Jemens Präsident Ali Abdullah Saleh hat seinen Rückzug erklärt, der Weg ist frei für Reformen. Doch Tawakkul Karman, die nun den Friedensnobelpreis erhält, fordert die Revolution. Die Jugend steht hinter ihr.
Wenn es nach Jemens politischer Elite geht, ist die Revolution abgesagt. Schliesslich hat der seit 33 Jahren regierende Präsident Ali Abdullah Saleh gerade mit Brief und Siegel seinen Rücktritt erklärt, knapp neun Monate nachdem eine Gruppe von StudentInnen und jungen AktivistInnen zum ersten Mal gegen ihn auf die Strasse ging. Für Ende Februar sind Neuwahlen angekündigt, bis dahin soll der Oppositionspolitiker Muhammad Basindwa, einst Salehs Aussenminister, eine Übergangsregierung bilden. Die grösste Stammeskonföderation soll bereits eingebunden sein. In den Palästen und ihren Hinterzimmern stehen die Zeichen auf Kompromiss, allenfalls Reformen; nicht auf Umsturz, nicht auf Neuanfang. Genau so will es Saudi-Arabien, der mächtige Nachbar im Norden, der Salehs Abzug ausgehandelt hat.
Doch Jemens Jugend gibt ihre Revolution nicht auf. Diejenigen, die seit Anfang Februar vor der Universität der Hauptstadt Sanaa für den Wandel in ihrem Heimatland kämpfen, wollen sich diesmal nicht mit einer der üblichen Rochaden der Mächtigen zufriedengeben – erst recht nicht jetzt, wo der Präsident endlich gefallen ist.
Die Saleh zugestandene Straffreiheit sei eine Schande, sagt die Galionsfigur der Proteste, die 32-jährige Tawakkul Karman. «Es ist empörend, jemandem Immunität zuzusichern, der für den Tod von Hunderten Revolutionären verantwortlich ist.» Trotz Salehs Rückzug werden Demonstrierende weiterhin erschossen. Auf den Strassen Jemens herrscht weiter Krieg.
Niemand weiss derzeit, wer siegen wird. Denkbar, dass Tawakkul Karman bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises am 10. Dezember in Oslo bereits weitgehend das Scheitern ihres Engagements eingestehen muss – oder dass das Patt in Sanaa dann noch anhält. Mehrfach hat Karman seit der Bekanntgabe ihrer Ehrung an die internationale Gemeinschaft appelliert, die Anliegen der jemenitischen Demokratiebewegung ernst zu nehmen. In einem Kommentar für den britischen «Guardian» bezeichnete sie es als Grundfehler des Westens, im Fall Jemens nur von einer politischen Krise zu sprechen. «Wir Jemeniten bestehen darauf, dass es sich um eine Revolution handelt – nicht nur eine der Worte, sondern eine mit unserem Blut, das das Regime weiterhin vergiesst.» Ihr Volk sei genauso hungrig nach Freiheit und Menschenwürde, wie es die TunesierInnen beim Aufstand gegen Zine al-Abidine Ben Ali gewesen seien.
Über Nacht zur Revolutionärin
Seit Jahren schon legt sich die Menschenrechtlerin mit Salehs Regime an, fordert Pressefreiheit und grundlegende Menschenrechte. Dabei zeichnet sich die Mutter dreier Kinder durch eine beeindruckende Sturheit aus. Als die Regierung sich weigerte, den SMS-Infoservice ihrer Organisation «Journalistinnen ohne Ketten» zu genehmigen, stellte Karman kurzerhand einen Antrag auf Zulassung eines Radio- und Fernsehsenders. «Ein Blick ins jemenitische Fernsehen, und man sieht, wo die Wurzel allen Übels liegt», sagte Karman damals. «Die Verherrlichung des Präsidenten ist das Einzige, worauf es den Kontrolleuren des Ministeriums ankommt. Solange sich diese Mentalität nicht ändert, wird es keinen Fortschritt hin zu freien Medien im Jemen geben.» Auch ihre grossen Sprüche machten die charismatische Frau schnell berühmt.
Auf Transparenten kämpften Karman und ihre Mitstreiterinnen gegen die Zensur im Land. Sie prangerten an, wie korrumpiert das traditionelle Rechtssystem in den Dörfern sei, und forderten ein Ende von Zwangsverheiratungen und Jugendehen. Karman, die früh in die grösste Oppositionspartei al-Islah eintrat, war damals keine Revoluzzerin. Sie wollte Veränderungen innerhalb des Systems erreichen. Bis sie am 14. Januar im Autoradio von Ben Alis Rücktritt erfuhr. Mehr als 10 000 DemonstrantInnen hatten über Stunden vor dem Regierungspalast in Tunis seinen Rücktritt gefordert. Auf einmal befand sich der Präsident im Flugzeug in der Luft, auf der Flucht vor seinem Volk.
Nun schien alles möglich. Am folgenden Abend stellte sich Karman mit ein paar Freundinnen auf den Platz vor der Universität. Ein paar Dutzend kamen. Sie riefen «Geh Saleh, geh», oder: «Das Volk will den Sturz des Regimes.» Am Abend darauf kamen schon ein paar mehr. Gemeinsam liefen die Demonstrantinnen zur tunesischen Botschaft und forderten dort Salehs Rücktritt. Karman war aufgekratzt, konnte es kaum fassen. Aus der Reformerin war über Nacht eine Revolutionärin geworden.
Im Gefängnis
Salehs Sicherheitsapparat sah nicht lange zu. Am 22. Januar, eine Woche nach dem ersten Protest, wurde Karmans Auto an den Strassenrand gedrängt. Eine Gruppe von Männern in Zivil zerrte Karman aus dem Auto und fuhr sie direkt ins Gefängnis. «Ich habe nach einem Haftbefehl gefragt, aber es gab keinen», sagte sie MitdemonstrantInnen Stunden später durch das vergitterte Zellenfenster. «Sie waren brutal, und sie haben mir nicht gesagt, wer sie sind oder was sie wollen.» Das Gespräch mit Karman zeichneten ihre FreundInnen mit einem Handy auf, das Video stellten sie ins Internet. Gleichzeitig verkündeten sie bei der Demonstration, zu der sich wieder Hunderte vor der Universität zusammenfanden, was passiert war.
An diesem Abend zogen so viele DemonstrantInnen durch Sanaas Strassen wie nie zuvor. Ständig schlossen sich neue Leute dem Zug an. Sie riefen: «Freiheit für Tawakkul Karman», und trugen Transparente mit deren Foto durch die Strassen. Es war aussergewöhnlich, dass sich so viele Männer für die Freilassung einer Frau einsetzten – das hatte es im patriarchalischen Jemen noch nie gegeben. Am nächsten Morgen wurde Karman freigelassen. Kurze Zeit später war sie wieder auf der Strasse und führte einen neuen Protestzug an. «Wir werden weiterkämpfen, bis Ali Abdullah Saleh und sein Regime fallen», kündigte sie eine Woche nach ihrer Verhaftung an.
Tawakkul Karman ist eine ungewöhnliche Revolutionärin. So gut wie möglich versucht sie, Familie und Aktivismus miteinander zu vereinbaren. Während die Kinder im Wohnzimmer zu Abend essen, verfolgt sie die Fernsehnachrichten. Ein Team von al-Dschasira ist dabei, als sie die kleine Tochter mit einer Spider-Man-Bettdecke zudeckt und ihr einen Gutenachtkuss gibt. Das Regime hat unterdessen alles versucht, um die immer prominentere Karman zum Rückzug zu bewegen. «Mir wurde mit Gefängnis und dem Tod gedroht», sagt sie. «Man hat mir auch Geld angeboten und ein Regierungsamt.» Doch sie beugt sich nicht. Ihrem Bruder Tarek liess Saleh persönlich mitteilen: «Bring deine Schwester unter Kontrolle. Jeder, der mir nicht gehorcht, wird getötet werden.» Karmans ältere Tochter sagte in einem Fernsehinterview: «Ich bin stolz auf meine Mutter, aber ich mache mir auch Sorgen.» Ihrem Mann geht es ähnlich. «Ich musste ihr schon bei der Hochzeit versprechen, sie nie von ihrem politischen Engagement abzuhalten», sagt er. «Ich wünschte, ich wäre selbst in der Lage, das zu tun, was sie kann – aber weil dem nicht so ist, unterstütze ich sie bei allem, was sie tut.»
Eine Islamistin?
Was als politisches Machtspiel begann, ist schnell zu einem Kampf auf Leben und Tod geworden. Für Saleh ging es von Anfang an um alles. Die Jugendrevolte hatte ihm gerade noch gefehlt. Im Norden haben die Huthirebellen – eine Allianz schiitischer Stämme aus dem unwegsamen Grenzgebiet zu Saudi-Arabien, die die Errichtung eines Gottesstaats fordern – die Kontrolle über immer grössere Gebiete und auch die grösste Stadt der Region, Saada, übernommen. Im Süden Jemens, wo die wichtigen Ölreserven liegen, ist unterdessen die Unabhängigkeitsbewegung immer stärker geworden. Zudem ist der Staat beinahe pleite.
Umso aggressiver reagierte Saleh. Als sich am 18. März DemonstrantInnen zu einem Massenprotest vor der Universität zusammenfanden, liess er erstmals Scharfschützen auf den Dächern der umliegenden Häuser platzieren. Am Abend waren mindestens 53 DemonstrantInnen tot, mehr als hundert schwer verletzt. Ausländische Medien, die die Proteste im Jemen über den Entwicklungen in Ägypten, Libyen und Syrien fast vergessen hatten, sprachen von einem Blutbad.
Einstige Gefolgsleute Salehs spürten an diesem Tag dessen Schwäche und setzten sich ab. Formal haben sie ihre Unterstützung für die Demokratiebewegung erklärt, doch in Wirklichkeit verfolgen viele der bewaffneten Gruppen eigene Interessen. Karman kommt gelegentlich in Erklärungsnot, etwa als Abdul Madschid al-Sindani, der von den USA als Al-Kaida-Terrorist gebrandmarkte Führer des islamistischen Flügels der Islah, vor Demonstranten den Gottesstaat ausruft. «Wir hatten einen Streit darüber, ob wir al-Sindani sprechen lassen sollen», sagte Karman später. «Ich war dagegen. Wir sind eine Jugendbewegung, keine religiöse.»
Das neue Selbstbewusstsein
Immer wieder muss Karman sich vorwerfen lassen, den IslamistInnen nahezustehen. «Die Extremisten hassen mich», sagt sie dann. «Sie lassen in den Moscheen gegen mich hetzen und verdammen mich als unislamisch.» Zur Islah hat sie mit der Zeit ein gespaltenes Verhältnis entwickelt. Die Partei sei für sie als Frau die beste Möglichkeit gewesen, politisch Einfluss zu nehmen, sagt sie. «Ich spreche nicht für die Islah-Partei, und ich bin nicht an ihre Beschlüsse gebunden», sagt Karman, die anders als die meisten Jemenitinnen keinen Gesichtsschleier trägt. «Es sind alleine meine Überzeugungen, die meine Positionen prägen, und ich frage niemanden um Erlaubnis.»
Die Islamismus-Vorwürfe gegen Karman bedienen Ressentiments, die den Westen seit Beginn der Proteste von klaren Botschaften abgehalten haben. Der Jemen ist seit langem für die Terrorgefahr durch Al-Kaida-Zellen berüchtigt, die der jetzt abtretende Präsident Saleh immer wieder heraufbeschworen hat – nicht zuletzt, um Geld und Unterstützung aus den USA zu sichern. Eine Revolution mit ungewissem Ausgang scheint das Letzte, was der Westen riskieren will. Karmans eigener Vorschlag eines vom Volk bestimmten Übergangsrats klingt vielen in Washington und anderswo zu unberechenbar. Nicht wenige ihrer MitstreiterInnen befürchten deshalb, dass der Plan der alten Garde aus dem Ausland unterstützt werden wird.
Doch die junge Bevölkerungsmehrheit hat in den vergangenen Monaten ein ungekanntes Selbstbewusstsein entwickelt, das ihr niemand mehr nehmen kann. Die saudische Aktivistin Eman al-Nafdschan ist sich sicher, dass der Friedensnobelpreis für Tawakkul Karman die Rolle der Frauen in der arabischen Welt auf Dauer stärken wird. «Bisher hat man uns Frauen in der arabischen Welt nicht ernst genommen; aber das wird sich ändern, jetzt wo der Rest der Welt uns wahrnimmt.» Die Zukunft der Revolution im Jemen liegt auf den Schultern der Jugend – und vor allem der jungen Frauen.
Marc Engelhardts Biografien der Nobelpreisträgerinnen Tawakkul Karman, Ellen Johnson Sirleaf und Leymah Gbowee, «Starke Frauen für den Frieden», sind gerade im Herder-Verlag (Freiburg im Breisgau) erschienen.
Quelle: WOZ vom 01.12.2011