Schützt der Verfassungsschutz die “Hammerskins”?

neonAuch in einem hochgeschätzten Bundesministerium, etwa dem des Innern, gibt es undankbare Jobs: Ende November 2011 blätterten Beamte in alten Verfassungsschutz-Berichten. Was steht eigentlich darin zu Rechtsterrorismus? In vielen Varianten stand darin einfach – nichts. Oder nicht mehr als: “Rechtsterroristische Strukturen waren” – hier eine Jahreszahl einsetzen – “nicht feststellbar.” Ein Textbaustein, den manche Landesämter für ihre Berichte übernommen haben. Die Sachsen waren besonders sparsam mit der Tinte: Nach 2000, dem Jahr des “Blood & Honour”-Verbots, hat man den Terminus “Rechtsterrorismus” einfach nicht mehr benutzt.

Wenn Experten staunen


Im Lichte heutigen Wissens verdutzt das sogar einen abgeklärten Wissenschaftler wie Uwe Backes. Das habe ihn verwundert, sagte der Extremismus-Theoretiker jüngst vor dem NSU-Untersuchungsausschuss im Sächsischen Landtag. Da müsse sich der Verfassungsschutz sehr sicher gewesen sein, wenn er das definitiv habe ausschließen wollen.

Backes setzt sonst nicht auf Staatskritik, doch hier bekam er Zweifel. Einige Wochen vor ihm kritisierte an derselben Stelle der Neonazismus-Forscher Fabian Virchow die Art, wie vor allem das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz die Öffentlichkeit bisher informiert hat: so gut wie gar nicht. Ein “Amtsnarrativ” habe sich da eingefahren. Und zwar seit ungefähr dem Jahr 2000.

Mit dem damaligen Verbot von “Blood & Honour” galt die rechte Skinhead-Szene nämlich als abgehakt, das Problem der Neonazi-Gewalt schien gebändigt. Vor allem die erfolgsheischende Selbstdarstellung der Sicherheitsbehörden vermittelte einen Eindruck, der schon damals inadäquat war und heute als völlig falsch angesehen werden muss. Dieser Eindruck wiegt so schwer, dass er nun an der Legitimität des Inlandsgeheimdienstes rührt: Wenn die Ämter nicht zum “Frühwarnsystem” taugen, gibt es keinen Grund für ihr Bestehen.

Bei der Aufklärung der Mordserie des “Nationalsozialistischen Untergrundes” geht es dabei um ein entscheidendes Detail: Wusste der Verfassungsschutz jahrelang zu wenig – oder hat er Nichtwissen vorgeschützt? Und wer will solche Fragen entscheiden? Die Arbeit der Geheimdienste ist das Hüten von Geheimnissen über alle, die man dort für Verfassungsfeinde hält. Interne Dokumente des Bundesamtes für Verfassungsschutz geben nun aber einen so seltenen wie verstörenden Eindruck, was das konkret heißt.

“Kameradschaften bedeutungslos”


Ende 2000 steht fest, dass dieses Jahr eine Zäsur bedeutete, in mehrerlei Hinsicht: “Blood & Honour” wird aufgelöst und durch den Beginn des NPD-Verbotsverfahrens steht die extreme Rechte vor einem organisatorischen Bruch. Der staatlich orchestrierte “Aufstand der Anständigen” hat begonnen. Und der “Nationalsozialistische Untergrund” (NSU) entzieht sich dem Trubel durch einen Umzug aus der bisherigen B&H-Hochburg Chemnitz ins nicht weit entfernte Zwickau.

Dann, Anfang 2001, geht in Köln eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt ans Werk. Gemeinsam wollten sich die Beamten einen Überblick zu “rechtsextremistischen Kameradschaften” verschaffen. Für den Verfassungsschutz war das Thema tatsächlich etwas Originelles: Das sächsische Landesamt etwa hatte im Jahresbericht für 1997 das Zellen-Konzept für gescheitert und im Folgejahr – als die drei bekannte Mitglieder der “Kameradschaft Jena” Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe als Zelle in den Untergrund gingen – Kameradschafts-Gruppen für bedeutungslos erklärt. Eine überraschende und durchweg falsche Einschätzung.

Zwei Jahre später dominierten, nun zur Überraschung der Behörden, plötzlich mehr als zwei Dutzend Kameradschafts-Gruppen die Szene der extremen Rechten im Freistaat, darunter so berüchtigte wie die militanten, von der NPD unterstützten “Skinheads Sächsische Schweiz” (SSS). Die werden 2001 zwar verboten. Aber Ende des Jahres wird in Limbach-Oberfrohna ungestört die Kameradschaft “Heimatschutz Chemnitz” gegründet. Ganz formell, als eingetragener Verein. Ihrem Schriftführer, dem inzwischen 48-jährigen Ralph Hofmann, wird heute vorgeworfen, dem NSU seinen Personalausweis überlassen zu haben.

100 Kameradschaften “vergessen”


Die Sache mit den Kameradschaften hatte man also, so scheint es heute, wenig im Blick. Aber immerhin: Auf Bundesebene gab einen Versuch, schlechter Prognostik mit einem “gemeinsamen Lagebericht” vorzubeugen. Dazu holte das BfV ab Anfang 2001 die Expertise seiner Landesämter ein, das BKA befragte die Landeskriminalämter. Das BfV legte Ende des Jahres 2001 den Entwurf zu einem eher kargen “Abschlussbericht” vor: 14 Kameradschaften und einige “Aktionsbündnisse” werden namentlich aufgezählt, aber ausgerechnet der “Thüringer Heimatschutz” als “unstrukturierter und als Mischszene zu bezeichnender Personenzusammenhang” hingestellt. Insgesamt zählte der Verfassungsschutz bundesweit 162 entsprechende Gruppierungen.

Das klingt nach viel. Zur selben Zeit wurden auch die Erkenntnisse der Polizei zusammengestellt – sie zählte aber sogar 260 Kameradschaften, hundert mehr als der Verfassungsschutz kennen wollte. Gesamtzahl der Aktivisten: mehr als 1.600, davon fast zwei Drittel schon polizeibekannt. Der Verfassungsschutz kam natürlich auf weniger Personen, aber selbst in seiner Zählung tauchten acht Kameradschafter auf, die dringend verdächtigt wurden oder schon dafür verurteilt waren, Tötungsverbrechen begangen zu haben.

Dennoch sah die Polizei nicht nur in nackten Zahlen auffällig viele Dinge grundlegend anders als die Geheimdienstkollegen: Den “Thüringer Heimatschutz” kannten die uniformierten Beamten im Gegensatz zum Verfassungsschutz als “gefestigte Organisationsstruktur” – die Aktivitäten des THS ließen “eine Zielrichtung erkennen, die gegen Ausländer” gerichtet ist. Die Polizei identifizierte Ralf Wohlleben als Führungsfigur in Jena – sowie Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Diese seien “weiterhin flüchtig”. Ebenfalls abkömmlich sei “aus bekannten Gründen” der bisherige THS-Anführer Tino Brandt.

Brandt war im Mai des Jahres, vor Fertigstellung der Zwischenberichte, als V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes aufgeflogen. Vielleicht – es ist die mildeste Erklärung – mochte dem Bundesamt einfach deshalb so wenig zum THS einfallen.

Beide Zwischenberichte widersprachen sich letztlich in so vielen Punkten, dass daran die “Projektgruppe Kameradschaften” zerbrach. Das Bundesamt bemängelte nachher, viele Gruppierungen, die das BKA recherchiert habe, seien eigentlich keine Kameradschaften. Die Geheimdienstler stellten sich darunter einen gleichfalls geheimbündlerischen, neonazistischen Aktivistenstamm vor. Der sei sorgsam zu trennen von der “subkulturellen Musikszene”, worunter damals ernsthaft auch das militante “Blood & Honour”-Netzwerk rubriziert wurde. Im Zweifelsfall ließ das BfV nur solche Gruppen als Kameradschaften gelten, die das Wort im eigenen Namen führen.

Name des V-Manns wegradiert


Für beide Behörden war das ein unlösbares Dilemma, mit dem das Projekt noch anderthalb Jahre gestreckt wurde, bis im Juli 2003 plötzlich doch ein “Abschlussbericht” der “gemeinsamen Projektgruppe Kameradschaften” vorgelegt wurde. Tatsächlich neu war daran nur das Layout: Das BfV hatte kurzerhand seine alte, seitdem nicht mehr aktualisierte Ursprungsfassung verwendet. Die aktuelleren und umfangreicheren Erkenntnisse der Polizei wurden Zierde fürs Vorwort. Das bei Fertigstellung schon vollständig veraltete Machwerk wurde nie veröffentlicht, sondern gleich in Köln als “Verschlußsache” gestempelt.

Das war einer der wenigen nachvollziehbaren Amtshandlungen in der BfV-Zentrale. Zumal ein detaillierter Textvergleich der Verfassungsschutz-Fassung mit der Zuarbeit des BKA nicht nur hinsichtlich des THS einen dubiosen Eindruck hinterlässt.

So im Kapitel zum sachsen-anhaltischen Halle/Saale: Als Drahtzieher der örtlichen Szene identifizierte das BKA den Neonazi Thomas Richter. Er führe gleich eine ganze Reihe von Kameradschaften an, die er im „Nationalen Widerstand Halle/Saale” als einer Art „Dachorganisation” vereinigt habe. Für die Polizei war es ein Beispiel für eine “herausragende Kameradschaft”. Das BfV dagegen konzedierte ganz kurz, die Halleschen Kameradschafter verfügten “über keine festen Strukturen”. Als Kopf des “Kameradenkreises” identifizierte das BfV nicht Richter, sondern seinen Kompagnon aus B&H-Zeiten, Sven Liebich.

Der spielte gewiss eine Rolle. Aber die Personalie Thomas Richter lässt heute viel mehr staunen: Er war Anfang der 2000er dem “Ku Klux Klan” beigetreten und schloss sich nach dem B&H-Verbot dem militanten “Hammerskin”-Netzwerk an. Das BfV wusste das – denn unter dem Decknamen “Corelli” erstattet Richter dem Verfassungsschutz Rapport über das Innenleben der für ihren verschlossenen Elite-Anspruch berüchtigten Organisationen. Und deswegen, so scheint es heute, verschwand Richters Name aus dem Projektbericht.

“Quelle” im Helfernetzwerk geführt


Die Vermutung der Tageszeitung “Neues Deutschland”, dass hier zugunsten eines V-Mannes “radiert” worden sein könnte, hat einiges für sich. Der Verdacht ist anrüchig: Zumindest mit dem NSU-Terroristen Uwe Mundlos war Thomas Richter schon vor dem Untertauchen 1998 bekannt. Richters Name, Festnetz- und Handynummer sowie ein von ihm betreutes Postfach hatte Mundlos handschriftlich auf einer Kontaktliste notiert (GAMMA berichtete). Später betreute Richter die Website des Neonazi-Fanzines “Der Weiße Wolf”. Eine der Ausgaben richtet auf Seite 2 “Vielen Dank an den NSU” aus.

Für diese Ausgabe des Hetzblattes war der heutige NPD-Landtagsabgeordnete in Mecklenburg-Vorpommern, David Petereit, zuständig. Auch Petereit kommt aus der Kameradschaftsszene. Der NSU schickte ihm Anfang der 2000er einen “Unterstützerbrief”, dem eine höhere Bargeldsumme beigelegen hat – womöglich Beute aus einem Banküberfall.

Ob und was Richter über den NSU wusste, ist nicht bekannt. Auch nicht, was insbesondere das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz über Richter weiß – er wohnte zuletzt in Leipzig und hielt sich hier vermutlich schon länger regelmäßig auf. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat zwar Richters V-Mann-Tätigkeit nicht dementiert, aber erklärt, definitiv keine “Quellen” im NSU geführt zu haben. Mehr habe man nicht mitzuteilen.

Womöglich interessierte Richters etwaige Stellung im Helfernetzwerk der flüchtigen Jenaer wirklich niemanden. Profiliert hat er sich vielmehr als langjähriger “Anti-Antifa”-Fotograf. Er fertigte Bildserien von Neonaziaufmärschen, teils auf Einladung der Veranstalter, lichtete aber auch gern Gegendemonstranten und Journalisten ab. Andere Neonazis haben Richter ihre Fotos zugeschickt. Einen kleinen Teil stellte er auf seine Website. Der komplette Bilderschatz aber, das vermuten auch einstige Kameraden, könnte beim Verfassungsschutz gelandet sein.

“Bewaffnete Eliteeinheit” ignoriert


Wer Quellen schützen möchte, macht nicht auf sie aufmerksam. Im “Projektbericht” zu den Kameradschaften gibt es einen weiteren markanten Fall, der so interpretiert werden könnte: Die “Skinheads Sächsische Schweiz”. Das BfV erwähnte sie namentlich, durch ihr Verbot war die Gruppierung sowieso bundesweit bekannt geworden. Entsprechend würdigte das BfV weniger die Gefahr dieser Gruppe, als das erfolgreiche Einschreiten der Behörden. Das BKA allerdings brachte zwei Fakten auf den Tisch, die wiederum keine Chance hatten, im Abschlussbericht zu landen.

Erstens: “Die Organisation hatte enge Kontakte zu anderen Organisationen, u.a. zum Kreisverband der NPD des Landkreises Sächsische Schweiz”. Es ist übrigens derselbe NPD-Verband, der 2007 “Kameraden und Interessenten” zum Schießtraining mit scharfen Waffen eingeladen hat.

Zweitens: Neben der SSS wies die Polizei auf die “Sächsischen Hammerskins” hin, die sich – ebenfalls in Ostsachsen – die “Bildung einer ‘bewaffneten Eliteeinheit’, die Schaffung einer ‘reinen Rasse’” und den “Angriff auf die Grundsätze des Staates und seiner Einrichtungen” zum Ziel gesetzt hatten.

Tatsächlich waren namhafte Kader der SSS zugleich bei den Hammerskins aktiv. Der Gründer der “Sächsischen Hammerskins” (SHS) wurde später ein V-Mann des BfV: Mirko Hesse. Natürlich erwähnt zwar das BKA, nicht aber das BfV diesen Namen in seinem “Kameradschafts”-Bericht. Als das SSS-Verbot umgangen und illegale Nachfolgetreffen abgehalten wurden, tauchte Hesse ausgerechnet im Umfeld der verbotenen SSS wieder auf. Obgleich sein Name in Zusammenhang mit seinem unversteuerten Staatsdienst durch bundesweite Presse bekannt geworden war, wurde er weiter zu Konzerten mitgenommen und beispielsweise zu einem Strategietreffen der NPD-Jugendorganisation “Junge Nationaldemokraten” eingeladen.

Das BKA lag mit dem Hinweis auf die Hammerskins also richtig: Sie und die Gruppierung “White Warrior Crew Sebnitz” (WWCS) seien “nicht mehr eindeutig voneinander zu trennen”. Die WWCS erwies sich in der Tat rasch als Auffangbecken für einstige SSS-Aktivisten. Das BfV ignorierte das alles und wollte in seiner “endgültigen” Berichtsfassung von den Hammerskins nur so viel wissen: nichts.

Aber wer sind eigentlich die Hammerskins?


Die “Hammerskins” sind vor allem ein dunkler Fleck in den Schubläden des Verfassungsschutzes, insbesondere denen des sächsischen Landesamtes. Hier war 1993 in Sebnitz eine der ersten deutschen Gruppierungen des ursprünglich US-amerikanischen Neonazi-Netzwerks gegründet worden. Wer wollte, konnte das aus dem sächsischen Verfassungsschutzbericht erfahren – wenn auch erst im Bericht für 1995, also zwei Jahre zu spät, darüber informiert wurde.

Von der Idee her waren die Hammerskins gut vergleichbar mit dem “Blood & Honour”-Netzwerk, dessen Wurzeln allerdings in Großbritannien liegen: Konsequente Politisierung der Skinhead-Szene, dazu ein harter, gewalttätiger Neonazismus und eine sendungsbewusste, rassistische Eliteideologie. Und in der Tat waren weder B&H, noch Hammerskins je Sammlungsbewegungen. Sie wollten eine nationalistische Elite mit den heute noch sinnbildlichen Stilmitteln einer damals besonders in Ostdeutschland florierenden Jugendsubkultur repräsentieren – ein vor allem organisatorischer Akt.

Wie B&H publizierten die Sächsischen Hammerskins mit Mirko Hesse an der Spitze ein Fanzine (“Hass Attacke”), produzierten und vertrieben Rechtsrock in großem Stil (“H.A. Records”) und richteten Konzerte aus. Solche Freizeitangebote zogen Publikum, und überdies brachten sie Geld. Um all das zu ermöglichen, brauchte es in den 1990er Jahren bei den zunächst auf Ostsachsen konzentrierten Hammerskins nur ein knappes Dutzend Leute, eine Hand voll Eiferer. Die standen mitunter in Konkurrenz, in Sachsen aber kooperierten Hammerskins und B&H jahrelang. Bei Treffen der sächsischen B&H-Sektion – an ihrer Spitze standen die mutmaßlichen NSU-Unterstützer Jan Werner und der als späterer V-Mann des Berliner LKA enttarnte Thomas Starke – war dann auch Mirko Hesse willkommen.

Auf diese zentrale Figur kam das LfV Sachsen ein einziges Mal zu sprechen, in seinem Jahresbericht für 1997. In “der Wohnung des Herausgebers von ‘Hass Attacke’”, gemeint ist Hesse, seien “verschiedene Materialien von ‘C 18′ sichergestellt” worden. “Diese beinhalten u.a. auch Anleitungen zur Herstellung von Bomben und Sprengstoff.”

Trotz bekannter Auslandskontakte und der Verbindung zu “Combat 18″ – einer britischen Neonazi-Terrorgruppierung, die unmittelbar aus dem B&H-Netzwerk hervorgegangen ist – hat das LfV Sachsen die Rolle der Hammerskins stets heruntergespielt: Sie seien unbedeutend, würden nur punktuell Aktivitäten entfalten und hätten kaum Zulauf. Das war der jährliche Tenor der Berichte und sollte sich erst im Jahr 2000 ändern, in dem die Erfolgsmeldungen über das B&H-Verbot so breit ausgewälzt wurden, dass die Hammerskins unterschlagen wurden. Bis 2004 tauchten sie dann wieder sporadisch auf, aber ohne jeden Hinweis, dass sie irgendwie noch aktiv seien. Wer gutgläubig nachliest, muss meinen, das Netzwerk hätte sich sang- und klanglos aufgelöst.

Ein bundesweit aktives Kader-Netzwerk


Sie waren aber nie weg. Im jüngsten sächsischen Verfassungsschutz-Bericht sind sie plötzlich zurück, umfangreich wie nie zuvor. Dort steht, dass es auf Landesebene eine “Division” und regionale “Chapter” gäbe. Aber nicht, was die so treiben. Unabhängig vom amtlichen Nichtwissen geben antifaschistische Recherchen viele Anhaltspunkte dafür her, dass die Hammerskins in Sachsen neben dem Raum Ostsachsen und Dresden auch in Delitzsch (Nordsachsen), dem Vogtlandkreis, der Region Leipzig–Schkeuditz bis hin ins sachsen-anhaltische Halle sowie, vom thüringischen Altenburg aus, in Westsachsen aktiv waren. Oder noch sind.

Die Namen, die dahinter stehen, sind sattsam bekannt. Als “Brüder” im Hammerskin-Netzwerk dabei sind der stellvertretende NPD-Landesvorsitzende Maik Scheffler, Thomas “Ace” Gerlach, Stefan Wagner und der schon erwähnte V-Mann Thomas Richter. Das sind also die hiesigen Hammerskins: Allesamt Veteranen der Kameradschafts-Szene, untereinander bestens bekannt und teils gemeinsame Begründer des militanten Kameradschafts-Netzwerkes “Freies Netz”. Ähnlich sieht es übrigens in Bayern beim “Freien Netz Süd” aus, dessen Gründer Tony Gentsch ebenfalls zum Netzwerk gehört.

Triftig daran ist, dass die Hammerskin-Strukturen weiterhin aktiv sind. In einer Broschüre von 2007 ging das BfV – bezeichnenderweise in einer Fußnote – von nach wie vor 100 Mitgliedern aus. Das Netzwerk hat sich damit seit Mitte der 1990er Jahre als äußerst stabil erwiesen, und das in einem bundesweiten Maßstab. Nach wie vor gibt es regelmäßige Kader-Treffen auf Bundesebene. Als einer der Köpfe des Netzwerks gilt der Rechtsrock-Händler Malte Redeker aus Ludwigshafen.

“Quellenschutz” rettete Hammerskins


Die Hammerskins existieren heute vielleicht nicht trotz, sondern wegen des Verfassungsschutzes. Und das wiederum nicht nur wegen V-Leuten wie Mirko Hesse und Thomas Richter, sondern wegen einer dubiosen Entscheidung im Jahr 2000. Das damalige Verbot gegen die “Blood & Honour – Division Deutschland” und deren Jugendgruppe “White Youth” sollte ursprünglich auch den Hammerskins gelten. Das BfV war vom Bundesinnenministerium beauftragt worden, die Verbotsvoraussetzungen zu prüfen und gerichtsverwertbare Beweise vorzulegen, die ein Verbotsvollzug rechtfertigen würden.

Das klappte im Falle B&H, aber die Hammerskins kamen ungeschoren davon. Begründung: Das BfV sehe sich “außer Stande, ein Verbot der neonazistischen Hammerskins” anzustrengen.

Die Argumentation ist süffisant und soll Bedeutungslosigkeit suggerieren: Die Hammerskins seien ja viel kleiner als B&H, sie hätten im Jahr 2000 lediglich 80 Mitglieder. Im öffentlichen BfV-Jahresbericht für 2000 wird übrigens gar keine Mitgliederzahl genannt, aber 1999 mit 120 und 2001 mit 100 beziffert. Fakt ist, dass die Hammerskins eine mit B&H – deren Mitgliederzahl in Deutschland damals plausibel auf 150 bis 200 geschätzt wurde – vergleichbare Größe erreicht hatten. Aber selbst das bundesweite B&H-Verbot betraf am Ende gerade einmal 37 Personen, das Gros der Aktivisten kam so davon.

Zu diesem aus heutiger Sicht also nicht sehr überzeugenden Punkt kam aus damaliger Sicht des BfV noch ein zweiter Einwand gegen ein Hammerskin-Verbot: “Sämtliche personenbezogenen Informationen stammen aus dem Einsatz von V-Personen – überwiegend der Landesbehörden für Verfassungsschutz. Sie sind dementsprechend als Verschlusssache eingestuft und unterliegen dem Quellenschutz.” Dieser Passus ist das eigentliche Ergebnis der “Verbotsprüfung” gegen die Hammerskins. Es grenzt an Arbeitsverweigerung.

In anderen Fällen waren Hinweise von V-Leuten kein Hindernis für ein Verbot, das naheliegendste Beispiel ist Blood & Honour. Freilich kann die Furcht, sich intensiv auf V-Leute zu stützen, auch damit zusammenhängen, dass parallel das NPD-Verbotsverfahren an diesem Problem gescheitert ist. Trotzdem beißt sich die Katze in den Schwanz: Warum vereitelt hier der “Quellenschutz” für V-Leute, die verbotsrelevante Informationen sammeln, die Verwendung dieser Informationen für ein Verbot? Es kam wohl nie die Zeit, in der solche Fragen gestellt worden wären. Der Verbotsentwurf des BfV für B&H – nebst Begründung, die Hammerskins zu schonen – wurde nämlich ganz knapp fertig, nur eine Woche vor dem Verbotsvollzug.

Lauter wirkungslose Maßnahmen


Für die Hammerskins gab es bald doch Ärger: Im Juli 2002 durchsuchte die Polizei 40 Wohnungen und Lagerräume in Sachsen, Berlin, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die Razzien galten 29 Hammerskin-Mitgliedern. Ihnen wurde vorgeworfen, einen bundesweiten Vertrieb für verbotene CDs aufgebaut zu haben. Hinzu kam zeitgleich in Sachsen ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach dem Paragraf 129. Anlass dazu waren “Gewalttaten aus dem Kreis sächsischer Hammerskins”. Hier gerieten insgesamt 34 Mitglieder der “Chapter” in Ost- und Westsachsen ins Visier der Fahnder.

Vorläufig aus dem Verkehr gezogen wurde aber lediglich der V-Mann Mirko Hesse, der im November 2002 wegen zahlreicher Vergehen, u.a. Volksverhetzung und Gewaltverherrlichung, zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden ist. Hesse war zudem in die “Landser”-Produktion der mutmaßlichen Chemnitzer NSU-Unterstützer Jan Werner und Thomas Starke eingebunden. Gleich zu Beginn der Ermittlungen in dieser Sache wurde Starke vom Berliner LKA als V-Mann angeworben. Ansonsten geschah nicht nur wenig, sondern nichts: Die Paragraf-129-Ermittlung gegen die Hammerskins in Sachsen wurden ganz eingestellt, die Ermittlungen liefen in Leere. Anlauf zu einem neuen Verbot wurde nie wieder genommen.

Die Frage nach dem Warum verweist auf die Erfahrungen, die im Falle eines anderen Verbots gemacht wurden. Und diese schlechten Erfahrungen rütteln einmal mehr an dem “Amtsnarrativ”, das “Blood & Honour”-Netzwerk erfolgreich zerschlagen zu haben. Im Rückblick sieht es nämlich so aus, als sei nicht nur das geplante Verbot, sondern auch der konkrete Termin den Betroffenen schon vorher bekannt gewesen ist.

Der Termin war der 14. September 2000. In Sachsen galt das Verbot namentlich nur einem Mann: Sven Liebich, der in Sachsen nicht wohnhaft war, aber in Leipzig den Naziladen “Midgard” betrieben hat und pro forma in Wiedemar gemeldet war. Tatsächlich gehörte er zur B&H-Sektion Sachsen-Anhalt. Genau wie Thomas Richter, der an dem Tag aber ganz verschont blieb. Eine Vorzugsbehandlung erhielten auch alle sächsischen B&H-Aktivisten, damals mehr als zwei Dutzend Leute in einer offiziellen und – die Clique um Werner und Starke – einer “unabhängigen” Sektion. Bei B&H-Sachsen aktiv war zu dem Zeitpunkt auch der heutige Kopf des Wurzner “Front Records”-Imperiums, Thomas Persdorf.

Zu Persdorfs “Sektion” gehörte auch Rico Berger aus Oschatz. Er betrieb ein Postfach für seine Gruppe, deswegen klingelten Beamte am 14. September auch bei ihm. Eine Durchsuchung war gar nicht erst vorgesehen worden, lediglich eine Beschlagnahmung des Postfachs. Das war zuvor sogar observiert worden. Aber Berger war aus dem Schneider: Den Beamten übergab er eine Quittung, die belegte, dass er das Postfach am Vortag aufgelöst hatte. Berger erklärte der Polizei, dass er nicht zu B&H gehöre, schließlich sei die Organisation ja verboten. Eine Protokollnotiz dokumentiert die Überraschung der verdutzten Beamten. Die fragten Berger, woher er das denn wisse. Und der antwortete keck: “Aus dem Radio.”

B&H-Verbot vorab verraten?


Dafür, dass das anstehende Verbot verraten worden sein könnte, gibt es ein weiteres Indiz. Die Staatsanwaltschaft Halle hat nach dem B&H-Verbot ein Sammelverfahren gegen Beschuldigte aus dem ganzen Bundesgebiet geführt. Sie sollen die B&H-Organisation illegal fortgeführt haben. Unter den 38 Verdächtigen waren auch Thomas Persdorf und der mutmaßliche NSU-Unterstützer Jan Werner. Das Ungewöhnliche: Die Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen entgegen der Gepflogenheit nicht mit den Bundes- und Landesämtern für Verfassungsschutz abgestimmt – und zwar “aus ermittlungstaktischen Gründen”.

Das BfV beschwerte sich beim Bundesinnenministerium und kritisierte den Anwurf aus Sachsen-Anhalt in einem Rundschreiben an die Länder. Aber gegen das Argument der Staatsanwaltschaft Halle fiel den Verfassungsschützern nichts ein: Man habe die “Befürchtung, die Verfassungsschutzbehörden würden ihre Quellen über bevorstehende Exekutivmaßnahmen informieren und damit eine Weitergabe dieser Information an Dritte ermöglichen.”

Nicht nur gegen das BfV stand dieser harte Vorwurf im Raum. Er betraf beispielsweise auch das Landesamt für Verfassungsschutz in Brandenburg und wurde Mitte 2003 in den Medien thematisiert. Das brandenburgische Landesamt hat dazu nie öffentlich Stellung genommen, aber in einem Rundschreiben an andere Behörden dementiert, dass eigene Mitarbeiter “die Quelle auf das seinerzeit bevorstehende Verbot von ‘Blood & Honour’ und in diesem Zusammenhang durchzuführende Exekutivmaßnahmen hingewiesen” hätten. Das Dementi ist halbseiden, denn der letzte Absatz lässt sehr viel Interpretationsspielraum:

“Ein gegen die frühere Quelle bereits laufendes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Potsdam wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses […] wird auch um den Aspekt ihrer Indiskretionen in den Medien erweitert werden.”

Verfassungsschutz behinderte Ermittlungen


Sobald V-Leute “Dienstgeheimnisse” verletzen, ist der Informationsfluss, in den diese Quellen eingebunden sind, keine Einbahnstraße mehr. Der Verdacht, das B&H-Verbot könnte auf diesem Weg verraten worden sein, ist nie ausgeräumt worden. Schon im März 2000 war bei einer Durchsuchung in der Wohnung des Deutschland-Chefs von B&H, Stefan Thomas Lange (genannt “Pinocchio”), ein interner “Lehrbrief” des Berliner LKA gefunden worden, Thema: “Rechtsextremismus”. Das ist nicht gerade die Sorte Dokumente, die man sich in einer Bibliothek ausleihen kann.

Einmal angenommen, es habe diesen Verrat gegeben: Wussten B&H-Mitglieder dann möglicherweise auch von anderen Ermittlungsmaßnahmen, die gegen sie liefen? Wenn es so gewesen sein könnte, sei eine Anschlussfrage gestattet: Wusste womöglich die Chemnitzer B&H-Clique um Jan Werner und Thomas Starke, dass man sie auf der Suche nach dem NSU observiert?

Sicher sagen lässt sich nur, dass die Kommunikation von Verfassungsschutz und Polizei, bis hinauf zu BfV und BKA, nach dem B&H-Verbot kräftig gestört war – und zwar sehr lange Zeit. Aus dem Jahr 2006 datiert ein Schreiben des BKA an das BfV und das Bundesinnenministerium. Darin wird kritisiert, das BfV habe “trotz mehrfacher Anfragen” dem BKA niemals die Namen früherer B&H-Mitglieder mitgeteilt. Insbesondere die Namen derer, die nun auch reihenweise in illegalen Nachfolgeorganisationen tätig wurden. Dass sie wegen der Blockade des BfV “bislang als ehemalige Mitglieder nicht bekannt” waren, erschwere die Strafverfolgung, so das BKA. Das war sich ziemlich sicher, dass die “überregionalen Führungsstrukturen” weiter existieren.

Das BfV aber sah nur noch punktuelle Aktivitäten gegeben – und machte diese ganz eigene Wahrheit über viele Jahresberichte hinweg zur einzigen offiziellen. Die Landesämter wichen von dieser Linie nicht ab. So steht es in den Jahresberichten.

Gewalttätige Gruppen zu “Einzeltätern” verniedlicht


Auffällig an diesem Vorgang ist, dass sich das BKA vom BfV insbesondere Informationen über Jörg Winter erbeten hat. Der Mann aus dem sächsischen Leppersdorf war vor und nach dem Verbot in sächsischen B&H-Gruppen engagiert. Er ist ein guter Freund des Thomas Starke. Im Jahr 1997 besorgte er den Sprengstoff, den Starke dann dem Jenaer Trio auslieferte. Doch was auch immer der Verfassungsschutz in Köln oder Dresden über Winter wusste: Der Polizei verriet man es nicht.

Das war folgenreich. Das BKA hatte nämlich den Generalbundesanwalt gebeten, die in vielen Bundesländern angehäuften Ermittlungsverfahren gegen illegale B&H-Gruppen zusammenzuführen. Das wurde mangels Erkenntnissen abgelehnt.

Genau so war es auch im Falle dreier weiterer sattsam bekannter, militanter Kameradschaftsstrukturen: “Thüriger Heimatschutz”, “Sturm 34″ und “Kameradschaft Halle”. Zwar seien diese Gruppierungen zweifelsohne “strafrechtlich relevante Kameradschaften”. Aber die Bundesanwaltschaft erklärte sich dennoch für nicht zuständig. Eine Prüfung habe nämlich ergeben: “Wenn überhaupt Straftaten begangen würden, geschehe dies durch Einzeltäter”. Gestützt hat sich die Bundesanwaltschaft mit dieser prinzipiellen und prinzipiell fragwürdigen Einschätzung ausgerechnet auf den frisierten Bericht der Arbeitsgruppe “Rechtsextremistische Kameradschaften”.

Bekanntlich wurde “Sturm 34″ im April 2007 nach zahlreichen brutalen Überfällen dann doch verboten. Die Berichte über den THS sind Legion. Und die Verharmlosung der “Kameradschaft Halle” im Projektbericht zahlte sich nun aus – auch für Thomas Richter, den V-Mann “Corelli”.

Wie andere ehemalige B&H-Aktivisten hat er sich nach dem Verbot, mit einem Zwischenhalt beim “Ku Klux Klan”, den Hammerskins angeschlossen. Dass er mit dem Gesetz schon in Konflikt geraten war, sprach offenbar nicht gegen seine Eignung als “Quelle”. Auch nicht, dass er im Jahr 2003 in dem von ihm mitverantworteten Szene-Heftchen “Nationaler Beobachter” eine “Anzeige” mit einem sehr speziellen Angebot abdruckte: Wehrsport. Damit waren kurz zuvor schon die “Skinheads Sächsische Schweiz” und Hammerskins in Ostsachsen aufgefallen.

Rechtsterrorismus vollends verharmlost


Wie weit geht der Verfassungsschutz beim Schutz seiner Quellen, so dubios sie auch sein mögen? Ein Blick nach Bayern zeigt, dass der Verfassungsschutz im Notfall alle Register zieht, um V-Leute zu decken. So einen Notfall gab es 2003: Mit Gesinnungsgenossen plante der Neonazi Martin Wiese einen Sprengstoffanschlag auf das im Bau befindliche jüdische Kulturzentrum in München, besorgte Schusswaffen und hortete Sprengstoff. Und das, obwohl sich das BfV doch auf die Sprachregelung eingelassen hatte, dass es in Deutschland keinen Rechtsterrorismus gäbe. Der Plan flog äußerst medienwirksam auf. Die Reaktion der Verfassungsschützer war keinesfalls Selbstkritik, sondern etwas Verblüffenderes.

Ein Vorschlag des BfV von damals: schnellstens die Faktenlage glätten. Angeregt wurde, den Abschlussbericht der Kameradschafts-Arbeitsgruppe schleunigst zu ergänzen. Zwar war der Bericht, wie schon gesagt, so oder so hoffnungslos überaltert. Aber ein Kapitel zu Wieses “Kameradschaft Süd” sollte zumindest nachgeschoben werden. Eine letzte peinliche Posse in diesem missratenen Projekt.

Zweiter Schritt war die Beschwichtigung. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, es gäbe eventuell doch Rechtsterrorismus in Deutschland, schrieb das BfV eine interne “Argumentationshilfe” – und bediente sich dem makabersten nur denkbaren Beispiel:

“In der Presse wird angeführt, dass es im Rechtsextremismus sehr wohl ein potentielles Unterstützerfeld gebe. Hierzu wird auf drei Bombenbauer aus Thüringen verwiesen, die seit mehreren Jahren „abgetaucht” seinen und dabei sicherlich die Unterstützung Dritter erhalten hätten. Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Personen auf der Flucht sind und soweit erkennbar seither keine Gewalttaten begangen haben. Deren Unterstützung ist daher nicht zu vergleichen mit der für einen bewaffneten Kampf aus der Illegalität.”

Zur Not wird umfassend gelogen


Vielleicht war hier wieder das Amtsnarrativ unwiderstehlicher als die Fakten. Um gar keine Fakten mehr ging es beim dritten Schritt des Verfassungsschutzes: der Desinformation. Denn das bayrische Landesamt hatte in Wieses Umfeld tatsächlich einen V-Mann platziert, der über Anschlagspläne und Waffenbesorgungen berichtete, während Wieses Vorbereitungen immer konkreter wurden. Vielleicht wollte man nachher nur dem Vorwurf entgehen, viel gewusst, aber zu spät eingegriffen zu haben – jedenfalls sollte der V-Mann-Einsatz unter allen Umständen geheim bleiben. Man sei Wiese eher zufällig auf die Spur gekommen, nämlich durch zufällige Funde während der Ermittlungen gegen einen anderen Neonazi, hieß es stattdessen. Doch diese “Zufälle” hat es nie gegeben.

Es war ein klassisches Cover-Up, und dass davon Gebrauch gemacht wurde, liegt an der dubiosen Rolle des V-Mannes Didier Magnien, einem in Frankreich geborenen Neonazi. Er war der Verfassungsschutz-Mann im Umfeld Wieses, chauffierte ihn gar zu einem Waffenkauf. Später, im Prozess wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung, rühmte sich Magnien, in der Gruppe “als Erster die Idee für einen Selbstmordanschlag auf dem Münchner Marienplatz” ausgesprochen zu haben. Das gemeinsame Ziel sei die “gründliche, körperliche Beseitigung des aktuellen Systems” gewesen.

Dem Bundesinnenministerium und selbst dem Innenausschuss des Bundestages wurde aber zunächst die falsche Geschichte erzählt – einen V-Mann habe es demnach nicht gegeben. Der Verfassungsschutz hat sich so im Handstreich seiner parlamentarischen Kontrolle entzogen. Der amtliche Hoax wurde an die Presse durchgestochen und dort ungeprüft übernommen. Das Verfahren gegen den V-Mann wurde, nicht verwunderlich, eingestellt – wegen “geringer Schuld”. Aufklärung im Sinne des Verfassungsschutzes verdichtet sich so in einem Wort: Lüge. Für die Aufklärung der NSU-Verbrechen verheißt das Schlechtes.

Aufklärung auf Sächsisch


Kehren wir schließlich zurück ins Jahr 2012, ein knappes Jahr nach dem Auffliegen des NSU. Man frage nun in Sachsen nach der Rolle von Blood & Honour und Hammerskins. Und stelle fest, dass sächsische Behörden noch immer nicht mehr wissen wollen. Begründung: Quellenschutz. Einige Akten zu B&H wurden zwischenzeitliche selbst für Mitglieder des Untersuchungsausschusses des Landtages gesperrt.

Gefragt nach den zweifelsohne beim Verfassungsschutz angehäuften Erkenntnissen über B&H und Hammerskins, winkte Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) bereits ab. Dieses Thema sei “zu großen Teilen auf die Vergangenheit ausgerichtet”, entspreche nicht “aktuellen Prioritäten”, “umfassende Recherchen in den Datenbeständen und Akten von Polizei und Verfassungsschutz” seien daher gerade nicht drin. So offen gibt den eigenen Unwillen zur Aufklärung sonst niemand zu.

Sind die zwei bedeutendsten und größten militante Neonazinetzwerke in Deutschland wirklich nur von historischem Interesse? Manche machen mildernd geltend, dass Ulbig all das selber glaubt. Das wäre zu verschmerzen, wenn es sich um einen kleinen Beamten mit einem undankbaren Job im Innenministerium handeln würde. Es geht aber ausgerechnet um dessen Kopf.

Spätestens in Sachsen kann jeder erfahren, dass hinter all dem keine Verschwörung steckt, sondern Staatsräson mit Wählermandat und Verfassungsschutz ohne Rechenschaft. Das funktioniert bislang so gut, dass man die vertrackte Verstrickung aus Unkenntnis, Beschwichtigung und Desinformation nur mehr erahnen kann. Was immer daraus werden soll: Zur Aufklärung der NSU-Verbrechen wird es nichts beitragen. Ein “Frühwarnsystem” war es noch nie.


Leseempfehlungen:

  • Rolf Gössner berichtete 2003 in seinem Buch Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes – Kriminelle im Dienst des Staates unter anderem über Mirko Hesse. Gössners detailiert Einzelstudien nehmen das V-Mann-Unwesen Stück für Stück auseinander. Das Buch ist antiquarisch und in Infoläden zu bekommen.
  • Neu erschienen ist kürzlich von Claus Leggewie und Horst Meier der Band Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik. Trotz kontroverser Standpunkte handelt es sich um eine engagierte, sachliche Kritik des Verfassungsschutzes. Die Autoren plädieren für seine Auflösung.

Weitere lesenswerte Beiträge sind in unserem Rechtsterrorismus-Dossier verzeichnet.


Hintergrund: Mit Thomas Richter, alias “Corelli”, ist kürzlich ein langjähriger V-Mann aufgeflogen. Er war ein Bekannter des Rechtsterroristen Uwe Mundlos, Mitglied bei “Blood & Honour” und nach dem Verbot des Netzwerks bei den Hammerskins aktiv. Interne Dokumente zeigen nun: Behörden haben ihre Informationen zur gewaltbereiten Neonazi-Szene zurückgehalten, um “Quellen” wie Richter zu decken. Der Verdacht: Womöglich konnten Neonazis so der Strafverfolgung entgehen. Dafür bedurfte es keiner Verschwörung, sondern krasser Fehleinschätzungen, lauter falscher Maßnahmen und des üblichen “Verfassungsschutzes” – vor allem in Sachsen.

Quelle: https://linksunten.indymedia.org/de/node/68800

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