Antifaschismus in Ungarn

Das folgende Interview wurde zuerst auf der Seite der trotzkistischen „Linkswende“ aus Österreich veröffentlicht. Da wir die darin getroffenen Aussagen nicht nur informativ sondern einmal mehr aufrüttelnd finden, haben wir uns zur Veröffentlichung entschlossen.

Hier nun das Interview:
Dietmar Meister sprach mit G. M. Tamás. Der Philosoph und revolutionäre Marxist war während der Ära der UdSSR ein prominenter ungarischer Dissident. Er lebt und arbeitet in Budapest.

Immer wieder hört man von der faschistischen Jobbik-Partei, der Ungarischen Garde etc. – wo ist der Antifaschismus in Ungarn?

Klar gibt es Antifaschisten in Ungarn, aber sie sind wirkungslos. Jemanden als Rechtsextremen oder Faschisten anzuprangern, verursacht Empörung. Antifaschisten werden bestenfalls als Hysteriker, schlimmstenfalls als Vertreter des internationalen Judentums bezeichnet. Stattdessen bezeichnet die Regierung den zweiten Weltkrieg als »Befreiungskrieg« und Soldaten, die als Verbündete Hitler-Deutschlands gefallen sind, als Helden. Erst jüngst wurden in Budapest alle Straßen, die nach antifaschistischen Märtyrern und Opfern und Helden benannt wurden, umgetauft. Nicht einmal den Platz der Republik gibt es mehr.

Wo siehst du den Unterschied zu Österreich?

Der Kontext ist verschieden. Hier in Österreich haben die Sozialdemokraten und zum Teil auch andere Parteien zumindest symbolisch das Antifaschismus-Erbe bewahrt, auch wenn ihr Antifaschismus nicht wirklich aufrichtig ist oder tief geht. Trotzdem gibt es zum Beispiel noch Straßen, die nach großen Sozialisten wie Renner oder Bauer benannt sind, an Hauswänden erinnern Plaketten an jüdische Bürger. All das existiert in Ungarn nicht mehr. Der in Ungarn herrschende Kontext macht Antifaschismus zu einer Sache für Kommunisten und Juden.

Antisemitismus ist in Ungarn also ein großes Thema?

Ja, das ist ein zentrales Thema und hängt mit der Wiederbelebung der Vorkriegsvergangenheit zusammen. Aber auch mit der Tatsache, dass Ungarn in ganz Mittel- und Osteuropa das einzige Land ist, wo eine bedeutende jüdische Gemeinde existiert, die auch im Kulturleben und in der Politik eine große Rolle spielt.

Mit 1. Jänner 2012 tritt in Ungarn die neue Verfassung in Kraft. Was verändert sich dadurch?

Alles. Alle Ansprüche auf Gleichheit sind aus der Verfassung verschwunden. Ohne Ausnahme. Man hat nur Rechte, wenn der Staat sicher sein kann, dass man auch seine Pflichten ausübt. Leute, die laut Behörden keiner »ehrlichen Lebensweise« und fleißiger Arbeit nachgehen, werden nicht als vollberechtigte Mitbürger betrachtet. Es gibt sogar korporatistische Elemente der austrofaschistischen Tradition wie die neue Angestelltenkammer, in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sitzen und auf die alle bisherigen Rechte der Gewerkschaft übergehen sollen.

Steuert Ungarn also auf den Faschismus zu?

Eher auf einen konservativen Polizeistaat wie jener unter Schuschnigg oder Salazar – nicht auf einen faschistischen Staat eines Hitler oder Mussolini. Ungarn wird immer mehr zu einem autoritären, antidemokratischen, streng rassistischen Staat. Jedenfalls ist der Faschismus in Ungarn nicht so weit entfernt, wie ich mir das wünschen würde.

Wie werden die nächsten Wahlen in Ungarn ausgehen?

Viktor Orbáns Fidesz wird gewinnen. Sie hat das Wahlgesetz so verändert, dass niemand außer ihnen gewinnen kann. Es ist mittlerweile auch gefährlich, eine Oppositionspartei zu unterstützen. Viele bekannte Sozialisten verloren bereits dafür ihren Job. Auch die fast gänzlich fehlende freie Presse macht die Arbeit der Opposition schwierig. Die staatlichen Propagandamöglichkeiten hingegen sind praktisch unendlich.

Du bist ja auch ein bekannter Systemkritiker. Wie ist es für dich in Ungarn, spürst du die Veränderungen?

Natürlich. Ich verhungere. Die Oppositionszeitungen zahlen nicht mehr. Die Hälfte meines Einkommens kam vom Journalismus. Trotzdem hat sich meine Situation in gewisser Hinsicht auch verbessert. Vor zwei Jahren wurde ich auf der Straße angebrüllt und als Landesverräter oder »Saujud« beschimpft, heute schütteln mir die Leute auf der Straße die Hand: »Sie haben Recht gehabt.« Ich glaube, die Straße wird bald auf die Entwicklung reagieren.

Quelle: http://ch.indymedia.org/de/2012/01/84896.shtml

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