Anders als in Ägypten und Tunesien sind die Proteste in Syrien über das ganze Land verteilt – koordiniert von Basiskomitees
An diesem Freitag versammeln sich in der Moschee von Al Moadamyeh deutlich mehr Menschen als noch an jedem Freitag vor einem Jahr. Der große, mit Teppichen ausgelegte Betraum ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch die Empore, wo sich die Frauen zum Gottesdienst versammeln, ist gut gefüllt. Und wie in dem Damaszener Vorort sieht es heute in vielen Moscheen in ganz Syrien aus.
»Syrien ist heute nicht gläubiger als vor dem 15. März vergangenen Jahres«, erklärt Hozan Ibrahim, ein 29-jähriger Aktivist, der jetzt in Berlin lebt und engen Kontakt zu den Aktivisten vor Ort hält. »Die Menschen nutzen die Moscheen als Versammlungsorte, weil alle anderen Möglichkeiten, sich zu versammeln, untersagt sind. Selbst alle Fußballspiele, die in großen Stadien stattfinden sollten, sind verboten, weil zu viele Menschen kommen könnten. Dabei wollen die Menschen nur ihr Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit nutzen.«
Es sind bei Weitem nicht nur Muslime, die zum Freitagsgebet erscheinen, auch zahlreiche Christen und Drusen strömen in das große Gebäude mitten im Stadtteil. Auch Säkulare, die vielleicht formell den Sunniten angehören, der größten Religionsgemeinschaft in Syrien, füllen die Moschee.
Videos dokumentieren Angriffe auf Proteste
In der Mittagszeit, nach dem Gebet, strömen die Menschen gemeinsam auf die Straße, und hier erfüllt sich für viele der Zweck, warum sie gekommen sind: Mit Parolen fordern sie Demokratie und Menschenrechte, einige ziehen Papierschilder hervor, die den Rücktritt von Präsident Bashar al-Assad verlangen. Passanten schließen sich an, sodass die Demonstration in ihrer Größe wächst. Zu den politischen Forderungen kommt an diesem Freitag als Motto die Solidarität mit den Einwohnern von Homs hinzu. In der Industriestadt mit rund einer halben Million Einwohnern wurden im Lauf der letzten Woche mehr als 45 Zivilisten auf Demonstrationen von Sicherheitskräften erschossen.
Die Moschee von Al Moadamyeh galt im letzten Sommer als Schwerpunkt der Proteste, bis sie mehrfach angegriffen wurde: Polizisten und halboffizielle Prügeltrupps, sogenannte Schabiha, stürmten die Moschee und schlugen auf die Versammelten ein. Auch die gesamte Einrichtung wurde zerstört. In den vergangenen Wochen kamen wieder mehr Aktivisten – doch die Demonstration kommt nicht weit. Auf Videos, die später auf Youtube, Facebook und Twitter die Runde gemacht haben, ist zu sehen, wie Sicherheitskräfte die Demonstranten mit Holzlatten verprügeln. Männer des Geheimdiensts schlagen auf friedliche Demonstranten ein, blutüberströmte Körper werden über die Straße geschleift und in Polizeifahrzeuge bugsiert. Über 80 Menschen werden hier festgenommen und landen mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Folterkellern des Assad-Regimes.
»Es hat mich so hilflos gemacht mit anzusehen, wie wir angegriffen wurden«, sagt später Perwin Omar (Name geändert). Die 28-jährige Aktivistin vom Koordinationskomitee Al Moadamyeh, das die Demonstration vorbereitet hatte, konnte die Szene auf Video festhalten. »Ich flüchtete mich in einen Hausflur, als Polizisten mit erhobenen Holzstöcken auf uns zu gerannt kamen. Jemand öffnete mir schnell die Tür und heimlich konnte ich aus dem Fenster filmen, wie brutal sie auf die Demonstranten einschlugen und eintraten, auch nachdem diese längst auf dem Boden lagen. Ich habe gesehen, wie sie versucht haben, besonders diejenigen festzunehmen, die Handykameras oder Schilder dabei hatten.«
Wie in Al Moadamyeh gibt es insgesamt über 300 lokale Komitees in ganz Syrien, die vor Ort Demonstrationen organisieren, sich um die Verwundeten und Gefangene kümmern und die Menschenrechtsverletzungen der Regierung dokumentieren. Von ihnen stammen die tausenden Clips im Internet, auf denen zu sehen ist, wie auf Demonstrationen eingeprügelt oder sogar geschossen wird, wie Panzer durch die Innenstädte fahren und versuchen, Versammlungen aufzulösen.
Auf den Straßen sind Menschen fast aller Altersgruppen zu sehen, und so heterogen wie die Demonstranten sind auch die Komitees, die den Protest koordinieren. Angetrieben von der Ungerechtigkeit der Diktatur, dem Frust über Vetternwirtschaft und absolute Kontrolle durch die 16 verschiedenen Geheimdienste im Land, haben sich breite Koalitionen gebildet, die in ihrer Zusammensetzung fast immer verschiedene Geschlechter, Religionsgemeinschaften und Ethnien umfassen. Diese Unterschiede werden vom gemeinsamen Wunsch nach einer neuen, emanzipatorischen Politik überbrückt, die eine freiere, offenere Gesellschaft ermöglichen soll.
»Die Komitees leisten die Hauptarbeit im Aufstand gegen das Assad-Regime. Ich finde es beeindruckend, dass sie sich von diesen Gewaltszenen nicht aufstacheln lassen«, sagt Ibrahim, nachdem er sich in seiner Berliner Wohnung wieder und wieder das Video aus Al Moadamyeh angeschaut hat. »Sie sind es, die verhindern, dass sich die Menschen gewaltsam gegen die Schergen des Assad-Clans wehren – und das ist auch gut so. Die internationale Gemeinschaft sollte auch darüber nachdenken, wie die Menschen geschützt und der unbewaffnete Aufstand unterstützt werden können.«
Nach mehr als zehn Monaten regelmäßiger Proteste sind die eigenen Ressourcen der Nachbarschaftsinitiativen, aus denen viele der Komitees entstanden sind, weitgehend aufgebraucht, auch weil sich die ökonomische Lage in Syrien ständig verschlechtert. Zwar sollen die Handelssanktionen vor allem das Regime treffen, doch auch die Aktivisten sind betroffen. Vor allem die Mitglieder der Komitees, die in den Untergrund gehen mussten, um der Verfolgung der Geheimdienste zu entgehen, benötigen Hilfe. Etwa 450 Euro kosten eine geheime Wohnung und Lebensmittel für drei Untergetauchte. Aber auch die Kommunikationsmittel wie Internetanschlüsse oder Telefone sind teuer, wenn sie zugleich Schutz vor staatlicher Kontrolle bieten sollen.
Bislang trägt vor allem das individuelle Bekanntschafts- und Verwandtschaftsnetz der Aktivisten die Kosten, oder Nachbarn gehen das große persönliche Risiko ein und gewähren Unterschlupf in der eigenen Wohnung. Doch auch wenn die meiste Hilfe von außen humanitärer Natur ist, unterstützen inzwischen private Initiativen aus anderen Ländern auch die politische Arbeit der Komitees.
Untertauchen – wegen der Geheimdienste
Neben den Demonstrationen und Protestaktionen gehört zur politischen Arbeit auch die Reaktion auf die Propaganda der Regierung. Staatliche Medien verbreiten ständig, bei den Aktivisten würde es sich um bewaffnete Terroristen handeln, deren einzige Ziele Bürgerkrieg und Separatismus seien. Die beiden größten Aktivisten-Netzwerke halten dagegen, dass sie ein säkulares, integrales Syrien wollten, das Menschen- und Minderheitenrechte wahrt. Diskussionen über diese Rechte und die Rolle der Religion im Staat fangen in Syrien gerade erst an – auch hier spielen die Aktivisten in den Komitees eine wichtige Rolle.
In einem Bericht aus dem Untergrund schreibt die bekannte Menschenrechtsaktivistin Kahwla Dunia: »Es ist inzwischen nicht mehr ungewöhnlich, wenn eine säkulare und eine religiöse Frau gemeinsam demonstrieren gehen, wenn ein religiöser Prediger mit einem Linken komplexe gesellschaftliche Debatten führt oder wenn sich Menschen aus städtischen und ländlichen Gebieten in einem Privathaus treffen, außerhalb der Sicht- und Reichweite der Sicherheitsdienste, um sich über Demokratie und einen zivilen Staat zu unterhalten. Doch obwohl Syrien heute ein Land ist, das zum ersten Mal so etwas wie eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit erlebt, müssen wir Aktivistinnen und Aktivisten im Geheimen und aus dem Untergrund heraus arbeiten. Zu viel Offenheit müssten wir mit unserem Leben bezahlen.«
Unser Autor Aktham Abazid kam 1999 aus Syrien zum Studium nach Deutschland und ist hier geblieben. In Berlin hat er den deutsch-syrischen Sozialverein Lien e.V. aufgebaut und hält enge Kontakte zu Verwandten und Aktivisten in sein Herkunftsland.
Quelle: http://uprising.blogsport.de/2012/02/05/assad-spielt-nicht-er-toetet-uns/#more-1466