In Bern streitet man sich mal wieder um die Reitschule. Lärmklagen brachten den Berner Statthalter Christoph Lerch dazu, den Vorplatz sperren zu wollen. Und Bern freut sich über die grösste Nachtdemo seit den achtziger Jahren.
Wer regiert eigentlich unsere Städte? Es ist nicht die Mauch Corine, nicht der Morin Guy, nicht der Maudet Pierre und auch nicht der Tschäppät Alexander. Es sind auch nicht die Pharmaindustrie, die Bankenwelt, Glencore oder Swatch. Nein. Wir werden regiert von Menschen, die ein allzu unbeschwertes Verhältnis zu ihrem Telefonhörer pflegen. Sie tippen die 117 ein, weil sie die Feierlust der anderen nicht aushalten: Unsere Städte werden regiert von LärmklägerInnen.
Meistens bleiben sie anonym. Und es reicht, wenn die vielen Melodien der Nacht nur sie ganz allein stören. Lärm ist, wenn LärmklägerInnen sagen, es sei Lärm. Mächtig sind sie mit ihren Telefonhörern und ihrer leisen Stimme, die sagt: «Es stört mich.» Diese Macht ist der LustfeindInnen Lust. Die Rache der StubenhockerInnen, die Antwort der Zurückgelassenen. Manchmal rufen sie dreimal an pro Nacht, viermal, fünfmal, zehnmal. Was anderen die «sääxsääxsääxdreimaldiesäächs», ist ihnen die 117: ihre liebste Servicenummer. Stadtpolitik ist Lärmpolitik, «Erlaubt ist, was nicht stört», schrieb sich die Stadt Zürich einst auf die Fahnen. Es war die Kapitulation einer demokratisch gewählten, rot-grünen Regierung vor den anonymen LärmklägerInnen – Pardon, vor den «Arbeitstätigen, die Ruhe verdienen».
In Bern, Hauptstadt des konsequent angewendeten Wegweisungsartikels und viktorianischer Parkordnungen sowie Besitzerin eines rigiden Bahnhofsreglements, das weder Bettlerinnen noch Abhänger duldet, gabs mal eine Lärmklägerin, die nicht anonym blieb. Man nannte sie «Frou Müller». Charlotte Müller ist Soziologin an der Pädagogischen Hochschule in Bern und wohnt über dem ehemaligen Berner Club «Sous Soul». Dreimal wechselte sie im selben Haus die Wohnung, am Ende zog sie im Parterre ein. «Dort, wo die Bässe wummern», wie sie sagte. Umso näher Frau Müller dem «Sous Soul» rückte, desto aussichtsloser wurde dessen Lage: Am 30. Dezember 2011 musste das Konzertlokal schliessen, die Lärmklagen der Nachbarin hatten es zu Fall gebracht. Frau Müller sagte: «Der Lärm dringt in meine Träume ein.» Man hasst das, was man insgeheim am meisten liebt, sagen die PsychoanalytikerInnen.
«Figg di, Frou Müller» war ein kleiner «Shitstorm» im Netz, es folgten ein paar Partys. Nun aber hat das Feindbild Müller einen prominenteren Nachfolger gefunden: Christoph Lerch, kantonaler Regierungsstatthalter für die Stadt Bern und Sozialdemokrat, hat vor zwei Wochen verfügt, dass auf dem Vorplatz der Reitschule ab halb ein Uhr nachts Schluss sein muss mit Feiern. Die Massnahmen scheinen unter den gegebenen Verhältnissen illusorisch: Der Vorplatz sollte von der Reitschule um diese Zeit geräumt, die Leute weggewiesen, der Getränkeausschank auf dem Vorplatz und der Verkauf über die Gasse im Innern der Reithalle eingestellt, der Innenhof ruhig sein. Zu viele LärmneurotikerInnen hatten zu oft ihre liebste Servicenummer gewählt.
Dieser Vorplatz ist eine Legende
Aber die Reitschule, das letzte Autonome Jugendzentrum (AJZ) aus den wilden 80ern, das anders als etwa die Rote Fabrik in Zürich bis heute nicht in den Organen der Stadtbehörden verdaut wurde und eigentlich noch immer besetzt ist, ist nicht das «Sous Soul». Nur schon ihr Vorplatz ist eine Legende: 1981, bei der ersten Besetzung, ein Rausch der Drogen und der Gewalt, grillierten ein paar Punks einen gestohlenen Kranich aus dem Tierpark Dählhölzli. Für die Stadt war das damals zu viel: Die Reitschule wurde geräumt und mit Stacheldraht umzäunt. Nach der Räumung des Kulturzentrums Zaff und des «freien Landes Zaffaraya» wurde die Reitschule 1987 erneut besetzt. Ihr Vorplatz hat seitdem mehrere offene Drogenszenen, Angriffe der Stadtbehörden mit Beton aller Art, Naziüberfälle und Strassenschlachten überlebt. Heute tummeln sich dort an schönen Wochenenden bis zu 2000 Menschen und feiern.
So ereilte Christoph Lerch dasselbe Schicksal wie Charlotte Müller: Bern war zugepflastert mit seinem Konterfei, überall hiess es: «Figg di, Herr Lerch». Auf Facebook sah man ihn am Telefonhörer in seinem Büro, die linke Hand vor der Kameralinse, die Finger zu einer schräg aufwärts gerichteten Pistole geformt. Die Berner Juso-Stadträtin Tanja Walliser kommentierte: «Lerchs berufliche Umorientierung: telefonische Masturbationsberatung für Frauen.» Die Stadt kannte für ein paar Tage kein anderes Thema mehr als Lerchs Verfügung. Christian Pauli, Präsident von «bekult», dem Verband der Berner VeranstalterInnen, sagt darauf der WOZ: «Wir erwarten von einer rot-grünen Stadtregierung, dass sie sich hinter die Reitschule stellt. Das entspricht der Mehrheit der Stadtbevölkerung, die Reitschule wurde schon fünfmal an der Urne bestätigt.» Rahel Ruch, die Stadträtin (Legislative) der Jungen Alternativen, sagt: «Wir fordern erstens die Rücknahme der Verfügung. Zweitens muss der Gemeinderat endlich ein Nachtlebenkonzept vorlegen, drittens müssen die andauernden Kampagnen gegen die Reitschule aufhören, und viertens müssen wir endlich wieder ernsthaft über den Wegweisungsartikel, die Parkordnung und das Bahnhofsreglement diskutieren.» Im Herbst seien Wahlen, dann könne man diesen «Amok-Stadtrat», das Stadtparlament mit vier grünen Parteien und seinen unberechenbaren Mehrheiten, endlich anders zusammenwählen.
Stadtpräsident Alexander Tschäppät, SP, beschwichtigt: «Wir wissen, was wir an der Reitschule haben. Der Gemeinderat steht hinter ihr. Aber das Nachtleben lässt sich meiner Meinung nach nicht verkonzepten.» In einer Medienmitteilung von vergangener Woche hatte der Gemeinderat Lerchs Verfügung allerdings noch begrüsst. Weiter hiess es dort: «Wer sich ans Gesetz hält, darf sich jederzeit im öffentlichen Raum aufhalten.» Für Tom Locher, Reitschüler der ersten Stunde und in der Reitschulmediengruppe tätig, ist deshalb klar: «Es geht wie immer auch um die Kontrolle des öffentlichen Raums. Und auf dem Vorplatz lässt sich eben nicht immer alles kontrollieren. Das passt der sonst allgegenwärtigen Polizei nicht – vor allem nicht den Ruhe- und Ordnungstrategen in der Führungsetage, die medial und auf politischer Ebene vermehrt Stimmung gegen die Reitschule machen.»
«Dann nehmen wir uns die Stadt»
Vergangene Freitagnacht dann, es war die zweite Nacht, in der die Verfügung von Statthalter Lerch in Kraft war, erlebte Bern die grösste Nachtdemo seit den glorreichen Tagen der achtziger Jahre, 3000 Leute tanzten vergnügt durch die frühmorgendliche Stadt. Der Vorplatz der Reitschule wurde kurzerhand auf den Valser Gneis des Bundesplatzes verlegt: «Nehmt ihr uns den Vorplatz, nehmen wir uns die Stadt» war das Motto. Weiter stand auf einem Flugblatt: «Unser Lebensraum soll nicht von Politik, Behörden und Polizei verplant, reglementiert und überwacht werden, um im Standortwettbewerb gut abzuschneiden.» CVP-Gemeinderat und Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause sagt der WOZ: «Wir haben das Signal verstanden.» In der Berner Zeitung sagte er, der Grossteil an der Demo sei spontan anwesendes Partyvolk gewesen. Ob Nause wirklich verstanden hat?
Am Montagabend dann, es war schon ziemlich spät, meldete sich auch noch Statthalter Lerch bei der WOZ. Er war fix und fertig: «Sachlicher Kritik hätte ich mich immer gestellt, aber mit diesen Angriffen auf meine Person habe ich nicht gerechnet.» Ansonsten kein Kommentar. Nur noch eins: «Ich bin seit 30 Jahren Mitglied im Förderverein ProWOZ.» Für den 2. Juni ist in Bern schon die nächste Nachtdemo angekündigt. Einige meinen, es könnte ein heisser Berner Sommer werden.
Quelle: http://www.woz.ch/1220/reitschule-bern/die-rache-der-berner-stubenhockerinnen