «dass in jedem Kanton eine unabhängige Instanz geschaffen wird, die befugt ist, sämtliche Anzeigen wegen gewalttätiger Übergriffe oder Misshandlungen durch die Polizei entgegenzunehmen und die Vorwürfe rasch, gründlich und unparteiisch zu untersuchen». Eine Lösung wären SonderstaatsanwältInnen, die nicht mit dem Justizapparat vor Ort verbandelt sind. Geschehen ist seither in dieser Sache nichts. Immerhin gibt es in mehreren Kantonen und Städten parlamentarische Ombudsstellen, so in den Kantonen Zürich, Basel-Stadt, Baselland, Waadt und Zug sowie in den Städten Zürich, Bern, Winterthur und St. Gallen.
Eingeschränkte Bewegungsfreiheit
Grundrechte wie die Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum sind in der Schweiz längst keine Selbstverständlichkeit mehr, sobald sich die Obrigkeit gestört fühlt. Die vor allem von Freisinnigen angestossene Regulierungswut gegen die individuelle Freiheit (Videoüberwachung, Littering et cetera) schränkt schleichend die Grundrechte ein und tritt die Eigenverantwortung mit Füssen. So kann die Polizei mittlerweile in diversen Kantonen und Städten Rayonverbote und Wegweisungen gegen unliebsame Personen wie Randständige, Dealer oder Fussballfans erwirken. In der Stadt Zürich ist die Wegweisung seit ihrer Einführung im Jahr 2009 weit über zehntausend Mal verfügt worden. In neue Dimensionen stiess die Stadtpolizei Zürich am 1. Mai 2011 vor. Sie wies im Vorfeld des 1. Mai darauf hin, dass Personen, die sich im Gebiet Kanzleiareal/Helvetiaplatz aufhalten sollten, weggewiesen werden könnten. Und sie machte ihre Ankündigung wahr: Sie verhaftete unabhängig von einem allfälligen konkreten Vergehen präventiv über 500 eingekesselte Personen, hielt sie stundenlang auf dem Polizeiposten fest und erliess Wegweisungen und Rayonverbote. Stadtrat und Polizei erklärten ein ganzes Stadtgebiet zur Sperrzone. Das «Vergehen»: Aufenthalt in einer sogenannten Problemzone. Verhaftet wurden auch Personen, die sich einer Wegweisung nicht widersetzten.
Ein Dutzend Betroffene hat dieses Vorgehen nicht auf sich beruhen lassen und sich zu einem Kollektiv zusammengeschlossen. Die fünf Rekurse (drei gegen die Kantonspolizei, zwei gegen die Stadtpolizei) sind bisher von allen Instanzen abgewiesen worden, obwohl die Polizei keinem der Betroffenen ein Vergehen oder Gewaltbereitschaft nachweisen konnte: Das Verwaltungsgericht hat bereits drei Rekurse abgeschmettert, sie sind nun vor Bundesgericht hängig. Zwei Rekurse sind beim Statthalteramt Zürich hängig. Das Kollektiv kann auch finanziell auf breite Unterstützung zählen. Dank Soliaktionen und Zuwendungen von Organisationen musste es bisher keinen Franken aus der eigenen Tasche bezahlen. Mit diesen Rekursen möchte das Kollektiv im besten Fall erreichen, dass eine derartige Polizeistrategie bei ähnlichen Grossanlässen im öffentlichen Raum nicht mehr zur Anwendung kommen kann.
Quelle: http://www.woz.ch/1341/gewaltentrennung/polizei-ausser-kontrolle