Aus Kritik am Leerstand und mit vielen Ideen zur sofortigen Nutzung besetzte eine Gruppe von Aktivist*innen im Sommer 2022 ein Haus an zentraler Lage der Luzerner Neustadt. Trotz zuvorkommender Kommunikation, positivem Feedback aus der Politik und guten Beziehungen in der Nachbar*innenschaft wurde die Belebung des Hauses von den Eigentümer*innen verhindert und polizeilich geräumt. Drei Aktivist*innen wurde ein energieraubendes und teures Strafverfahren aufgehalst. Eure Soli-Gelder fliessen in diese horrenden Geldstrafen, welche den Aktivist*innen aufgedrückt wurden.
Zweienhalb Jahre stand das Haus an der Bruchstrasse 64 leer, bevor es im Juni 2022 von den Aktivist*innen für mehrere Wochen wiederbelebt wurde. Zuvor wurde den Menschen, die darin wohnten, gekündigt, weil es totalsaniert werden sollte. Saniert wurde es nie, dafür zweimal weiterverkauft. Zuletzt an die Firma Corgi Real Estate, deren Präsident Fritz Burkhard zu einer der 60 reichsten Familien in der Schweiz gehört. Der seit Jahren andauernde Leerstand an der Bruchstrasse 64 vermehrt den Reichtum deren, die bereits mehr als genug haben, während Mieter*innen durch hohe Mieten und Wohungsknappheit aus der Stadt verdrängt werden.
Umbruch im Bruchquartier
Eine Gruppe von Aktivist*innen hat sich gewehrt – gegen die Spekulation mit Häusern und Räumen. Sie haben das Haus an der Bruchstrasse 64 für mehrere Wochen wiederbelebt und aufgezeigt: Es braucht Wohnraum für Alle, eine Stadt für Alle.
Am 21. Juni 2022 kommt neues Leben in das Haus an der Bruchstrasse: Transpis hängen aus dem Fenster. «Umbruch im Bruchquartier» steht darauf und «Die Häuser denen, die sie beleben». Das Kollektiv veranstaltet einen Apéro am Fenstersims, lädt ein zu KüfA und Nachbar:innentreffen. Es finden Gespräche aus dem Fenster statt und Filmabende.
Die Bruch-Besetzung polarisiert: Die Besetzer*innen aus der Bruchstrasse tragen wichtige Fragen zum Diskurs über städtische Wohnraumpolitik bei. Mit ihrer direkten Aktion vermögen sie aufzuzeigen, dass es dringend ein Umdenken braucht, wie mit dem städtischen Raum umgegangen wird und wer darüber verfügen kann. Anhand des konkreten Beispiels aus der Bruchstrasse, diskutierten die Jungparteien und der Mieter*innenverband über bezahlbaren Wohnraum und Recht auf Stadt.
11 Monate später: Das Haus steht leer und wurde bis ins dritte Geschoss zugegittert. Es häufen sich die eingeschriebenen Briefe, es stapeln sich die Rechnungen. Repression trifft oft einzelne, wie auch in diesem Fall. Doch gemeint sind wir alle. Alle, die sich über die Belebung und Vernetzung in der Bruchstrasse gefreut haben, alle die mitdiskutierten und Content auf Instagram teilten, alle die sich eine lebendige Stadt wünschen, die zugänglich ist für jede*n, unabhängig von Einkommen oder Herkunft. Wir alle wurden mitgebüsst, unsere Ideen für verboten erklärt und unsere Motivation gestraft.
Stop Gentrification. Es geht weiter!
Die Stadt soll nicht von den Reichen geformt werden. Luzern gehört denen, die darin wohnen, arbeiten, leben. Luzern gehört denen, die es beleben. Das sind auch die Unkaufkräftigen, die Einflussarmen, die politisch Ungehörten und Unvertretenen und die Ausgegrenzten!
Wir finden es absurd, dass gewisse Personen die Macht haben, Gebäude ohne mit der Wimper zu zucken jahrelang leer stehen lassen können, während andere drei Jobs gleichzeitig haben und trotzdem ihr zuhause aufgeben müssen, weil sie sich die steigenden Strompreise und Mieten nicht mehr leisten können.
Das Recht auf Zentralität bedeutet, sich durch den gesamten städtischen Raum bewegen zu können, ihn zu nutzen, in ihm zu spielen, sich zu begegnen, sich auszutauschen. Es geht um mehr als einen Schlafplatz, eine Arbeitsstelle, einen Eventbesuch oder eine Shoppingtour durch die Einkaufszone. Es geht um den Zugang zur ganzen Palette städtischer Möglichkeiten und Ressourcen wie Wohnen, Bildung, Einkommen, Gesundheitsversorgung.
Luzern braucht Freiräume und unkommerzielle Austauschorte. Räume, die mensch selber gestlaten kann, für Kreativität, Begegnung und Vernetzung. Selbstorganisierte Räume verschwinden einer nach dem andern aus der Stadt. LUZERN BRAUCHT WIEDER MEHR LEBEN UND LIEBE! Und deine finanzielle Unterstützung!
Repressionskosten gemeinsam zu tragen ist notwendig, damit die politische Arbeit gegen Gegentrifizierung, für eine Stadt für Alle weitergehen kann:
Wir brauchen Geld. Wir brauchen deine Unterstützung.
Am Dienstag und Mittwoch kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Asylbewerber*innen im Asylzentrum Glaubenberg, mehrere Personen wurden verletzt. Ausserdem berichten die Bewohner*innen, dass sie in den Zimmern eingeschlossen seien und nichts zu essen bekommen.
Viele von ihnen sind verängstigt. Sie sagen, dass das Bundes-Asylzentrum Glaubenberg kein sicherer Ort ist. Mehrere befinden sich in einem Hungerstreik. Besonders betroffen sind auf dem Glaubenberg untergebrachte Kinder.
Wir stehen den Bundes-Asylzentren schon lange kritisch gegenüber. Die neusten Ausschreitungen und die Berichte, dass die Kapazität sogar noch erhöht werden soll, bringen das Fass zum überlaufen. Wir fordern deshalb die sofortige Schliessung der Bundes-Asylzentren. Schutzsuchende sollen nach ihren Bedürfnissen und Wünschen untergebracht werden.
Das inhumane Ghettoisieren von Menschen in abgelegenen Gegenden hat schon lange versagt. Immer wieder kommt es zu Spannungen oder Auseinandersetzungen in den Bundes-Asylzentren. Wir erinnern ausdrücklich daran, dass es bei den Bewohner*innen des BAZ Glaubenberg um Schutzsuchende Menschen handelt und darunter auch Kinder sind. Viele von ihnen haben auf Grund von Flucht und Vertreibung psychische Probleme.
Die Entmenschlichunng derer, die wie Aussätzige ausserhalb der Stadtmauern de facto gefangen gehalten werdenden, Schutzsuchenden und die daraus resultierenden neusten Auseinandersetzungen sind die Konsequenz der vorherrschenden unmenschlichen Politik in diesem Land und ganz Europa!
Menschen, die vor Krieg, Armut, Klimakatastrophen und anderem Elend fliehen, muss eine Perspektive geboten werden. Sie dürfen nicht fern ab der Gesellschaft abgeschottet werden. Wir fordern die Möglichkeit zur Integration statt Isolation!
Deshalb müssen die Bundes-Asylzentren jetzt geschlossen werden. Nicht nur auf dem Glaubenberg.
Vor zwei Jahren erschoss ein Polizist den Zürcher Nzoy. Seither fordern Angehörige und Aktivist:innen, dass er zur Rechenschaft gezogen wird. Doch der Kampf um Gerechtigkeit für Nzoy geht über den Einzelfall hinaus.
Es ist der 21. August 2021. Auf dem Perron des Bahnhofs Morges (VD) stehen vier Polizisten einem Mann gegenüber. Der Mann geht auf sie zu, ein Polizist zückt seine Waffe und drückt zweimal ab. Der Mann geht zu Boden, richtet sich wieder auf, der Polizist schiesst erneut. Der Mann bleibt liegen.
Ein Polizist legt dem Mann Handschellen an. Rund vier Minuten stehen die Beamten anschliessend tatenlos um ihn herum. Der Mann stirbt noch am Tatort. Roger «Nzoy» Wilhelm aus Zürich wurde 37 Jahre alt.
Nach und nach tauchen Handyvideos und Augenzeugenberichte auf, die die Version der Polizei in Zweifel ziehen. Nzoy hatte kein Messer in der Hand. Eine Tatsache, die der Polizist, der die tödlichen Schüsse abgab, gegenüber der Staatsanwalt bekräftigte: Er habe kein Messer gesehen. In ihrer ersten Medienmitteilung behauptete die Polizei zudem, dass die Beamten sofort Erste Hilfe leisteten – auf Videos sieht man sie untätig rumstehen. Als sie den Krankenwagen riefen, beschrieb einer von ihnen Nzoy als «homme de couleur», gab aber keine Informationen über seinen Gesundheitszustand durch.
Staatsanwalt Laurent Maye leitete gegen den Schützen ein Verfahren wegen vorsätzlicher Tötung ein. Sein Ermittlungseifer hält sich jedoch in Grenzen. Auch über zwei Jahre nach der Tat ist unklar, ob er überhaupt Anklage erheben wird. Der Mörder von Nzoy ist bis heute im Dienst und trägt eine Waffe.
Innerhalb von viereinhalb Jahren hat die Waadtländer Polizei vier Menschen getötet. Transpikation am 26. August 2023 in Bern.
Diese Farce fand ihren Höhepunkt im Plädoyer von Staatsanwalt Maye: Er forderte einen Freispruch. Das Gericht folgte ihm.
Immerhin: Als zwei Wochen später der Mord an Nahel durch die Pariser Polizei in ganz Frankreich Riots auslöste, versammelten sich auch in Lausanne über hundert Jugendliche zu einem Krawall.
«Nzoy war ein bekanntes Gesicht im Kreis 4. Sein Tod bewegt noch heute.» – Wandbild auf dem Zürcher Kanzleiareal
Angehörige kämpfen für Gerechtigkeit
Die Fälle von Mike und Nzoy haben viel gemeinsam. Nur wegen des unermüdlichen Engagements der Angehörigen bekamen die Fälle überhaupt eine gewisse Öffentlichkeit. Sie müssen selber Untersuchungen anstellen. Sie sammeln Beweise, bezahlen Anwälte und Gutachten. Der Staat bleibt nicht nur untätig, sondern legt ihnen Steine in den Weg, wo er nur kann. So mussten die Geschwister von Nzoy zuerst nachweisen, dass sie ein enges Verhältnis hatten, um überhaupt als Nebenkläger:innen zugelassen zu werden. Als sie schliesslich dem Verhör der Polizisten beiwohnen konnten, weigerte sich der Staatsanwalt, einen Dolmetscher zuzulassen.
Alles muss man selber machen – mittels Plakat am Bahnhof Morges werden Zeug:innen gesucht
Die Angehörigen stehen einem Staatsapparat gegenüber, der sie mit Schikanen und Demütigungen zu zermürben versucht. Doch sie geben nicht auf, sondern organisieren sich: «Wir vernetzen uns mit den Angehörigen anderer Opfer und mit Aktivist:innen. Das ist wichtig, weil es das Einzelfall-Narrativ durchbricht und die Systematik des staatlichen Vertuschens aufzeigt», erzählt Janet vom Bündnis «Justice4Nzoy». Im Bündnis organisieren sich Freund:innen von Nzoy und antirassistische Aktivist:innen, um die Angehörigen zu unterstützen und öffentliche Aufmerksamkeit auf den Fall zu lenken. Mehrmals organisierte das Bündnis Demonstrationen und Kundgebungen in Zürich, Morges und Lausanne. Öffentliche Aufmerksamkeit sei unerlässlich für Fälle von Polizeigewalt, erklärt Janet: «Staatsanwalt und Polizei wollen, dass man Nzoy vergisst, damit sie einfach weitermachen können. Doch das werden wir nicht zulassen!»
Im Zentrum steht die Kritik an Racial Profiling, also die polizeiliche Praxis, People of Color übermässig oft und verdachtsunabhängig zu kontrollieren. Dass die vier Polizist:innen in Morges einen Mann, der sich offensichtlich in einem psychisch aufgewühlten Zustand befand, für eine Gefahr hielten, lag an seiner Hautfarbe. Ebenso, dass sie ihm zuerst Handschellen anlegten, nachdem sie ihn niedergeschossen hatten und dass sie tatenlos rumstanden bis nach mehreren Minuten ein zufällig vorbeikommender Krankenpfleger darauf bestand, Erste Hilfe zu leisten. Sie interessierten sich nicht dafür, ihrem Opfer das Leben zu retten, sondern nur, dass es sich um einen «homme de couleur» handelte.
Wie bei Mike und Nahel war es auch bei Nzoy der Rassismus, der dafür verantwortlich war, dass ein Mensch wegen einer Bagatelle getötet wurde.
«Die Vernetzung mit anderen Angehörigen und Aktivist:innen gibt Kraft und durchbricht das Einzelfall-Narrativ, weil es die Systematik des staatlichen Vertuschens aufzeigt». Justice4Nzoy an der internationalen Demonstration zum Tag gegen Polizeigewalt in Paris, März 2023
Spitze des Eisbergs
Doch die Kritik an Racial Profiling geht weiter. Der Fall Nzoy kann nicht auf eine fatale Schussabgabe an jenem Augustabend in Morges reduziert werden. «Nzoy hatte Angst vor der Polizei», erzählt Janet, die seit vielen Jahren mit Nzoy befreundet war, «Er wurde in seinem Leben so oft kontrolliert und schikaniert. Kein Wunder reagierte er panisch, als die Polizisten auf ihn zukamen.»
Nzoy war oft im Zürcher Kreis 4 unterwegs. Hier kennt man sein Gesicht und seine Geschichte. «Beim Plakatieren werden wir oft angesprochen. Leute fragen nach Plakaten und erzählen Geschichten von ihm. Sein Tod bewegt die Menschen im Quartier noch heute,» berichtet Diego, der ebenfalls in der Justice4Nzoy-Kampagne aktiv ist.
Im Kreis 4 kann man als Person of Color kaum durch die Strassen spazieren, ohne von der Polizei kontrolliert oder zumindest kritisch gemustert zu werden. Die Beamt:innen des lokalen Polizeireviers sind berüchtigt dafür, dass sie Verhaftete schikanieren, rassistisch beleidigen und gewalttätig vorgehen. «Hier brauchen wir niemandem zu erklären, was Racial Profiling ist. Und es fragt auch niemand, welchen Grund die Polizisten hatten, Nzoy zu erschiessen», sagt Diego.
Über den Einzelfall hinaus
Die Justice4Nzoy-Kampagne wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt für die antirassistische Bewegung in Zürich. Beinahe an jeder Ecke hängen Konterfeis von Nzoy, sie zieren Pullis, T-Shirts und Taschen. Die Schriftart der Plakate wurde von einem PoC-Kollektiv entworfen. Am antifaschistischen Unite!-Festival traten mehrere Freund:innen von Nzoy auf, wie Janet erzählt: «Die Kampagne bringt uns, die Freund:innen, Familie und antirassistische Aktivist:innen immer wieder zusammen. Die Vernetzung die dabei entsteht, wirkt über die verschiedenen Anlässe hinaus. Das ist unglaublich wichtig.» Wichtig nicht nur für Angehörige und Betroffene von Polizeigewalt, wie Diego ergänzt, sondern auch für die antirassistische und antifaschistische Bewegung: «Der Tod von Nzoy zeigt uns, dass Rassismus kein abstrakter Begriff, sondern eine konkrete Realität ist. Darum muss Antirassismus mehr als ein Bekenntnis sein, es geht um praktische Solidarität. Diese Solidarität wollen wir ausweiten. Wir wissen, dass die Cops gewalttätig sind und Menschen töten. Doch sie sollen damit in Zukunft nicht mehr so einfach davonkommen.»
Widerstand von unten bauen heisst, sich im Kampf gegen Faschismus nicht auf den Staat zu verlassen. Das bedeutet unter anderem, dass Wahlen an der momentanen Situation nicht wirklich etwas verbessern werden. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Der wohl offensichtlichste Grund ist die durch demokratische Wahlen vermeintliche Legitimation von Parteien, welche offen reaktionäre Ideologien propagieren und versuchen, ihre faschistoiden Ideen in der Gesellschaft zu verbreiten. Darunter fallen alle jene, die gegen Minderheiten hetzen, sich gegen solidarische Gesellschaftsentwürfe stellen oder Profit über Mensch und Umwelt stellen. Solche Positionen finden sich nicht nur bei der SVP, sondern ziehen sich bis weit in die politische Mitte und finden in Ansätzen auch im bürgerlichen Flügel der SP durchaus Anklang. Problematisch dabei ist, dass das Attribut «demokratisch gewählt» suggeriert, dass die Vertretenen Haltungen im weitesten Sinne legitim sind und deshalb nicht allzu verwerflich sein können. Nicht nur der rechten Rand, sondern auch vermeintlich gemässigte «Mitteparteien» propagieren so staatlich legitimiert zutiefst menschenverachtende Inhalte. Doch auch Parteien, die sich progressiv geben, können nicht wirklich etwas gegen die Zustände tun. Denn manche Dinge stehen gar nicht erst zur Wahl. So darf zwar gewählt werden, wer beherrscht, die Herrschaft an sich wird durch Wahlen jedoch nie infrage gestellt. Auch das kapitalistische Wirtschaftssystem als Grundpfeiler unserer Gesellschaft steht nicht zur Wahl. Die grundlegenden Bedingungen des Zusammenlebens werden durch Wahlen nicht verändert.
Eine Demokratie zeichne sich, so die Annahme, dadurch aus, dass durch die Teilnahme an Wahlen «alle» mithelfen können, das System in ihrem Interesse mitzugestalten. Wie fadenscheinig dieses Versprechen ist, lässt sich am Begriff «alle» schön aufzeigen: Nur rund 5,5 der 8,7 Millionen Menschen in der Schweiz sind überhaupt stimmberechtigt, davon beteiligt sich weniger als die Hälfte tatsächlich an Wahlen/Abstimmungen1. Personengruppen wie Migrant:innen ohne Schweizer Pass werden von Wahlen und Abstimmungen grundsätzlich ausgeschlossen, obwohl sie rund ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Dass diese Menschen strukturell benachteiligt werden und besonders oft von prekären Lebensbedingungen betroffen sind, macht die fehlende Möglichkeit zur Mitbestimmung umso zynischer. Auch dieses Beispiel zeigt, dass Wahlen als Mittel zur tatsächlichen Umverteilung von Kapital und Macht nur einen minimalen Beitrag leisten können und vielmehr dazu dienen, bestehende Machtstrukturen aufrecht zu erhalten.
Trotz dieser Mängel werden Wahlen häufig als Lösung für die Unzufriedenheit mit der momentanen Situation inszeniert. Dass dies aus oben genannten Gründen nicht funktionieren kann, wollen insbesondere jene nicht zugeben, die von diesem System profitieren. Auf perfide Weise wird schlussendlich die Schuld an jeglichen Miseren all jenen zugeschoben, die sich nicht am System der Wahl beteiligen wollen. Denn hätte mensch gewählt, so das Argument, wären jetzt vielleicht andere an der Macht und die Verhältnisse wären besser. Hat mensch aber gewählt, so wurde dem System ja grundsätzlich zugestimmt und mensch muss sich nun halt mit der Niederlage abfinden. So oder so bleibt das Ergebnis der Wahl das gleiche.
Zudem darf nicht vergessen werden, dass Wahlen Türöffner für faschistische Regimes und Machtansprüche sein können. So gibt es mehrere historische Beispiele für faschistische Herrschaft, welche mitunter durch demokratische Wahlen ermöglicht wurde. Selbst Parteien, die sich als antifaschistisch verstehen sind keine guten Verbündeten im Kampf gegen Faschismus, denn auch wenn sie ihre Bemühungen durchaus ernst meinen, sind sie doch den Sachzwängen unterworfen und haben akzeptiert, dass Herrschaft und Kapitalismus Grundpfeiler der Gesellschaft sind. Werden Faschist:innen gewählt, sind auch antifaschistische Parteien im Rahmen des Parlaments gezwungen, diese als «gleichwertige Entscheidungsträger:innen» zu tolerieren.
Schlussendlich scheint auf der Hand zu liegen, dass eine Teilnahme an Wahlen mit dem Motiv grundlegende Veränderungen herbeizuführen bestenfalls naiv sein kann. Trotzdem kann durch Teilnahme an Wahlen auch Schadensbegrenzung betrieben werden, zumal eine Verschlimmerung der Gesamtsituation aufgrund von Wahlergebnissen durchaus möglich ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich auch unsere politischen Gegner:innen aktiv an Wahlen beteiligen und so immer wieder an Macht und Einfluss gewinnen. Natürlich ist jede Wahl im weiteren Sinne auch eine Zustimmung zum momentanen System, ob ein radikaler Boykott der Wahl zum jetzigen Zeitpunkt als revolutionäres Mittel zielführend ist, bleibt aus unserer Sicht aber offen.
Was bleibt ist eine Organisierung ausserhalb der Parlamente. Die Antwort auf die Normalisierung und Verbreitung von faschistischen Ideen muss eine grossflächige, nachhaltige und ausserparlamentarische antifaschistische Organisierung sein. In einem politischen System, welches Faschismus begünstigt braucht es selbstorganisierten Widerstand aus der Zivilgesellschaft. Anstatt darauf zu hoffen von Politiker:innen gerettet zu werden, müssen wir uns verbünden und unseren Widerstand laut auf die Strassen tragen. Darum: Widerstand von unten bauen, Antifa heisst zueinander schauen.
Heraus zum antifaschistischen Abendspaziergang 28.10.2023 18:30 Bern Bahnhofplatz
Mass-Voll, Freiheitstrychler, sowie Verschwörungstheoretiker:innen und weitere rechte Gruppierungen mobilisieren für Samstag den 21. Oktober zu einer «Dreiländer-Demo» in den St. Johanns-Park. Das wollen wir nicht zulassen! Deshalb rufen wir alle dazu auf, sich diesem Aufmarsch entgegenzustellen!
Mass-Voll, die bei den Nationalratswahlen Ende Oktober 2023 auch in Listenverbindung mit der SVP kandidiert, setzte sich in letzter Zeit immer deutlicher mit rechtsextremen Organisationen wie z.B. der Jungen Tat in Verbindung. Unter anderem wird das mittlerweile offen rechtsextreme Aushängeschild der Partei, Nicolas Rimoldi, als Redner erwartet. Nicht nur trat dieser letzten Monat, gemeinsam mit der Neonazigruppe Junge Tat, an der «Remigrationsdemo» der rechtsextremen Identitären Bewegung in Wien auf, sondern zeigte sich ebenfalls mit den Nazis in einem Kurzvideo, wie sie in Chiasso einen menschenwidrigen «Grenzzaun» aufbauen und sich dabei rassistischen Stereotypen bedienen.
Diese Mobilisierung in den St.Johannspark ist der Versuch der Neuen Rechten – zusammengesetzt aus Verschwörungstheoretiker:innen, Neonazis und parlamentarischen Rechten – gemeinsam aufzutreten, sich zu vernetzen und Wahlkampf zu betreiben. Ihre Positionen stehen für ein Frauen- und queerfeindliches, sowie zutiefst rassistisches und antisemitisches Weltbild! Gerade heute, wo wir einen europaweiten Rechtsruck erleben, rufen wir alle Antifaschist:innen dazu auf, diesen Aufmarsch zu verhindern!
Werden wir gemeinsam aktiv und zeigen wir, dass Basel kein Pflaster für Rechtsextreme ist! Stellen wir uns gemeinsam den rechten Strukturen entgegen! Vertreiben wir sie aus unseren Quartieren und aus unseren Städten!
Auf der Website Baselnazifrei.info findet ihr eine längere Version des Aufrufs und Recherche-Hinweise. Wenn ihr Mobi-Material für euer Umfeld bestellen wollt, schreibt uns eine Mail. Haltet euch auf dem Laufenden!
Die katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise werden immer deutlicher sichtbar. Um das Pariser Klimaabkommen noch einhalten zu können, müssen wir jetzt handeln. Am 30. September gehen wir deswegen gemeinsam für Klimagerechtigkeit auf die Strasse.
Am 13. September 2022 zwischen 18:00 und 18:30 verliess Jina Mahsa Amini die U-Bahn mit ihren drei Begleiter*innen, als sie von der iranischen Sittenpolizei wegen angeblich «unislamischer Kleidung» angehalten wurde. Unter Protest wurde sie gewaltsam festgenommen ihrem ebenfalls protestierenden Bruder, der sie begleitete, wurde mitgeteilt, dass Mahsa eine „Erziehungs- und Orientierungs-Lektion“ erhalten und nach einer Stunde freigelassen würde. Dazu sollte es aber nie kommen.
Ihre drei Begleiter*innen folgten dem Polizeiwagen zur Vozava Polizeistation, wo sie 2 Stunden auf Mahsa wartete. Nach ihren Angaben hörten sie und andere beim Warten Schreie aus der Wache. Viele Frauen, die das Gebäude verliessen, erklärten: „Die haben da drin jemanden umgebracht.“ Nach anderen Angaben sagten sie: „Sie haben sie [Jina Mahsa Amini] getötet.“
Später freigegebene Überwachungsvideos zeigen, wie Jina mit anderen Frauen aus einem Polizeibus stieg und die Stufen zur Polizeiwache hinaufgeführt wurde. Dort saß sie eine Weile in einem Warteraum, stand dann auf, sprach eine Polizistin an und zeigte ihr ihren langen Umhang. Um 7:56 Uhr legte sie ihre Hände auf ihren Kopf, streckte sich kurz und brach dann zusammen.
Nach ihrem Kollaps kam ein Krankenwagen und brachte sie in das Kasra-Krankenhaus in Teheran. Laut ihrem Cousin brauchte der Krankenwagen 30 Minuten bis zur Polizeiwache und nochmals anderthalb Stunden bis zum Krankenhaus. Nach einem Krankenhausbericht erlitt Jina Amini ein Schädel-Hirn-Trauma und war schon bei der Ankunft medizinisch tot. Sie lag noch zweieinhalb Tage lang im Koma, bis sie am 16. September 2022 offiziell für tot erklärt wurde.
Am 21. September 2022 wäre sie 23 Jahre alt geworden
Jina ist Mahsas kurdischer Name, der im Iran verboten ist, dennoch kannten sie alle nur unter dem Namen Jina, weshalb auch wir sie im weiteren Verlauf Jina nennen, werden.
Jina wollte ein unabhängiges Leben nach eigenen Entscheidungen. Verwandte beschrieben sie als scheu, freundlich, hilfsbereit gegenüber Gästen, immer lächelnd und voller Begeisterung und Energie. Genau wie viele andere iranische Frauen lehnte sie die stattliche Hidschab Pflicht ab. Neben Mode liebte sie Musik, Tanz, Reisen, Kunst und Literatur.
Jinas Tod löste im Iran die heftigsten Proteste seit dem Machtantritt des Regimes 1979 und eine unfassbare Welle der Repression aus. Bis zum 8. Dezember 2022 registrierte die Menschenrechtsorganisation HRANA 481 namentlich bekannte sowie etwa 130 unbekannte Todesopfer der Proteste im Iran ab September 2022.
Während die Proteste im Iran für mehr Frauenrechte und gegen das Regime anhalten, ist die internationale Aufmerksamkeit schon lange abgerückt. Im Iran sind Todesstrafen nach unfairen Prozessen so wie Folter und sexuelle Gewalt an der Tagesordnung. Das Regime klammert sich mit allen Mitteln an die Macht und hat es dabei vor allem auf ethnische Minderheiten abgesehen.
Wir fordern die internationale Zivilgesellschaft dazu auf, ihr unbedingte Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Lasst uns dafür und in Solidarität mit der protestierenden Bevölkerung im Iran, ein Jahr nach Jinas offiziellem Tod in Luzern auf die Strasse gehen
Wir stellen uns gemeinsam gegen Rassismus, Kolonialismus und die Klimakatastrophen. Eine unvollständige Übersicht: Der Globale Norden und Konzerne profitieren von der Ausbeutung von Menschen und Ökosystemen und befeuern die Klimakrise. Folge davon sind zunehmende Umweltkatastrophen und Konflikte, welche Millionen von Menschen zur Flucht zwingen. Unzählige Menschen sterben auf der Flucht. Überlebende Migrant*innen erwarten meist menschenfeindliche Asylprozesse und strukturelle Isolation. Das Camp steht für Klimagerechtigkeit und Bewegungsfreiheit für alle. Komm vorbei! www.climatejustice.ch. https://t.me/resitantsummercampbasel
Im Dezember 2017 wurde der Anarchist und Antifaschist Rodrigo Lanza in einer Bar in Saragossa von einem stadtbekannten Neonazi angegriffen. Unter Todesangst wehrte er sich und schlug den Neonazi zu Boden. Wenige Tage nach der Auseinandersetzung erlag dieser seinen Verletzungen. Fünf Jahre später wird Rodrigo zu drakonischen 18,5 Jahren Haft verurteilt. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die staatliche Repression und rechte Medienhetze gegen Antifaschist:innen in Spanien. Aber die Geschichte von Rodrigo und seinen Leidensgenoss:innen beginnt lange vor jener fatalen nächtlichen Begegnung in Saragossa: Sie reicht bis ins Jahr 2006 zurück. Ein Resümee in elf Akten.
Im Altstadtviertel Ribera in Barcelona spielte sich ab den 1990er Jahren ein Konflikt ab, der typisch für den modernen kapitalistischen Urbanismus ist. Im Rahmen von Gentrifizierungsprozessen werden innerstädtische Viertel mit Altbaubestand aufgewertet. Meistens sind es Immobilienunternehmen, doch in diesem Fall ist es der Staat, der sich Land und Wohnobjekte sichern möchte und die proletarischen Viertelbewohner:innen verdrängt. Trotz vehementer Kritik der Einwohner:innen hat er im Jahr 1997 die ersten Wohnungen im Zentrum des Ribera-Viertels aufgekauft und abgerissen. Es entstand eine Leerfläche von etwa sechstausend Quadratmetern. Der beim Abriss entstandene Bauschutt wurde von den Behörden über Wochen liegengelassen, was der Leerfläche den Namen «Forat de la Vergonya» («Schandfleck») einbrachte.
Erst im Jahr 2000 war definitiv klar, was auf der Leerfläche entstehen soll: eine Tiefgarage und ein Sportzentrum. In der Nachbarschaft formierte sich alsbald Widerstand: Das Nachbarschaftskollektiv «Colectivo del Forat» verband sich mit Leuten aus der Hausbesetzer:innenbewegung, die Anfang der 2000er Jahre angefangen hatte, Häuser im Viertel zu besetzen. Gemeinsam besetzten sie die Leerfläche und erschufen einen kollektiven Garten und Begegnungsort. Was folgte, war ein jahrelanger Konflikt zwischen den Behörden auf der einen und den Quartierbewohner:innen und Hausbesetzer:innen auf der anderen Seite. Im Jahr 2002 zerstörte ein grosses Polizeiaufgebot den Garten und umzäunte ihn. Wenige Tage später wurde der Zaun während einer Demonstration wieder abgerissen und der «Schandfleck» erneut kollektiviert. Daraufhin liessen die Behörden über mehrere Jahre von ihren Plänen ab und die Einwohner:innen konnten die Fläche entsprechend ihren Vorstellungen gestalten.
Der «Schandfleck» im Stadtteil «La Ribera» in Barcelona
II. Die Stimmung kippt
Im Jahr 2006 hatten die Behörden ihre Pläne für den Bau einer Tiefgarage und eines Sportzentrums bereits aufgegeben. Dennoch sollte der «Schandfleck» im Rahmen eines Stadterneuerungsprogramms für verarmte Gegenden umgebaut werden. Die von den Behörden propagierte Bürger:innenbeteiligung für das Erneuerungsprojekt versprach den Quartierbewohner:innen, den Umbau mitzugestalten. Das führte zu einer Spaltung in der Nachbarschaft, denn nicht alle waren mit dem Vorhaben der Behörden einverstanden, einen Park zu errichten, der den kollektiv verwaltete Bewegungsort und Garten ersetzen sollte. Zudem misstrauten einige Gruppen ‒ unter anderem auch das «Colectivo del Forat», das massgeblich an der kollektiven Aneignung des «Schandflecks» beteiligt war – der Bürger:innenbeteiligung. Es war daher kaum verwunderlich, dass eine Demonstration im Viertel organisiert wurde, sobald die ersten Bagger eintrafen. Die über Jahre angestaute Wut war nicht mehr zu bändigen. Es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und die lokalen Medien hatten die Verantwortlichen dafür schnell gefunden: die Hausbesetzer:innen. Die im Viertel bereits angespannte Stimmung heizte sich weiter an, als ein Squat in der Nähe des «Schandflecks» geräumt werden sollte. Dessen Räumung sollte langwierige und unerwartete Konsequenzen mit sich bringen.
III. Die verheerende Räumung
Am 4. Februar 2006, am Abend der Räumung der mehrstöckigen Besetzung «Anarko Peña Cultural», organisierten deren Bewohner:innen ein grosse Party mit etwa tausend Leuten. Als die Polizei anrückte, kam es zu Ausschreitungen. Im Zuge dessen wurden Pflanzentöpfe aus den oberen Stöcken des Gebäudes geworfen. Ein Polizist, der ohne Helm aufgerückt war, wurde dabei schwer verletzt. Er ist seither querschnittgelähmt.
Rodrigo, Alex und Juan, alle drei Südamerikaner mit europäischen Pässen in ihren Zwanzigern, waren gegen 6 Uhr morgens auf dem Nachhauseweg, als sie in eine Menschenmenge vor der Besetzung gerieten, die von der Polizei attackiert wurde. Sie wurden im ganzen Durcheinander verhaftet und so brutal mit Schlägen traktiert, dass sie von der Polizei noch am selben Morgen in ein Spital gebracht werden mussten. Einem der drei jungen Männer wurde die Hand dermassen zertrümmert, dass er später eine Operation benötigte. Vier weitere Leute wurden ebenfalls am selben Ort verhaftet.
IV. Eine queere Poetin auf dem Fahrrad
Patricia «Patri» Heras, eine queere Aktivist:in und Poetin mit einer Faszination für Comics arbeitete als Bartender und war an jenem Abend in Trinklaune. Etwa zur selben Zeit, als es vor dem besetzten Haus zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam, befanden sich Patri und ihr Freund Alfredo an einem anderen Ort der Stadt und entschieden sich dafür, ihren Trinkabend zu beenden. Betrunken stiegen sie aufs Fahrrad und wenig später befanden sie sich aufgrund eines Sturzes in einer Ambulanz auf dem Weg ins Spital. Dort begegneten sie Rodrigo, Alex und Juan, die nach der Prügelattacke der Polizei ebenfalls behandelt werden mussten.
Da Patris Aussehen einem subkulturellen, alternativen Kleidungsstil entsprach, entschlossen sich die anwesenden Polizist:innen, sie und ihren Freund Alfredo ebenfalls zu verhaften. Sie durchsuchten Patris Handy und stiessen auf angeblich suspekte Nachrichten, die beweisen sollten, dass sie an den Auseinandersetzungen im Zuge der Räumung beteiligt war. Patri und Alfredo wurden statt aus dem Spital entlassen, zusammen mit Rodrigo, Alex und Juan in ein Polizeiauto gebracht. Wenig später erfuhren sie, dass sie verdächtigt wurden, für die schweren Verletzungen des querschnittgelähmten Polizisten verantwortlich zu sein.
V. Folter und Falschbeschuldigungen
Auch Rodrigo, Alex und Juan wussten zunächst nicht, was ihnen vorgeworfen wurde. Rodrigo erfuhr es erst, als vermummte Polizisten ihn verhörten und folterten. Auf der Polizeistation wurde er zunächst verprügelt, bevor er an Armen und Beinen gepackt und gestreckt wurde während ein Polizist ihn würgte. Die anderen zwei Verhafteten mussten Morddrohungen und rassistische Beleidigungen über sich ergehen lassen. Nach dem «Verhör» wurden sie zur Ermittlungsrichterin Carmen García Martínez gebracht, die nicht daran interessiert war, was den jungen Männern widerfahren war. Ihnen wurde mitgeteilt, dass sie des versuchten Mords bezichtigt wurden, was mit bis zu 25 Jahren geahndet werden kann. Die drei jungen Südamerikaner mussten zwei Jahre in Untersuchungshaft. Die anderen sechs Angeklagten, fünf Spanier:innen und eine Deutsche, konnten in Freiheit auf den Prozess warten. Als Grund gab die Ermittlungsrichterin García Martínez an, dass bei Rodrigo, Alex und Juan Fluchtgefahr bestand.
Interview mit Rodrigo (2009)
Während des Prozesses wurde behauptet, dass der querschnittgelähmte Polizist von einem Stein getroffen worden sei, den einer der drei Südamerikaner von der Strasse aus geworfen habe, obwohl es Videos gibt, auf denen zu sehen ist, wie aus dem Gebäude heraus Pflanzentöpfe auf die Polizisten geworfen wurden. Von der Verteidigung beauftragte Gerichtsmediziner:innen haben bestätigt: Die Schädelfraktur des Polizisten kann nur von einem Wurf aus der Höhe passiert sein. Selbst der damalige Bürgermeister hatte kurz nach dem Vorfall davon gesprochen, dass er einen Bericht erhalten habe, in dem davon die Rede gewesen sei, dass ein Pflanzentopf aus einem Balkon auf den verletzten Polizisten geworfen worden sei. Er zog jedoch wenig später seine Aussage zurück und durfte vor Gericht nicht befragt werden. Indes wurden weder DNA-Spuren noch Fingerabdrücke der drei Angeklagten auf einem der Steine – die angeblichen Tatwaffen – gefunden. Lediglich die Aussagen der Polizisten Bakari Samyang und Víctor Bayona, die massgeblich an der Folter, den Schikanen und den Misshandlungen während den Verhaftungen beteiligt waren, wurden als Beweismittel herangezogen. Beide wurden wenige Jahre später in einem anderen Fall wegen schwerer Folter und dem Vortäuschen einer Straftat verurteilt.
Nach einem langen juristischen Prozess wurden schliesslich alle Angeklagten im sogenannten Fall «4F» (4. Februar) zu Freiheitsstrafen verurteilt. Nach einem Revisionsverfahren 2009 wurden die Strafen sogar erhöht. Die Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen 2,5 und fünf Jahren. Rodrigo erhielt die höchste Strafe.
Rodrigo Lanza nach dem Absitzen seiner ersten Gefängnisstrafe. Quelle: revistacontrahistoria.blogspot.com
VI. Patris Tod
Patri wurde zu 3,5 Jahren Haft verurteilt. Ihr wurde vorgeworfen, während der Auseinandersetzungen vor dem besetzten Haus einen Zaun auf die Polizei geworfen zu haben. Nach einigen Monaten im Gefängnis wurde ihre Strafe in Halbgefangenschaft umgewandelt. Doch der ganze Prozess und die falschen Beschuldigungen – sie war während der Auseinandersetzungen im Jahr 2006 gar nicht vor Ort und wurde, wie die anderen Verurteilten, lediglich aufgrund äusserlicher Merkmale verhaftet – hatten ihre Spuren hinterlassen. In einem Blog publizierte sie regelmässig ihre Poesie und beschrieb in einem langen Post auch detailliert, was an jenem Abend geschehen war und wie ungerecht und absurd die ganze Situation ist. Es gelang ihr jedoch nicht, ihre Ohnmacht und Trauer zu verarbeiten. Am 26. April 2011 beging sie Selbstmord, indem sie sich aus dem 7. Stock ihres Wohnhauses stürzte. Ihre engsten Freund:innen hatten kurz zuvor Abschiedsnachrichten erhalten, in dem sie unter anderem die Falschbeschuldigungen beklagte.
Patricia «Patri» Heras (rechts) 26. April 2011
Demo nach dem Suizid von Patricia Heras. Quelle: Diagonal el Periodico
VII. Eine tote Stadt
Der Tod von Patri entzündete die Wut vieler Menschen und es kam zu einem langwierigen Kampf, um den Fall sichtbar zu machen und Patri zu gedenken. Freund:innen und Soligruppen organisierten unzählige Infoveranstaltungen und Demonstrationen, während Rodri, Alex und Juan, die immer noch im Gefängnis waren, zusammen mit Rodris Mutter in einen Hungerstreik traten. Dennoch interessierten sich die grossen Medienhäuser und die Politiker:innen kaum für den Fall. Die Guardia Urbana, die Stadtpolizei von Barcelona, hat indes nichts zu befürchten, obwohl sie seit langem dafür bekannt ist, Sexarbeiter:innen, Migrant:innen und Leute aus der «alternativen Szene» zu schikanieren, zu misshandeln und zu foltern. Erst als im Jahr 2013 der Dokumentarfilm «Ciutat Morta» (Tote Stadt) über die «4F» ausgestrahlt wurde, bekam der Fall Bekanntheit – in ganz Spanien, insbesondere jedoch in Katalonien. Zur Premiere des Films besetzten am 8. Juni 2013 achthundert Menschen das elf Jahre zuvor geschlossene Kino «Palacio del Cine de Vía Layetana» und tauften es in «Cinema Patricia Heras» um.
Solidemo in Barcelona (Jahr unbekannt). «Freiheit für die Gefangenen. Solidarität mit Juan, Mariana, Rodri und Alex im Hungerstreik»
VIII. Von Bar zu Bar
Im Dezember 2017 war der als «4F» bekannte Fall in der Öffentlichkeit praktisch in Vergessenheit geraten. Der Name Rodrigo Lanza sollte jedoch bald in aller Munde sein und seine Verurteilung im Fall «4F» war gefundenes Fressen für konservative und rechte Journalist:innen und Meinungsmacher:innen. Was war geschehen? Rodrigo war im Dezember 2017 in Saragossa bis tief in die Nacht mit drei Freund:innen in verschiedenen Bars unterwegs. Wie er später erzählte, hatte er an jenem Abend zu viel getrunken. In einer der Bars trafen die vier Freund:innen auf den Neonazi Víctor Laínez. Was dann genau geschah, ist unklar, es gibt verschiedene Versionen. Laut Rodrigo und seinen Freund:innen kam es zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung, weil Rodrigo von Laínez aufgrund seiner südamerikanischer Herkunft rassistisch beleidigt wurde. Aus Angst, Laínez könnte seine Nazi-Kameraden mobilisieren, versuchten die vier Freund:innen daraufhin die Bar möglichst schnell wieder zu verlassen. Dabei wurde Rodrigo vom Faschisten mit einem Messer angegriffen. Panisch versuchte er sich mit Schlägen und Tritten zu wehren. Einer seiner Schläge brachte den 120 Kilogramm schweren Laínez zu Boden. Er schlug mit dem Kopf auf und vier Tage später erlag er seinen Verletzungen.
Der Faschist Victor Laínez (links) mit zwei Kumpanen
IX. Das Monster und das Unschuldslamm
Die Medien stürzten sich nach dem Tod von Laínez auf den Fall und Rodrigo wurde aufgrund der Geschehnisse im Fall «4F» und seiner mehr als fragwürdigen Verurteilung als skrupelloser, ideologisch verblendeter und gewalttätiger Wiederholungstäter dargestellt, während Laínez als sympathischer Nachbar und Familienvater von nebenan porträtiert wurde. Dass er ein gefährlicher und stadtbekannter Neonazi war, der seit den 1980er Jahren Mitglied der «Falange Española de las JONS» war, einer 1934 gegründeten faschistischen Partei, schien niemanden zu interessieren. Der Fall wurde als «Verbrechen der Hosenträger» bekannt, da angeblich die Hosenträger in den Farben der spanischen Nationalflagge der Grund für den Angriff von Rodrigo auf Laínez gewesen sein sollen. Zudem zitierten rechtsgerichtete Medien Aussagen von Rodrigo im Dokumentarfilm «Ciutat Morta», um zu zeigen, dass er angeblich ziellos und aus purem Hass eine unschuldige Person umgebracht hätte. Angesprochen auf seine Verhaftung und die Falschbeschuldigung, sagte Rodrigo in Bezug auf das Rechtssystem unter anderem: «Ich suche nach Rache, das sage ich ganz klar. […] Ich glaube heute mehr denn je an die rechtmässige Selbstverteidigung, an den Antifaschismus, an meine Brüder und Schwestern auf den Strassen, an meine Familie, an meine Prinzipien».
X. Fünf, achtzehn, zwanzig Jahre?
Rodrigo wurde einige Tage nach dem Vorfall verhaftet und 2019 in einem ersten Prozess der schweren Körperverletzung mit Todesfolge bezichtigt und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach einer Berufung kam es im Jahr 2020 jedoch zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens. Während die Staatsanwaltschaft eine Gefängnisstrafe von zwanzig Jahren und eine Entschädigung von 150.000 Euro forderte, war das für die Nebenklage nicht genug. Unterstützt von der rechtspopulistischen Partei VOX forderte die Familie von Víctor Laínez 23 Jahre Haft und 500.000 Euro Entschädigung. Die VOX-Partei nutzte den Vorfall, um gegen die angebliche Gefahr von Links Stimmung zu machen und organisierte zudem regelmässig Gedenkveranstaltungen für Laínez.
Politiker der rechtsextremen Partei VOX bei einer Gedenkveranstaltung für den Faschisten Laínez. Quelle: Periodico Heraldo
Im September 2020 wurde Rodrigo zu zwanzig Jahren Haft und zu einer Entschädigungszahlung von 200.000 Euro verurteilt. Ausschlaggebend dürfte gewesen sein, dass Rodrigo einerseits bereits durch den «4F»-Fall bekannt war und andererseits, dass das Messer, mit dem Víctor Laínez Rodrigo angriff, nie gefunden wurde. Aus diesem Grund würdigte das Gericht diesen Umstand nicht. Aus dem Unterstützer:innenumfeld von Rodrigo wird gemunkelt, dass der Besitzer der Bar, ein Freund von Laínez, möglicherweise dafür verantwortlich sein könnte, dass nicht nur das Messer, sondern auch das Mobiltelefon des Neonazis vor dem Eintreffen der Polizei verschwanden.
Die Unterstützer:innen von Rodrigo weisen zudem darauf hin, dass es zynisch ist, dass er im zweiten Prozess des Mordes und des ideologisch motivierten Verbrechens schuldig gesprochen wurde, denn letzteres gilt als erschwerender Umstand und wurde eigentlich dazu erschaffen, um Minderheiten vor faschistischem, rassistischem und diskriminierendem Gedankengut zu schützen. Mittlerweile wird aber der Gesetzesartikel in Spanien dazu verwendet, Menschen zu verurteilen, die gegen die Monarchie oder die herrschende Ordnung kämpfen.
Im Jahr 2022 kam der Fall schliesslich vor den Obersten Gerichtshof, der das Urteil auf 18,5 Jahre reduzierte. Dabei wird es vorläufig auch bleiben, denn die letzte juristische Instanz in Spanien, das Verfassungsgericht, hat die Berufung abgelehnt. Rodrigo sitzt mittlerweile erneut seit mehr als fünf Jahren im Gefängnis. Die ersten zwei Jahre verbrachte er in Einzelhaft ohne jeglichen Kontakt zu anderen Häftlingen.
XI. Endstation Strassburg
Rodrigos Anwalt arbeitet derzeit an der Berufung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Für die Familie, Freund:innen und Unterstützer:innen von Rodrigo, wie auch für ihn selbst, ist das Verfahren eine emotionale Achterbahn, die auch jede Menge finanzielle Kosten mit sich bringt. Bis jetzt entstanden Kosten von etwa 30.000 Euro und es werden noch mehr hinzukommen. Die Familie und die Unterstützer:innengruppe von Rodrigo rufen zur Solidarität und zur finanziellen Unterstützung auf. Sie schreiben: «Wir möchten alle solidarischen Menschen dazu aufrufen, Rodrigo finanziell zu unterstützen. Wir, als Unterstützungsgruppe, versuchen gerade den Fall international bekannter zu machen. Hier in Spanien gibt es, wie in anderen Ländern auch, eine lange Liste von Menschen, die von Neonazis ermordet wurden. Rodrigo hätte ein weiterer Name auf dieser Liste sein können, doch er hat sein Leben verteidigt. Wir werden unseren Genossen nicht alleine lassen! Selbstverteidigung ist kein Verbrechen!»
Die Soligruppe von Rodrigo kann hier erreicht werden: suport2017@riseup.net
Frankreich: Kein Ende des Aufruhrs nach Erschießung eines Jugendlichen. Macron sagt Deutschland-Besuch ab
Der französische Präsident Emmanuel Macron hat seinen Staatsbesuch in Deutschland wegen einer der größten Krisen seiner Amtszeit am Wochenende abgesagt. Auseinandersetzungen zwischen der einer anhaltenden Polizeigewalt überdrüssigen Bevölkerung und mittlerweile 45.000 entsandten Polizisten prägen seit Dienstag das Geschehen, nachdem in Nanterre der 17jährige Nahel Merzouk bei einer Fahrzeugkontrolle von dem Motorradpolizisten und Exsoldaten Florian M. aus nächster Nähe erschossen worden war. Die Gründe der sich in diesen Sommernächten Bahn brechenden Wut liegen allerdings deutlich tiefer als im Fehlverhalten eines Polizisten.
Hunderte Gebäude – Polizeiwachen, Finanzämter, Rathäuser, Schulen etc. – und Tausende Fahrzeuge brannten. Die Riots weiteten sich am Wochenende aufs ganze Land und bis ins belgische Brüssel aus. Unglaubwürdig wirkt der Diskurs von einer »nicht entschuldbaren Tat«, den die Staatsspitze bemüht, denn die vergangenen Monate waren von Exzessen der Einsatzkräfte geprägt. Der mittlerweile verhaftete Todesschütze M. plädierte bis zur Entlarvung seiner Lüge auf Notwehr. Polizeigewalt bleibt neben der sozialen und rassistischen Segregation besonders in den Randbezirken der Großstädte ein nie ernsthaft angegangenes Problem. Arbeitslosigkeit und sozialer Kahlschlag führen in den »Banlieues« zu einem Überdruss, der nun in Gewalt umschlägt.
Schon nach vier Nächten vermeldeten die Behörden mehr als 2.000 Festnahmen – so viele wie während der gesamten fünfwöchigen Aufstände von 2005. Damals waren die Riots vom polizeilich verursachten Tod zweier Jugendlicher in Clichy-sous-Bois ausgelöst worden. Mittlerweile dienen das »Antiseparatismusgesetz« von 2021 und ein normalisierter Ausnahmezustand als Grundlage der Polizeistaatspolitik. Seit der Lockerung der Gesetzgebung zum Schusswaffengebrauch unter dem Sozialdemokraten François Hollande 2017 sind Todesfälle vor allem bei Fahrzeugkontrollen in die Höhe geschossen. Michel Tubiana von der Menschenrechtsliga LDH bezeichnete die Gesetzesnovelle damals als »Lizenz zum Töten«.
Die UNO hat die autoritäre Ordnungsdoktrin Frankreichs seit Mai bereits dreimal verurteilt. Der tödliche Schuss von Nanterre war offiziellen Angaben zufolge bereits der dritte tödliche Schusswaffeneinsatz der Einsatzkräfte seit Jahresbeginn. Doch die Dunkelziffer liegt höher. Am 14. Juni erschossen Streifenbeamte den 19jährigen Guineer Alhoussein Camara in Angoulême bei einer Fahrzeugkontrolle. Und auch die jüngsten Ausschreitungen fordern Todesopfer: Ein 54jähriger erlag am Donnerstag bei Cayenne in Französisch-Guyana einem »Querschläger«. Nahe Rouen stürzte am selben Abend ein Jugendlicher vom Dach eines Supermarktes in den Tod. Wegen Schusswaffengebrauchs der Spezialeinheit RAID in Mont-Saint-Martin schwebt ein junger Mann seit Freitag in Lebensgefahr.
Wie in den bisherigen Krisen der Macronie von den »Gelbwesten« über die »Rentenreform«-Proteste bis zur mittlerweile verbotenen Umweltkampagne »Aufstände der Erde« wurde staatliche Gewalt dem Dialog bevorzugt. Typisch sind dafür Macrons Ausflüge im Land. Für seinen Besuch im gewaltgeplagten Marseiller Vorort Busserine am Montag vergangener Woche hatten Sondereinheiten den Bezirk abgesperrt und Einwohnern das Verlassen der Wohnblocks untersagt. Macron duldet nur noch Jubelvolk. In Frankreich schützt die Polizei den Staat, nicht die Bevölkerung.
LAGOTA kommt vom Spanischen und heisst „der Tropfen“.
LAGOTA ist eine politische Gruppierung, die sich als Teil der ausserparlamentarischen Linken versteht. Sie bietet eine Plattform, auf der sich interessierte Personen mit politischen Themen auseinandersetzen können.
LAGOTA setzt sich zum Ziel, das politische Bewusstsein der Gesellschaft zu fördern. Ihr Antrieb ist die Überzeugung, dass das kapitalistische System überwunden werden muss, um die bestehenden Herrschaftsverhältnisse abzuschaffen.