„Port Said, sterbende Stadt“

Die Läden sind zu, die Polizeizentrale brennt, seit Wochen demonstrieren Mursis Gegner. Unsere letzte Option, sagen sie, ist die Blockade des Sueskanals.


Ihre Mienen sind düster. Schweigend stehen die Halbwüchsigen an der Straßenecke herum. Einer rollt seinen Motorroller in die Mitte, dreht die Lautsprecher auf. Korangesänge schallen durch die Gasse im Kuwait-Viertel von Port Said.

Hier lebte Abdulrahman al-Arabi. „Ermordet von der Polizei“, steht auf dem Fotoplakat, das jemand neben einem Laternenpfahl angebracht hat. Mit gegelter Frisur, wie ein Kinoheld die Faust unterm Kinn geballt lächelt der 17-Jährige in die Kamera. In einem Jahr wollte er mit der Schule fertig sein und studieren. Jetzt ist er tot. Vor einigen Tagen hebelten Uniformierte eine schwere Marmorplatte vom Dach des Polizeihauptquartiers herunter auf die Demonstranten. Sie zerschmetterte Abdulrahman den Kopf. Seine Mitschüler haben die Täter anschließend jubeln sehen und mit obszönen Gesten die schockierte Menge unten verspotten.

Seitdem ist die Situation in Port Said vollends eskaliert. Noch in derselben Nacht zündeten Demonstranten den acht Stockwerke hohen Bürokasten an, der nun seit Tagen brennt. Immer wieder facht der Seewind die Flammen an. Rund um den großen Märtyrer-Platz im Stadtzentrum mit seinem Obelisken riecht es nach Tränengas, Rauch und verfaultem Fisch. Immer wieder sind Schüsse und die Sirenen der Krankenwagen zu hören. Ein alter Peugeot rast zu einem nahen Krankenhaus, auf dem Rücksitz einen Mann, den eine Kugel getroffen hat. Er schreit auf vor Schmerz, als ihn die Helfer vom Rücksitz in einen Rollstuhl hieven und eilig im Inneren verschwinden. „Die Armee muss uns helfen, Mursi zu stürzen“, steht auf einem meterhohen Plakat, das von einem Wohnhaus herabhängt.

Das öffentliche Leben steht still

Isayyed al Arabi fallen die Worte schwer. Abdulrahman al-Arabi war sein Sohn. Der 50-Jährige arbeitet normalerweise als Zöllner im Hafen. Noch nie in seinem Leben hat er an einer Demonstration teilgenommen, selbst vor zwei Jahren nicht bei der Revolution gegen Hosni Mubarak. „Mein Sohn war ein Schüler und kein Schläger“, sagt er. Immer wieder habe er ihn beschworen, nicht dorthin zu gehen, vorsichtig zu sein. „Jetzt habe ich Abdulrahman in einem schwarzen Plastiksack zurückbekommen und in einem zweiten Plastiksack sein Gehirn.“ Noch nie habe er Port Said in einem solchen Zustand gesehen, sagt er leise. Er hat Tränen in den Augen.

Seit vier Wochen existiert das öffentliche Leben in der Sues-Stadt praktisch nicht mehr. Lehrer gehen nicht mehr in die Schulen, Banken sind geschlossen, Hafenarbeiter entladen Schiffe nur noch sporadisch, selbst im Amtssitz des Gouverneurs erscheint niemand zur Arbeit. Allein die Durchfahrt der Ozeanriesen durch den Sueskanal funktioniert noch – „bis jetzt für uns eine rote Linie“, sagt ein Koordinator aus den Streikkomitees. Alles andere steht still in dieser Kampagne des „zivilen Ungehorsams“, die sich inzwischen auch auf andere Städte wie Mansoura und Alexandria ausgeweitet hat.

Denn längst geht es in dem Konflikt nicht mehr nur um den fragwürdigen Strafprozess nach dem Massaker im Erstligaspiel zwischen dem Kairoer Klub Al Ahly und Lokalmatador Al Masry vor einem Jahr, als 72 Ahly-Fans im Stadion von Port Said starben. Der Protest hat sich ausgeweitet zu einem immer verbisseneren Aufbegehren von Teilen der Bevölkerung gegen die gesamte Richtung, die das Land unter den Muslimbrüdern eingeschlagen hat.

Die politische Lähmung ist allgegenwärtig, an der Spitze des Staates agiert eine kopflose Regierung unter der Regie eines gleichermaßen machtbesessenen wie überforderten Präsidenten. Die Wirtschaft stagniert, die öffentliche Ordnung zerfällt, die Armut wächst rasant.

In keiner Stadt Ägyptens ist diese post-revolutionäre Mixtur aus Verzweiflung, Ratlosigkeit und Anarchie so präsent wie in Port Said, einst multikultureller Knotenpunkt zwischen Mittelmeer und Rotem Meer. An den Ausfallstraßen und vor Tankstellen hat die Armee Schützenpanzer postiert, umringt von Stacheldraht und Sandsackbarrikaden. In dem abgeriegelten Viertel rund um das Stadtgefängnis, in dem die Massaker-Angeklagte einsaßen, bevor sie weggebracht wurden, sieht es aus wie bei einem militärischen Großmanöver.

Sechs Wochen ist es jetzt her, seit das Kairoer Strafgericht am 26. Januar in einem ersten Urteilsspruch 21 Angeklagte mit dem Tode bestrafte und damit schweren Aufruhr in allen drei Sueskanal-Städten auslöste. Allein in Port Said starben 53 Menschen, zuletzt der 17-jährige Abdulrahman. Am kommenden Samstag sollen nun die Begründungen der Todesurteile folgen sowie die Strafen für die übrigen 54 Angeklagten, darunter neun Polizisten und drei Al-Masry-Vereinsfunktionäre.

Der Tag könnte die öffentliche Ordnung in Ägypten endgültig zum Kollaps bringen. In Kairo setzten Ultra-Fans von Al-Ahly bereits die Privatwohnung im Stadtteil Dokki des früheren Innenministers in Brand, der vor einem Jahr während des Massakers im Amt war. Vor der Villa des jetzigen Innenministers in Nasr City konnte die Polizei die aufgewiegelte Menge nur mit massivem Einsatz von Schlagstöcken vertreiben.

Die Mehrheit in Port Said stimmte nicht für Mursi

Die Gassen des Marktviertels von Port Said dagegen sind wegen der permanenten Straßenkämpfe fast menschenleer. Die Händler sitzen zwischen ihren Waren, neben sich volle Aschenbecher und leere Teegläser. Vor zehn Jahren waren es 10.000 Besucher am Tag, vor einem Jahr noch 1.000 und jetzt kommt niemand mehr, sagen sie. Dekaden ist es her, dass Mahmut Awat Mode aus Italien von der gegenüberliegenden Seite des Mittelmeers im Angebot hatte. Livorno steht immer noch in geschwungenen Buchstaben über seinem Laden, als verblasste Erinnerung aus den siebziger Jahren, als der Handel noch boomte.

„Die Leute müssen Mursi mehr Zeit geben“, meint der 63-Jährige mit weißem Stoppelbart, der sein Geld stets mit Herrenanzügen verdiente. „Das Volk hatte 30 Jahre Geduld mit Mubarak, dann sollte es wenigstens 30 Monate Geduld mit Mursi haben“, sagt er. Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut und fehlende Investitionen ließen sich nun mal nicht über Nacht lösen.

Im letzten Sommer hat er für Mursi gestimmt. Damit gehörte er in Port Said zur Minderheit. Hier gab es keine Erdrutschsiege von Muslimbrüdern und Salafisten wie sonst im Land. In der ersten Runde der Präsidentenwahl votierte die Stadt für den Linkspolitiker Hamdeen Sabbahi, Mursi landete abgeschlagen auf Platz drei. In der zweiten Runde war dann Mubaraks Expremier Ahmed Shafiq vorn. Bei den Parlamentswahlen gingen von den sechs Mandaten der 750.000 Einwohner lediglich zwei an die Muslimbrüder.

„Die Muslimbrüder sollen wissen, Ägypten ist mehr als ihre Muslimbruderschaft. Sie können Ägypten nicht allein regieren“, sagt Mohammed Zakareia, Vizechef der Partei Sozialistische Volksallianz und gleichzeitig Vorsitzender der unabhängigen Lehrergewerkschaft am Ort. Sein Lieblingsplatz ist das El-Fellah-Teehaus, was sich unter alten Kolonnaden aus kolonialer Zeit befindet, die der Mittelmeer-Stadt ihr besonderes Flair geben. Mit allen Streikkomitees steht der 51-Jährige in Verbindung, auch der Belegschaft der Sueskanal-Gesellschaft, die nach dem Zusammenbruch des Tourismus inzwischen der wichtigste Devisenbringer Ägyptens ist. Bisher seien die beiden Häfen und ihre Werften lahmgelegt, erläutert einer der Streikführer, der für einen schnellen Mokka vorbeischaut. Die berühmte Wasserstraße zwischen den Kontinenten zu sperren, das sei bisher tabu, sagt er. Doch sollte das ägyptische Volk sagen, es wolle dieses Regime nicht mehr, sei nichts mehr auszuschließen. „Dann ist die Blockade des Sues-Kanals unsere letzte Option.“

Quelle: http://uprising.blogsport.de/

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