Nicht das schwächste Glied

Köln, 31. August 1986. Ein Anschlag zerstört das Gebäude des Bundesverwaltungsamtes in der Barbarastrasse. In einem Bekennerschreiben der »Revolutionären Zellen« heißt es: »Im Ausländerzentralregister beim Bundesverwaltungsamt in Köln ist das gesamte Herrschaftswissen über alle Nichtdeutschen, die in der BRD ›aufhältig‹ sind oder es jemals waren, in einem gigantischen Pool konzentriert (…) Das Ausländerzentralregister ist ein rassistisches und totalitäres Register. Es muss deshalb weg.«

Berlin-Wedding, 18. Juli 2013. Unbekannte lassen sich in das Rathausgebäude in der Müller­straße einschließen. Sie hebeln die Türen zweier Büros auf, in denen über Geld- und Sachleistungen für Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge entschieden wird, und legen Feuer. Um 19.56 Uhr wird die Feuerwehr alarmiert. Als sie den Brand gelöscht hat, sind 1 000 Akten verkohlt, 200 völlig zerstört.

Gleiche Aktion, gleiche Stoßrichtung. Doch während es in den achtziger Jahren in Deutschland zwar Flüchtlinge, aber keine Flüchtlingsbewegung gab, ist es heute schwierig, den Überblick über die Proteste von Asylsuchenden und Geduldeten zu behalten. Durststreikende »Non-Citizens« in München; aus Ungarn weiter geflohene »Dublin II«-Fälle in Karlsruhe; Hungerstreik in Eisenhüttenstadt; Afrikaner, die von Lampedusa aus nach Hamburg gekommen sind und wochenlang dort in den Straßen campieren; von Abschiebung bedrohte Roma auf bundesweiter Protesttour; Kämpfe der Bewohner von ostdeutschen Flüchtlingsheimen wie Marken und Bitterfeld.

Einen Schub erfuhr die Bewegung im Frühjahr vergangenen Jahres, als erstmals Iranerinnen und Iraner in Nordbayern mit der »Refugee Tent Action« auf die Straße gingen. Die Forderungen der Flüchtlingskämpfe sind seit den neunziger Jahren die gleichen, die Formen sind jedoch ­andere.

Die Bewegung hat sich de-ethnisiert. Frühere Flüchtlingskämpfe waren häufig das Projekt einzelner Exil-Communities, die sich angesichts ihres je eigenen, nationalen Verfolgungsschicksals zusammenschlossen. Sie übten Solidarität vor allem untereinander und kritisierten die Verharmlosung der Regime in ihren Herkunftsländern durch den deutschen Staat. Oppositionelle Exilparteien spielten dabei eine große Rolle: Sie kämpften entweder für das Bleiberecht einzelner Personen oder forderten einen Abschiebestopp. Ein Versuch, ethnische Trennlinien angesichts drohender Abschiebung zu durchbrechen, war die Geburt des Netzwerks »Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen« im Jahr 1998.

Dieser Prozess ging einher mit einem Bedeutungsverlust formaler Organisierung. Während Bleiberechtskämpfe sich lange Zeit auf einzelne Gruppen konzentrierten und oft langwierig in Bündnistreffen mit deutschen Linken vorbereitet wurden, kommt es in den letzten zwei Jahren eher eruptiv zu Aktionen.

Die veränderte Abschiebepraxis dürfte dazu beigetragen haben. Aufgrund der Dublin-II-Verordnung wird heute schneller innerhalb Europas zurückgeschoben, als dies früher bei Abschiebungen direkt in die Heimatländer der Fall war. Die Fluktuation in den Heimen ist größer, die Aufenthaltsdauer in Deutschland kürzer, eine langfristige Organisation wird damit schwieriger. Gleichzeitig ist die Notwendigkeit, sich schnell und effektiv gegen Dublin-II-Abschiebungen zu wehren, größer geworden: Rechtsmittel stehen kaum zur Verfügung, die Frist, bis etwa ein Iraner nach Ungarn oder Italien zurückgeschickt wird, ist oft viel kürzer als die Zeit, die früher verging, bis eine Abschiebung ins Heimatland wirklich stattfand.

Das erklärt auch die Radikalisierung der Proteste. Den Hungerstreik als Mittel des Protests gab es auch bei früheren Kämpfen gegen Sachleistungen und Essenspakete, gegen Lagerunterbringung oder Abschiebehaft. Doch nie entschieden sich Flüchtlinge an so vielen Orten für den Hungerstreik wie in den vergangenen 18 Monaten. Der unter Unterstützern umstrittene Durststreik von fast 50 Flüchtlingen in München ist hingegen ein neues Phänomen. Auch in Eisenhüttenstadt zogen in der vergangenen Woche hungerrstreikende Flüchtlinge diese Form des Protestes, der schnell tödlich enden kann, in Betracht.

Während sich das Grenzregime modernisiert hat, scheint die Zeit in vielen Heimen stehengeblieben zu sein. Trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das 2012 Asylsuchenden annähernd gleiche Sozialleistungen wie Deutschen zusprach, leben viele noch immer von Sachleistungen und ohne Arbeitserlaubnis in Heimen, die in erster Linie dazu dienen, den Bewohnern die Lust am Leben in Deutschland zu nehmen. Seit den neunziger Jahren haben die Kämpfe in diesen Heimen eine Reihe von Experten in eigener Sache hervorgebracht, die vertraut mit dem deutschen Recht und erfahren als Campaigner sind. Von ihnen profitieren die nun an Orten wie Bitterfeld oder Eisenhüttenstadt aufkeimenden Kämpfe, bei denen sich frisch politisierte Flüchtlinge mit langjährig Aktiven treffen und so den Aktionen auf Anhieb eine Durchschlagskraft verleihen, die die Bewegung in ihrer Frühzeit kaum je erreicht hat.

Linke Protestbewegungen sind in den vergangenen Jahren pragmatischer geworden. Bei der Flüchtlingsbewegung kann hingegen von einer Entideologisierung keine Rede sein. Weder in ihrer frühen Phase noch im derzeitigen Zyklus verzichtete sie auf eine internationalistische Grundierung und Kapitalismuskritik. Die Forderungen der Flüchtlinge sind teils pragmatisch, aber sie argumentieren in aller Regel nicht auf rechtspositivistischer Ebene (»Der Staat muss sich an seinen eigenen Gesetze halten und deshalb netter zu uns sein«). Das Motto der Karawane lautete: »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört.« Auch die »Non-Citizens« erklären, wie sie ihre Aktionen politisch verstanden wissen wollen: »Wir sind nicht das schwächste Glied in der Gesellschaft, sondern die unterste Schicht der Arbeiterklasse«, sagte etwa der Iraner Arash Dosthosseini nach dem von der Polizei unterbundenen Durststreik von Flüchtlingen in München Anfang Juli. Er sei im Iran mit Geräten aus Deutschland gefoltert worden: »Wenn Deutschland Waffen in alle Welt exportiert, muss es darauf gefasst sein, dass Betroffene hierher kommen, die unter menschenwürdigen Bedingungen leben wollen.«

Quelle: http://jungle-world.com/artikel/2013/30/48140.html

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