Die Arbeiterinnen und Arbeiter einer Baustoff-Fabrik im Norden Griechenlands haben sich zur Selbstverwaltung entschlossen und sind schnell auch im Ausland zum Symbol der Selbstorganisation gegen die Krise geworden. Ein Besuch bei VIO.ME.
Das Gelände der Firma Philkeram liegt mitten in einem scheinbar verlassenen Industriegebiet am Rande von Thessaloniki. Das verrostete Schild mit der Aufschrift »AG Viomichaniki Metaleftiki« ist nur mit Hilfe einer komplizierten Wegbeschreibung zu finden. Ein Werkstor ist nirgendwo zu sehen. Die Arbeiter, die am Tor von Philkeram stehen, erklären dann endlich, es sei ein zusätzlicher Eingang errichtet worden, der sich auf der anderen Seite des Geländes befinde. Doch das Tor auf dem verlassenen Parkplatz ist geschlossen. Nach einem Anruf geht es aber auf, das Ziel scheint erreicht zu sein.
»Da seit ihr ja endlich! Es ist nicht einfach, uns zu finden, oder?« begrüßt uns ein Arbeiter, der eine blaue Jacke mit der Aufschrift VIO.ME trägt. Alekos ist der Kassenwart der Basisgewerkschaft der Fabrik, wir haben ihn beim Generalstreik am 20. Februar auf der Solidaritätsversammlung in Thessaloniki kennengelernt. Stolz erzählt Alekos, die Arbeiterinnen und Arbeiter hätten das Tor selbst errichtet, »um vom Rest des Geländes, das eigentlich dem Mutterkonzern Philkeram-Johnson gehört, unabhängig zu sein«.
Die 1982 gegründete Fabrik Viomichaniki Metaleftiki, heute allgemein bekannt unter dem Namen VIO.ME, war eine von drei Tochterfirmen der Keramikfirma Philkeram, die der Familie Filippou gehört. VIO.ME stellte chemische Baumaterialien wie etwa Fugenkleber für den Bausektor her. Die Fabrik lieferte Produkte nach ganz Griechenland und ins benachbarte Ausland – und zählte 2006 noch zu den 20 erfolgreichsten Unternehmen Nordgriechenlands. Doch von einem Tag auf den anderen tauchten die Besitzer einfach ab und im Mai 2011 meldete die Familie Filippou Konkurs an. Die Arbeiterinnen und Arbeiter reagierten mit wiederholten 48stündigen Streiks und organisierten Vollversammlungen. Für sie war klar, dass sie ihren Arbeitsplatz nicht verlassen würden. Bereits in den ersten Vollversammlungen wurde über Möglichkeiten der Selbstverwaltung diskutiert. Diese Lösung wurde dann mit 97 Prozent der Stimmen angenommen und die Vollversammlung zum höchsten Gremium erklärt. Seitdem halten die Arbeiterinnen und Arbeiter die Fabrik besetzt und bewachen sie, damit die Eigentümer nicht auf die Idee kommen, die Maschinen oder sonstiges Material zu entwenden.
Es ist schon spät am Nachmittag, das Ende der Schicht. Die versammelte Mannschaft steht da. Auch ein Kamerateam aus Spanien ist gerade in der Fabrik unterwegs. Makis, der Vorsitzende der Arbeitsgewerkschaft des Betriebs, ruft in die Menge: »Leute, es gibt Kekse für alle!« und schon beginnt die Tour durch die Fabrik. Stolz erzählt er, er sei gerade aus Wien zurückgekommen, wohin er und andere Kollegen eingeladen worden waren, um über die besetzte Fabrik zu berichten. »Es werden weitere Reisen folgen. Die Resonanz der Besetzung ist riesig«, sagt er, während er die ersten Maschinen zeigt. »Damit mischen wir das Zeug, das zum Kleber wird. Mit der nächsten Maschine packen wir die Ware ein.«
Was vor zwei Jahren noch als Utopie galt, ist für die Arbeiterinnen und Arbeiter von VIO.ME zum Alltag geworden. Seit vergangene September ist das Arbeitslosengeld – rund 360 Euro – ausgelaufen. Fast zwei Jahre lang war ihnen kein Lohn ausgezahlt worden. Eine Erfahrung, die sie mit vielen anderen Arbeiterinnen und Arbeitern in Griechenland teilen. Aber sie haben gemeinsam reagiert und finanzieren sich seitdem kollektiv durch Essens- und Geldspenden. Noch können sie sich den erhofften Lohn nicht auszahlen, sondern teilen alles unter sich, je nach Notwendigkeiten: »Meine Frau verdient noch etwas Geld, bei anderen Kollegen gibt es dagegen gar kein Einkommen mehr in der Familie. Diese bekommen daher zuerst Geld aus der gemeinsamen Kasse«, erläutert Makis die Prinzipien, nach denen der Kollektivbetrieb organisiert ist.
Ursprünglich beschäftigte die Firma etwa 80 Menschen; heute versuchen 38 von ihnen, die alle Mitglieder der unabhängigen Gewerkschaft von VIO.ME sind, die Produktion und damit auch ihr eigenes Leben selbst in die Hand zu nehmen. Manche aus der Entwicklungs- und Büroabteilung, »die den Eigentümern näherstanden«, hätten sich nicht getraut, sich anzuschließen, erzählt Makis.
Im April vergangenen Jahres nahmen die Arbeiterinnen und Arbeiter zuerst Kontakt zu verschiedenen Kollektiven und Gewerkschaften der Stadt auf. Das große Interesse von verschiedenen Gruppen und Bewegungen, vor allem aus dem anarchistischen und linken Milieu, motivierte die Beschäftigten, den Schritt zur Selbstverwaltung zu wagen. Im Juli fand dann eine Solidaritätsversammlung in Thessaloniki statt. Aus ganz Griechenland erreichten sie weitere Solidaritätsbekundungen. Im Oktober organisierten die Arbeiterinnen und Arbeiter eine Karawane durch verschiedene Städte nach Athen, um ihren Vorschlag einem Berater des Ministers für Arbeit vorzustellen, der sich aber für »nicht zuständig« erklärte. Sie forderten den Erwerb der Aktien des Unternehmens ohne die angehäuften Schulden; eine Subventionierung in Höhe von 1,8 Millionen Euro – zum Teil aus Fonds der Europäischen Union, die das Projekt finanzieren sollen; eine gesetzliche Vorlage, die das Risiko für die Beschäftigten begrenzt, also eine Versicherung, dass sie nicht selbst mit persönlichem Vermögen haften; und schließlich die Rückgabe von 1,9 Millionen Euro an VIO.ME, die an den Mutterkonzern Philkeram ausgeliehen worden waren.
»Unser Vorhaben befindet sich noch in den Startlöchern«, gibt Makis zu. Zuerst sollen die Produkte, die im Lager liegen, zu zwei Dritteln ihres Preises versteigert werden. Ziel dabei sei es, Startkapital zu sammeln, um die teuren Maschinen in Stand zu halten und erste Rohstoffe einzukaufen. »Hier liegen bestimmt noch Waren im Wert von mindestens 400 000 Euro herum«, sagt Makis, als er den Besuchern das beeindruckende Lager zeigt. Diese fertig verpackten Produkte, die die Arbeiterinnen und Arbeiter mit ihren eigenen Händen produziert haben, sollen geöffnet und kontrolliert werden, gleichzeitig sollen Verbesserungsarbeiten an der lange stillgelegten Fabrik vorgenommen werden. Die Kontrolle der Produkte sei von enormer Bedeutung, um »die Qualität zu sichern und das Vertrauen der Kunden zu gewinnen«, sagt Makis, »mittlerweile melden sich Abnehmer aus ganz Griechenland und sogar Gewerkschaften aus dem Ausland haben angekündigt, das Projekt auf diesen Wege finanziell zu unterstützen«. Aber vor allem die alte Kundschaft soll auch angesprochen und neue Beziehungen in den Balkan sollen aufgebaut werden.
Erst in einer zweiten Phase werde man die Maschinen anschalten, um die Produktion zu beginnen. Dazu müssen aber noch einige Hindernisse überwunden werden. Da die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht auf den Staat hoffen können, haben sie zum Beispiel zur NGO Working World Kontakt aufgenommen, die ähnliche Selbstverwaltungsprojekte und Arbeitskooperativen in Argentinien nach dem Bankrott im Jahr 2001 finanziert hatte. Ein bekanntes Mitglied dieser NGO, Ernesto »Lalo« Paret, der die Fabrik in Thessaloniki im Rahmen des jährlichen »Festivals der Direkten Demokratie« besucht hatte, inspirierte die Arbeiterinnen und Arbeiter mit seinen Ideen. So wurde etwa eine Solidaritätskasse geplant, in die drei Prozent des Gewinns einfließen sollen, um ähnliche Projekte in Griechenland zu unterstützen. Etwa 30 Prozent des Gewinns sollen in die Kasse der »Reinvestition« einfließen, um die Produktion zu erweitern, neue Maschinen zu erwerben und weitere Menschen zu beschäftigen.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter von VIO.ME haben auch einen »Plan B« entworfen. Falls das gewünschte Startkapital nicht angesammelt werden kann und die beantragten Subventionen nicht bewilligt werden, also der Zugang zu den Krediten und den Märkten scheitern sollte, soll die Produktion umgestellt werden. Eine Idee ist, sich auf die Herstellung von Produkten für den häuslichen und täglichen Gebrauch zu konzentrieren. Diverse Reinigungsmittel sollen mit dem Know-how aus dem selbstorganisierten Betrieb Thessalonikis in das Netz des Warenaustausches ohne Zwischenhändler integriert werden.
Die Eröffnung der Fabrik Mitte Februar wurde von einer pompösen Feier begleitet. Am 11. Februar, am Vorabend der geplanten Eröffnung, fand eine große Demonstration durch die Innenstadt statt, die im Ivanophio, dem Basketballstadion des Traditionsvereins Iraklis, endete. Etwa 4 000 Menschen füllten die Basketballhalle, wo bekannte griechische Künstler auftraten. Weitere 2 000 Personen, die nicht in die überfüllte Halle hineinpassten, warteten draußen und mussten sich mit dem selbstorganisierten Markt im Vorgelände begnügen.
Fast ein Jahr lang hatte man sich vorbereitet, mit Hilfe der VIO.ME-Solidaritätsversammlung aus Thessaloniki, einer Versammlung, an der die Arbeiter beteiligt sind und die die Initiative von Anfang an begleitet. Vor allem Aktivistinnen und Aktivisten aus den sozialen Bewegungen und anarchistischen Gruppen haben im Projekt der Selbstverwaltung einer großen Fabrik die Möglichkeit gesehen, eine Utopie, die sie nur aus Erzählungen und Büchern kennen, zu realisieren.
Am Tag nach dem Konzert eröffneten die Arbeiterinnen und Arbeiter, in Anwesenheit mehrerer Hundert sich Solidarisierender aus ganz Griechenland und zahlreicher Journalistinnen und Journalisten, das Tor zur Fabrik. Seitdem kommen auch von außerhalb Griechenlands Soldaritätsbekundungen. Wer sich über die Aktivitäten und Debatten rund um VIO.ME informieren und die Beteiligten auch finanziell unterstützen möchte, kann dies über die Seite www.viome.org. Solidaritätskomitees mit der selbstverwalteten Fabrik haben sich von Australien bis in den USA gegründet. Namhafte Intellektuelle wie Naomi Klein und David Harvey unterstützten die internationale Solidaritätserklärung. Im unabhängigen griechischen Magazin Unfollow äußerte sich John Holloway wie folgt: »Die Selbstverwaltung der Fabrik VIO.ME durch die Arbeiter ist eine wichtige Neuigkeit. Die Krise in Griechenland schreit der ganzen Welt zu, dass der Kapitalismus gescheitert ist. Es ist unsere Zeit gekommen, zu übernehmen. Es gibt keinen anderen Weg als den nach vorn.« Der Vorsitzende des Linksbündnisses Syriza, Alexis Tsipras, besuchte die Fabrik am 27. Februar und sicherte den Arbeiterinnen und Arbeitern seine Unterstützung zu.
Die Hoffnung auf Unterstützung vom Staat oder von Dachgewerkschaften haben Makis und seine Kolleginnen und Kollegen so gut wie aufgegeben. Nach mehreren Treffen mit Vertretern des griechischen Staats hätten sie nur »vage Antworten« auf ihre Forderungen bekommen. »Am 21. Januar haben wir sogar den Vertreter des Ministers für Arbeit getroffen«, erzählt Makis. Dieser habe ihnen mit den Worten Mut machen wollen, dass »vielleicht die Verhältnisse reif sind, dass Fabriken in die Hände der Arbeiter gelangen«. Die Antwort der Betroffenen auf die vergebliche Aufmunterung war: »Das sagst du alles sehr schön. Aber wir fangen damit an und setzen genau dieses Vorhaben in die Praxis um.« Keiner von denen habe sich bis jetzt gemeldet, aber »angegriffen wurden wir auch nicht«, sagt Makis lachend.
Die großen Gewerkschaftsdachverbände, die von politischen Parteien kontrolliert werden, haben bislang weder Interesse an der Erfahrung von VIO.ME gezeigt noch gar den Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter aus Thessaloniki als einen Arbeitskampf anerkannt. Zahlreiche Treffen und Interventionen im Gewerkschaftshaus in Thessaloniki sowie die Beteiligung an allen Generalstreiks mit eigener Mobilisierung änderten daran nichts. Nur von unabhängigen Basisgewerkschaften, die sich im Zusammenhang mit der Krise gegründet haben, gibt es Unterstützung.
Nichtsdestoweniger ist das Leuchten in den Augen der Beschäftigten nicht zu übersehen. Trotz aller Anfangschwierigkeiten glauben sie fest an ihre Vision. Aber wie wollen sie als einsame Insel im Kapitalismus überleben? »Hoffentlich entstehen viele solcher Inseln wie unsere, die zu einer Halbinsel werden, die sich weiter entwickelt und vergrößert«, sagt Makis und fügt hinzu: »Wir streben eine Veränderung der Gesellschaft an, ohne Chefs, ohne Unterdrückung.« Den Arbeiterinnen und Arbeitern von VIO.ME ist bewusst, dass ohne die Verbreitung dieser Idee auch ihr Betrieb nicht überleben wird. Direkte Demokratie sei schon immer auf ihren Versammlungen praktiziert worden, »ohne von Castoriadis oder anderen Theoretikern gehört zu haben«, sagt er lächelnd. »Obwohl ich der Vorsitzende der Gewerkschaft bin, haben wir immer alles in der Vollversammlung besprochen und abgestimmt.«
Versuche der Selbstorganisation im Kapitalismus werfen viele Fragen auf. Nicht nur unter den Beteiligten selbst, sondern auch für die Linke und die sozialen Bewegungen. Der Frust nach jahrelangen Protesten ist groß. Wie werden die Menschen auf die andauernde Repression und weitere Austeritätsmaßnahmen reagieren? Schaffen es die Massengewerkschaften, durch die rituellen Generalstreiks, wie jüngst am 20. Februar, die Wut der Menschen zu zügeln? Oder setzen sich offensive Aktionsformen wie wilde Streiks und konkrete Vergesellschaftungsprozesse durch?
Aktionen der einzelnen Gewerkschaften wie Blockaden oder Streiks finden in verschiedenen Sektoren weiterhin statt. Soziale Zentren, Kooperativen und Kollektive entstehen im ganzen Land. Viele Menschen wählen den Weg der Selbstorganisation aus Enttäuschung über die Massengewerkschaften und die Parteien, aber auch aus Alternativlosigkeit und purer Not. Der Ruf nach einem dauerhaften Generalstreik wird lauter. Erst vor einigen Wochen hat die Polizei auf der Grundlage der Notstandsgesetze den Dauerstreik der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Metro, der acht Tage anhielt, gebrochen – ein Präzedenzfall.
Die Inbetriebnahme von VIO.ME kann sich zu einem weiteren, einflussreichen Symbol der Selbstorganisation entwickeln. Das erhoffen sich viele hier – von den anarchistischen Aktivistinnen und Aktivisten, die schon seit Beginn der Krise soziale Zentren und Kollektive aufbauen, bis zu Makis und Alekos, die nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz haben, sondern selbstverwaltet und ohne Vorgesetzte arbeiten wollen, und das am besten in einer ganz anderen Gesellschaft als der jetzigen.