Licht ins Dunkel des Schwarzen Blocks

Die polizeilichen Ermittlungen nach dem G20-Gipfel in Hamburg dienen offenbar vor allem der Ausforschung der linken Szene und der Erprobung neuer elektronischer Überwachungsmittel. Das Demonstrationsrecht wird zudem immer restriktiver gehandhabt.

Staatsfeind Nummer eins ist in diesem Winter der »Schwarze Block« – für die Polizei eine reale Bedrohung der inneren Sicherheit, für andere eher ein schon reichlich in die Jahre gekommener Mythos, der darauf basiert, dass uniformierte Polizisten aus Kleidungskonventionen Organisationszusammenhänge ableiten. Zwar hat die Hamburger Polizei mittlerweile ihr Hinweisportal ­geschlossen, in dem der geneigte Hilfsermittler mit dem Handy aufgenommene Fotos und Videos hochladen konnte, um dazu beizutragen, dass die Aufklärungsquote für von Zivilisten im Verlauf der G20-Proteste begangene Straftaten über der Beteiligungsquote an der Bundestagswahl liegt. Die 165 Beamte umfassende Sonderkommission (Soko) »Schwarzer Block« arbeitet aber weiterhin unermüdlich und mit Servicezeiten von Montag bis Freitag, von ­denen sich nicht nur die Telekom eine Scheibe abschneiden könnte.

3 000 Verfahren sollen es derzeit sein, die in diesem Zusammenhang betrieben werden, sage und schreibe 25 000 Videos sollen von Polizeibeamten aufgenommen und ausgewertet worden sein, 100 Festplatten mit bewegten Bildern von Überwachungs­kameras aus öffentlichen Verkehrsmitteln sollen die Beamten eingezogen ­haben. Hinzu kommen 7 000 Bilderstrecken, die zivile Augenzeugen an die Soko übermittelt haben sollen.

g20victory

Videos, Bilder und Geodaten werden ausgewertet

Offensichtlich reicht jedoch all das für die angestrebte Massenstrafverfolgung nicht, so dass die Polizei sich an die Medien wandte und diese um die Übermittlung der von ihnen gedrehten Videos bat – auch und gerade nicht gesendetes Material war den Polizisten willkommen. Immerhin konnte so nach ­Angaben der Hamburger Behörden Material in ­»Größe einer dreistelligen Zahl von Gigabyte« akquiriert werden. Nach Berechnungen des NDR-Medienmagazins »Zapp« handelt es sich um mindestens 15 Stunden Bildmaterial, die von RTL und einer freien Produktionsfirma übermittelt wurden. Die öffentlich-rechtlichen Sender dagegen weigerten sich, den Behörden Material zur Verfügung zu stellen. Sie beharren auf der Trennung der Aufgaben von Medien und ­Polizei. Journalisten als Fahndungshelfer engagieren zu wollen, erfordert ohnehin eine gewisse Chuzpe, hatten Polizei und Geheimdienste doch während des Gipfeltreffens dafür gesorgt, dass 32 Journalisten ihre Akkreditierung entzogen wurde.

In Hamburg werden aber nicht nur enorme Mengen Bildmaterial aus allen möglichen Quellen gesammelt und ausgewertet, die Polizei sucht auch nach Wegen, die Auswertung durch den Einsatz neuer Software zu beschleunigen. Geodaten des Bildmaterials maschinell zu erfassen, fällt mittlerweile offenbar recht leicht. Software zur Gesichtserkennung dagegen muss noch deutlich verbessert werden, bevor sie sich effizient einsetzen lässt.

Derzeit stellt sich die polizeiliche Nachbearbeitung der Proteste gegen den G20-Gipfel als ein bemerkenswertes Konglomerat dar: Zum einen geht es darum, die Aufmerksamkeit von der polizeilichen Arbeit selbst abzulenken, die von Beobachtern als brutal, unverhältnismäßig und zugleich wenig effi­zient kritisiert worden war. Zum anderen hoffen die Ermittler, eine Fund­grube für die Erkundung von Organisationsstrukturen, Verbindungen und Protestmethoden aller Art aufgetan zu haben. Schließlich war der G20-Gipfel auch für die Linke ein Prestigeprojekt, das erheblichen Einsatz verlangte.

 

Razzien gegen Linke bundesweit

Dass die Polizei im rot-grün regierten Hamburg dafür Unterstützung von den Polizeibehörden der anderen Bundesländer erhält, ist deswegen nicht sonderlich überraschend. Das Ermittlungsvorhaben ist grundsätzlich an­gelegt. »Wir wollen den Linksextremismus bis zum Kern bekämpfen«, sagte Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) nach der Innenministerkonferenz vergangene Woche in Leipzig. Ziel sei es, die linksextremen Strukturen in Deutschland zu erhellen, so Stahlknecht.

Tatsächlich wurden im Zuge der Razzien, die am Montag vergangener ­Woche bundesweit in 24 Objekten am frühen Morgen stattfanden, auch Handys und Datenspeicher zur Auswertung mitgengenommen, die die Polizei schon einmal kurz nach den Gipfel­protesten beschlagnahmt und ausgelesen hatte. Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer plauderte ganz offen aus, dass es bei der Razzia nicht darum gegangen sei, Beweise zu sammeln. Vielmehr habe man das Ziel verfolgt, »Hintergründe, Verbindungen und Strukturen der linken Szene« offenzulegen. Dass die Polizei im Zuge der ­eingeleiteten Strafverfahren umfassende Erkenntnisse über die linksradikale militante Szene oder deren mutmaßliche Sympathisanten sammeln will, führt sie rechtlich auf dünnes Eis: Zwar ist Gefahrenabwehr auch eine polizei­liche Aufgabe, sie folgt aber anderen, im Grundsatz strengeren Regeln als die Strafverfolgung. Die Sammlung von Informationen allein um der polizeilichen Ausforschung linker Strukturen willen ist nicht erlaubt. Sie wäre allenfalls Aufgabe der Inlandsgeheimdienste – deren Arbeit allerdings immer ­weniger streng von der polizeilichen Arbeit und Vorgehensweise getrennt abläuft.

 

Die Hamburger Justiz zeigt Härte

Während die polizeilichen Ermittlungen noch laufen, will auch die Hamburger Justiz Härte zeigen. Sie hat teilweise drakonische Strafen verhängt – drei Jahre Haft für einen 28jährigen Hamburger wegen besonders schweren Landfriedensbruchs, versuchter gefährlicher Körperverletzung und tätlichen Angriffs auf acht Polizisten sind derzeit das Höchstmaß. Der Angeklagte war nicht vermummt, in erster Reihe zu sehen und hat sich so auch an der Plünderung von zwei Supermärkten beteiligt. Für die Staatsanwaltschaft ein Fall unprofessioneller Kleidung, aber professioneller Vorgehensweise.
Deutlich über das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß von ­einem Jahr und neun Monaten hinaus – das noch eine Aussetzung zur Bewährung ermöglicht hätte – erging ein Urteil des Amtsgerichts gegen einen 21jährigen Niederländer wegen schweren Landfriedensbruchs. Der Angeklagte hatte zwei Flaschen auf Polizisten geworfen und erhielt dafür 31 Monate Haft.

Der 18jährige Fabio V. wurde bislang nicht verurteilt, saß aber schon viereinhalb Monate in Untersuchungshaft, ehe er gegen eine Kaution von 10 000 Euro auf freien Fuß gesetzt wurde. Dem jungen Italiener legte die Staatsanwaltschaft noch nicht einmal eine konkrete Beteiligung an einem Gewalt­delikt zur Last. Lediglich seine Anwesenheit in der Straße Rondenbarg wird ihm vorgeworfen. Am 7. Juli flogen dort Steine und Pyrotechnik auf Polizisten, 73 Menschen wurden festgenommen, 14 Demonstranten erlitten zum Teil ­erhebliche Verletzungen durch das brutale Vorgehen der Polizei. Dem Gericht reichte als Beleg für die Annahme, Fabio V. habe »sich bewaffneten Ausschreitungen« anschließen wollen, dass er im Sommer einen Schal mit­geführt und sich geweigert habe, ihm vorgelegte Dokumente zu unterschreiben.

Quelle: https://www.jungle.world/artikel/2017/50/licht-ins-dunkel-des-schwarzen-blocks

 

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Anarchismus, Russische Revolution und die Schweizer Arbeiter*innenbewegung

In den aktuellen Debatten um die Russische Revolution wird der Anarchismus kaum berücksichtigt. Dabei hatten die libertären Stimmen vor 100 Jahren durchaus Gewicht − auch in der Schweiz. Hier reagierten Anarchist*innen und Linksradikale in vielfältiger und manchmal gegensätzlicher Weise auf den Triumph der Bolschewiki.

anarchismus

Landauf, landab wird der russischen Oktoberrevolution gedacht. Alles was sich links versteht, scheint sich zurzeit mit der Problematik einer misslungenen linken Revolution auseinanderzusetzen. In der Schweiz allen voran der «sozialkritische Thinktank» Denknetz, der am 11. November eine Tagung zum Thema 100 Jahre Russische Revolution durchgeführt hat. Die zur Veranstaltung herausgegebene Nummer der Zeitung Das Denknetz verkündet auf der ersten Seite schon mal falsch, dass sich die Revolution am 24. Oktober zum hundertsten Mal jähre, nur irgendwo im Innern wird das Datum korrekt auf den 7. November unserer Zeitrechnung fixiert. Eine in der Zeitung aufgeführte Bücherliste zur Russischen Revolution zeigt, welch Geistes Kind die Veranstalter mehrheitlich sind: So gilt ihnen Leo Trotzkis verstaubte Geschichte der Russischen Revolution noch immer «als ein Meisterwerk marxistischer Geschichtsschreibung». Auch andere Klassiker über die Russische Revolution werden angeführt. Was fehlt, sind alle Klassiker der anarchistischen Kritik an der Russischen Revolution wie Emma Goldmans My Disillusionment in Russia (1923) und Grigori Maximoffs The Guillotine at Work (1940). Als einziger vermeintlich anarchistischer Zeitzeuge wird Victor Serge mit seinem Buch Erinnerungen eines Revolutionärs (1951) aufgelistet. Zu der Zeit, als er das Buch schrieb, war er aber längst kein Anarchist mehr, sondern stand den Trotzkisten nahe. Nur eine einzige neuere Arbeit aus Anarchismus naher Ecke, nämlich die des Historikers Ewgeniy Kasakow, wird zitiert. Kasakow wendet sich, anhand der neusten Forschung, verdienstvoll gegen bis heute herumschwirrende anarchistische Mythen über die Russische Revolution, streitet aber das Vorhandensein einer starken linken parteiunabhängigen Basisbewegung nicht ab. Doch die Alt-Trotzkisten und ehemaligen und jetzigen Gewerkschaftsfunktionäre, die an der Literaturliste beteiligt waren, interpretieren Kasakows Aufsatz Bewegung versus Avantgarde? dahingehend um, dass es keine starken linken Basisbewegungen gegeben hätte. Kasakow schreibt dies aber nirgendwo, sondern stellt nur fest, dass unter den wirtschaftlichen Sachzwängen und den menschlichen Schwächen der Beteiligten es sehr unwahrscheinlich gewesen wäre, dass die Basisbewegungen eine wirkliche Alternative zu den Bolschewiki geworden wären. Die Interpretation des Aufsatzes durch die Denknetzwerker dient natürlich der Bestätigung, dass die bolschewistischen Führer wie Trotzki alternativlos waren, weshalb eine rätekommunistische oder anarchistische Sicht auf die Russische Revolution für eine solche Veranstaltung, die sich scheinbar ideologisch offen gibt (so zum russischen Nationalbolschewismus eines Boris Kagarlitzky), für die Veranstalter*innen nicht relevant erscheint.

Unerhörte Emma Goldman: «There Is No Communism in Russia»

Diesen verengten Blick ehemaliger Marxisten-Leninisten, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft gut etabliert haben, würden natürlich Aussagen des marxistischen Philosophen Karl Korsch nur stören. Dieser schreibt, dass der Wiederaufbau einer revolutionären Theorie und Praxis nur durch den Bruch mit dem monopolistischen Anspruch des Marxismus auf die theoretische und praktische Führung erfolgen kann. Dazu kommt wohl auch, dass die Veranstalter*innen ihren Anspruch, aus der Geschichte revolutionäre Schlüsse zu ziehen, längst aufgegeben haben. Genauso wie es sie in ihrer Weltsicht stören würde, zu verstehen, dass die Wirkung der Russischen Revolution auf die Schweizer Arbeiter*innenbewegung und das Schweizer Bürgertum, ohne Berücksichtigung des Anarchismus in- und ausserhalb der Schweizer Sozialdemokratie, nicht verstanden werden kann und unvollständig ist.

Anarchist*innen in Partei und Gewerkschaft

Vor und während des Ersten Weltkrieges galten die Anarchist*innen als vernachlässigbare Minderheit in der Schweizer Arbeiter*innenbewegung. Auf den ersten Blick scheint dies auch richtig, gab es doch nur in ein paar grösseren Schweizer Städten organisierte Gruppen. Zu den grössten gehörten bis zum Ersten Weltkrieg der anarchistische Sozialistische Bund (SB), die Gruppen um die Zeitung Le Réveil und die überall verbreiteten italienischsprachigen Gruppen, die sich um die Il Risveglio gruppierten. Die Anarchist*innen des SB waren mehrheitlich Mitglieder in der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS). Es ist sowohl für Sozialdemokrat*innen und Anarchist*innen bis heute schwer verständlich, dass sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in der Deutschschweiz der revolutionäre Flügel der SPS und der Gewerkschaften nicht nur aus Marxist*innen, sondern auch aus Anarchist*innen zusammensetzte. Die berühmtesten Beispiele sozialdemokratischer Anarchist*innen sind natürlich Fritz Brupbacher und die Mitgründerin des SB, Margarete Faas Hardegger. Ebenso standen in dieser Zeit grosse Teile der Sozialistischen Jugendorganisation (SJO) einem Anarchismus kropotkinscher Prägung nahe. Die französisch- und italienischsprachigen Gruppen standen jedoch ausserhalb der Sozialdemokratie und wurden von einem Kreis um Luigi Bertoni gefördert.

Brupbacher, Hardegger, Bertoni.

Lenin: «Nur mit der Jugend lohnt es sich zu arbeiten»

Während des Ersten Weltkriegs waren es denn auch die Anarchist*innen, mit und ohne sozialdemokratischem Mantel, nebst einigen revolutionären Marxist*innen, die den steigenden Unmut der städtischen Arbeiter*innenschaft, der sich in Teuerungs- und Hungerdemonstrationen manifestierte, aktiv unterstützten. Sie erhofften sich eine Neue Gesellschaft durch Erschaffung einer revolutionären Stimmung in der Bevölkerung. Der damals in Zürich arbeitende Anarchist Enrico Arrigoni erinnert sich später: «Wir italienischen Anarchisten hatten die Idee eine Revolution zu machen.» Dass es dabei teilweise zu blutigen Zusammenstössen von unbewaffneten Demonstrant*innen mit säbelschwingenden Polizisten (Kosaken, so deren Übername in der Arbeiterschaft) kam, hatten nicht zuletzt auch Sozialdemokraten wie der Stadtzürcher Polizeivorstand Jakob Vogelsanger mit zu verantworten.

Der Zürcher Paradeplatz wird während dem Generalstreik 1918 von «Kosaken» besetzt.

Die Anarchist*innen und die SJO waren vehemente Gegner*innen der Militärmaschinerie und ihres zerstörerischen Produktes, dem Krieg. So führte eine Gruppe um Luigi Bertoni in der Deutsch- und der Westschweiz antimilitaristische Kampagnen durch und half internierten Deserteuren, sich den für sie errichteten Arbeitslagern zu entziehen. Überall wo während des Ersten Weltkriegs Widerstand gegen die mit unbeschränkten Vollmachten ausgestattete bürgerliche Regierung vorhanden war, da waren Anarchist*innen anzutreffen. Dies erkannte auch Lenin, der seit dem Herbst 1914 in der Schweiz wohnte. «Nur mit der Jugend lohnt es sich zu arbeiten», verkündete er über die SJO anfangs 1917, erkennend, dass sie das revolutionäre Element war mit dem er seine Revolution führen musste. Als überzeugter orthodoxer Marxist störte er sich zwar am starken Einfluss des Anarchismus auf die SJO, doch er hoffte, sie einfacher als die erwachsenen Anarchist*innen, vom Anarchismus weg, hin zu seinem Marxismus bringen zu können. Dabei half ihm, dass wichtige Symbolfiguren des Anarchismus wie Kropotkin sich öffentlich für eine Kriegspartei, die Entente, ausgesprochen und damit dem Ansehen des Anarchismus massiv geschadet hatten. Nicht zuletzt mit diesem anarchistischen Zielpublikum im Auge verfasste er später seine Revolutionsschrift Staat und Revolution.

Jetzt ein Promi! Die Schweizer Illustrierte portraitiert «Ulianoff» im Dezember 1917.

Bolschewismus als Synthese von Marx und Bakunin?

Staat und Revolution verfehlte seine Wirkung nicht und viele Anarchist*innen wie Brupbacher glaubten nach der Lektüre der Schrift, dass der Bolschewismus jetzt seine schon lange propagierte weltweite Synthese von Bakunin mit Marx sei, die da und dort schon im Oktober 1917, durch neu gebildete Gruppen wie die der Zeitungsgruppe Forderung in Zürich, entstanden waren. Die revolutionäre Zeitung Die Forderung wurde von den ehemaligen SB-Mitgliedern Cilla Itschner Stamm und Hans Itschner herausgegeben und vom schon stark von Lenins Ideen beeinflussten anarchistischen Flügel der SJO mitgetragen. Auch einige religiöse Sozialist*innen um den Theologen Leonhard Ragaz, die sich zu dieser Zeit zu einem tolstoianischen Anarchismus bekannten, halfen mit, die Zeitung herauszugegeben. Als im November 1917 in der Schweiz die russische Oktoberrevolution Schlagzeilen machte und grosse Teile der städtischen Bevölkerung sich ebenfalls eine Oktoberrevolution in der Schweiz erhofften und auf die Strasse gingen − «In diesem Glauben befand man sich − mit Schwankungen − bis etwa Mitte 1919», erinnert sich Brupbacher − da waren die Forderungs-Leute wichtige Protagonist*innen des Geschehens.

«Der Sozialismus bricht an!» Flugschrift der Gruppe Forderung.

Auch das Bürgertum, so der spätere Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung Willy Bretscher, sah im entstehenden Bolschewismus nichts anderes als die Vollstreckung der Ideen Bakunins. Wie wichtig in diesen Kreisen der Anarchismus geblieben war, zeigt sich auch darin, dass der Altanarchist, Jungburschenpapa und enge Freund Brupbachers Edy Meyer Ende 1918 mit Brupbachers Hilfe Kropotkins Der Wohlstand für Alle wieder herausgab. Diese zeitweilige Einheit ist auch in einem Polizeibericht über eine Veranstaltung anfangs 1919 dokumentiert, an der Erich Marks «als Angehöriger der alten, anarchistisch gerichteten Internationale» für eine Einigung zwischen Anarchisten, Kommunisten und wirklichen Sozialisten, d.h. Sozialrevolutionären geworben habe und an der am Schluss verkündet worden sei: «So mögen uns Bakunin und Krapotkin Führer sein, wenn wir in die kommende Revolution hineinschreiten.»

Bombenprozess und Masseninhaftierung 1918

Die Schweizer Regierung erkannte in den Anarchist*innen schon länger eine Gefahr für die herrschenden Verhältnisse. Als im Frühling 1918 ein Bombenlager in Zürich gefunden wurde, nahm die Schweizer Regierung dies zum Anlass, flächendeckend über hundert Anarchist*innen bis Ende 1918 zu verhaften.

Hetze in der Schweizer Satirezeitschrift Nebelspalter, 1895.

Ein Grossteil der Verhafteten waren Mitglieder italienischsprachiger Gruppen in Zürich und anderen Städten. Die Mehrheit der Inhaftierten wurde unter fragwürdigen Anklagen ausgeschafft und Dutzenden der Prozess gemacht. Zwei Personen starben in der Haft. Die grössten Anarchistengruppen in der Schweiz wurden durch diese Aktionen geschwächt und ihrer wichtigsten Personen beraubt oder sogar zerschlagen. So blieb der im Mai 1918 verhaftete Bertoni bis zu seinem Freispruch im Sommer 1919 in Haft. Die Anarchist*innen propagierten schon lange den revolutionären Generalstreik, der zur Revolution in der Schweiz führen sollte, doch als im November 1918 in der ganzen Schweiz ein Generalstreik ausgerufen wird, sind sie an ihm kaum beteiligt.

Revolutionäre «Altkommunisten» für eine Rätedemokratie

Der enttäuschende Verlauf des Generalstreiks liess darauf einen Teil der Forderungs-Leute, wie Leoni Kascher und Jakob Herzog, sich vermehrt auf den Aufbau einer ersten revolutionären kommunistischen Partei in der Schweiz konzentrieren. Mit der Ausweisung Kaschers Ende 1919 und der mehrmaligen Inhaftierung vieler Aktivst*innen wie Herzog, die immer wieder versuchten, durch direkte Aktion ein revolutionäres Feuer zu entfachen, erlahmte aber der Aktionismus zusehends und ging immer mehr in klassische Parteiarbeit über.

Leonie Kascher und Joggi Herzog.

Obwohl die Kommunistische Partei (KP oder Altkommunisten, wie sie später genannt wurden) ein anarchistisch-rätekommunistisches Programm vertrat, führte die zunehmende Strukturierung als Partei dazu, dass sich die reinen Anarchist*innen wieder in eigenen Gruppen zusammenschlossen. Die Gruppen der Altkommunist*innen und der Anarchist*innen blieben aber freundschaftlich verbunden, waren doch die Ziele der Altkommunisten denen der Anarchist*innen nahe. Eine von den Altkommunisten herausgegebene Schrift über den kommenden Kommunismus fordert denn auch als ersten Punkt: «Neubildung der Regierung auf der Grundlage des Systems der Arbeiter- und Bauernräte und Übergabe der ganzen Regierungsgewalt an diese.» Von den Anarchist*innen in der SPS blieben nur ein paar Theologen übrig, die 1919 die anarchische Zeitung Freie sozialistische Blätter herausgaben, die als eine der ersten linken Zeitungen die Bolschewiki und ihre Diktatur des Proletariats kritisierten: «Die Anarchisten aber stehen und lachen auch über Lenin und Trotzky.»

Libertäre distanzieren sich von der KPS

Als sich 1921 ein Teil der SPS abspaltete und sich mit den Altkommunisten zur Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS) zusammenschloss, wendeten sich die ersten ehemaligen Anarchist*innen von der KPS ab und wieder dem Anarchismus zu, gab die KPS doch alle rätedemokratischen Grundsätze auf. Nebst den bekannten umtriebigen Westschweizer Anarchist*innen Bertoni und Lucien Tronchet tauchten in der Deutschschweiz nun Namen aktiver Anarchist*innen wie Bourquin, Riethmann und Vogt auf. Im Juli 1925 fand in Zürich sogar ein Anarchistenkongress statt, der von den Risveglio-Gruppen organisiert wurde. Auch als 1926 die Komintern die KPS zu stalinisieren begann, traten weitere ehemalige Anarchist*innen aus der Partei aus und gründeten in der ganzen Schweiz anarchistische Gruppen und Grüppchen. In der Westschweiz, wo der Anarchismus in Genf wegen der Gruppe um Bertoni stets gut verankert war, nahmen innerhalb der Gewerkschaften
anarchosyndikalistische Ideen zu. Kein Wunder also, dass die KPS, auch wenn sie stets behauptete, dass der Anarchismus keine Rolle mehr spiele, ihn bei jedem Anlass angriff. Ihre Angriffe bestätigten nur, dass die anarchistische Kritik sie nicht gleichgültig liess, waren sie doch die einzigen Kritiker*innen von ganz links, denen sie nicht ernsthaft den Vorwurf machen konnten, bürgerlich zu sein, wie sie es den Sozialdemokraten vorwarfen, auch wenn sie den Anarchismus stets als kleinbürgerlich beschimpften.

Diese Verflechtungen und Einflüsse innerhalb der radikalen Arbeiter*innenbewegung sind aber kein Thema in den aktuellen Debatten über die Vorgänge in der Schweiz vor und nach der Oktoberrevolution, und dies zeigt nur, wie sehr die Arbeiter*innengeschichtsschreibung in der Schweiz noch immer, von einigen löblichen Ausnahmen abgesehen, auf einer zurechtgebogenen sozialdemokratischen, bürgerlichen oder orthodoxmarxistischen, auf einer ideologisierten Geschichtsschreibung basiert.

Für eine Vertiefung des Themas empfiehlt sich das 2017 von Philippe Kellermann im Berliner Dietz Verlag herausgegebene Buch
Anarchismus und Russische Revolution. Darin enthalten ein Beitrag von Werner Portmann über die Wirkung der Oktoberrevolution auf den Anarchismus in der Schweiz.

Quelle: https://ajour-mag.ch/anarchismus_russische_revolution_und_die_schweizer_arbeiterbewegung/

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Aufruhr gegen Trump

Weltweit Demonstrationen gegen Entscheidung des US-Präsidenten, Jerusalem als Israels Hauptstadt anzuerkennen

Die Proteste gegen die US-amerikanische Unterstützung für Israels Annexionspolitik hielten auch am Wochenende an. Brennpunkte waren am Sonntag neben dem besetzten Westjordanland und Ostjerusalem auch Beirut und Jakarta. In der indonesischen Hauptstadt demonstrierten 10.000 Menschen vor der US-Botschaft. In Beirut versuchten mehrere tausend Demonstranten, darunter viele Palästinenser, zur diplomatischen Vertretung der Vereinigten Staaten vorzudringen, die von der Polizei im Umkreis von drei Kilometern durch Barrikaden und Stacheldraht abgesperrt worden war. Die Beamten setzten Tränengas und Wasserwerfer ein, um die protestierende Menge aufzulösen.

US-Präsident Donald Trump hatte am Mittwoch seine Entscheidung mitgeteilt, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen und die US-Botschaft dorthin zu verlegen. Sie befindet sich gegenwärtig, wie die aller anderen Staaten, die mit Israel diplomatische Beziehungen haben, in Tel Aviv. Rechtliche Grundlage dafür ist die nie widerrufene Teilungsresolution der UNO vom 29. November 1947. Sie sah neben der Bildung eines jüdischen und eines arabischen Staates eine internationale Verwaltung für die gesamte Stadt Jerusalem einschließlich des nahe gelegenen Bethlehem vor. Nach internationalem Recht gilt Jerusalem immer noch als »Corpus separatum«, als Gebiet mit besonderem Status.

jerusalem
Besondere Unruhe hat in der israelischen Regierung die Tatsache ausgelöst, dass sich auch arabische Staatsbürger des Landes an den Solidaritätsdemonstrationen beteiligen. Verteidigungsminister Avigdor Lieberman, der Vorsitzende der nationalistischen Partei Israel Beitenu, rief am Sonntag zu einem Wirtschaftsboykott gegen die nordisraelische Stadt Umm Al-Fahm, eine Hochburg der Proteste, auf. Die jüdische Bevölkerung Israels solle den dort und in der umgebenden Region Wadi Ara lebenden Arabern »zeigen, dass sie hier unerwünscht sind«. Sie sollten sich lieber dem besetzten Westjordanland anschließen. Ein Abgeordneter der Likud-Partei von Premierminister Benjamin Netanjahu, Oren Hazan, widersprach: Israel dürfe kein Land abtreten, sondern solle den arabischen Demonstranten die Staatsbürgerschaft entziehen und sie wie palästinensische »Terroristen« behandeln

Die Arabische Liga (AL) trat am Sonnabend zu einer Sondersitzung in Kairo zusammen, um Trumps jüngste Schritte zu verurteilen. AL-Generalsekretär Ahmed Abul Gheit bezeichnete die Entscheidung Trumps als »gefährlich und unannehmbar«. Sie widerspreche dem internationalen Recht und stelle einen »eindeutigen Angriff« auf die Bemühungen um eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts dar.

Bei den Protesten wurden bisher mehr als 400 Menschen verletzt und zwei getötet. Die israelischen Sicherheitskräfte setzten neben Hartgummigeschossen, Tränengas und Wasserwerfern zum Versprühen stinkender Flüssigkeiten auch scharfe Munition ein. Zwei weitere Menschen wurden getötet und 25 verletzt, als die israelischen Streitkräfte am Sonnabend zwei angebliche Hamas-Stützpunkte im Gazastreifen aus der Luft angriffen und mit Panzergranaten beschossen. Zuvor hatten Palästinenser nach israelischer Darstellung drei Raketen abgeschossen, von denen eine in der Stadt Sderot explodierte, ohne dass Menschen zu Schaden kamen.

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/323306.aufruhr-gegen-trump.html

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Demo: Artgerecht ist nur die Freiheit! am 9. Dezember in Emmenbrücke

artgerecht

Tiere sind fühlende Lebewesen, nicht dazu da, um für die Unterhaltung des Menschen benutzt zu werden. Im Zirkus können die Tiere aber weder ihr Sozialverhalten noch ihren Bewegungsdrang ausleben, sondern werden von klein auf abgerichtet, um dem Menschen zu dienen. Die Spitze dieser Tierausbeutung ist die Show mit Tigern, welche der Circus Royal in diesem Jahr präsentiert hat.
Deshalb rufen wir zur Kampagne: “Zirkus: JA – aber ohne Tiere!”

Genauer Treffpunkt: www.goo.gl/maps/7VKEQuctgWL2

Die Demo wir von folgenden Organisationen organisiert:
Lagota www.lagota.ch
Aktivismus für Tierrechte
LSCV – Schweizer Liga gegen Tierversuche und für die Rechte des Tieres

Laufend weitere Aktionen auf:
>>bit.ly/Mitprotestieren

::::::::::INFOS:::::::::::
Zirkusflyer:
>>bit.ly/ZirkusflyerLSCV

Infos für Teilnehmer_innen:
>>bit.ly/Zirkus_Protestinfos

Wieso Zirkusproteste?
>>bit.ly/wieso_Zirkusproteste

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Erdoğan und Putin haben einen Link geteilt

Facebook ist ein wichtiges Schlachtfeld im Cyberkrieg um Meinungsfreiheit und -hoheit. Das Unternehmen hält eher zu autoritären Regierungen als zu Dissidenten.

In San Mateo County gibt es schöne Strände, vielfältige Ökosysteme und seltene Tiere. Mit etwas Glück kann man dort die Klapperschlangen tanzen sehen und mit viel Geld und Zeit kann man dort gegen Facebook klagen. Klapperschlangen gibt es auch anderswo, aber gegen Facebook klagen kann man nur in San Mateo County. So steht es in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wo das Unternehmen seine Nutzerinnen und Nutzer darüber aufklärt, dass Facebook für nichts haftet, es sei denn, es fände sich doch ein Gesetz, das eine Haftung unumgänglich macht.

Nun gut, mag man sagen, eine Telefongesellschaft haftet schließlich auch nicht für Drohanrufe oder über ihre Leitungen verabredete Verbrechen. Facebook versteht sich als Plattform. Ohnehin wäre eine redaktionelle Vorkontrolle der Beiträge der täglich 1,37 Milliarden Nutzer und Nutzerinnen nicht zu bewältigen. Andererseits ist die dem deutschen Justizminister Heiko Maas zu Unrecht zugeschriebene Aussage, bei Facebook gebe es keine Meinungsfreiheit, korrekt. Bei Facebook gelten die Allgemeinen Geschäftsbedingungen: »Wir können sämtliche Inhalte und Informationen, die du auf Facebook postest, entfernen, wenn wir der Ansicht sind, dass diese gegen diese Erklärung bzw. unsere Richtlinien verstoßen.« Es gibt viel Freiheit für viele Meinungen, da diese, wie cat content und Klatsch, wichtige Klickgeneratoren sind und für Werbeeinnahmen sorgen. Doch immer wieder verschwinden Posts, werden Accounts zeitweise gesperrt oder gänzlich geschlossen – oft basierend auf undurchschaubaren Kriterien.

Das wäre halb so schlimm, wenn es eine Alternative gäbe. Man kann sich unter die Fittiche Wladimir Putins auf VK oder unter jene Xi Jinpings auf Renren begeben, doch solche Plattformen können schwerlich als bessere Garanten von Transparenz und Meinungsfreiheit gelten. Mit etwa zwei Milliarden Nutzerinnen und Nutzern, etwas mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung, hat Facebook de facto einen Monopolstatus. Während frühere Monopole meist nur den Markt eines Landes beherrschten, dominiert Facebook den globalen Markt. Unter den reichen und bedeutenden Staaten fehlt nur China. Und das ist eine Versuchung.

 

Die klassische Zensur modernisiert sich

In China ist Facebook noch gesperrt. Im ebenfalls von einem Einparteienregime regierten Vietnam hingegen nicht, dort ist die Hälfte der Bevölkerung bei Facebook registriert. Nachdem die Regierung sich Anfang des Jahres über oppositionelle Propaganda beklagt hatte, reagierte das Unternehmen wohlwollend und versprach, »Anfragen des Ministeriums und anderer zuständiger Autoritäten Vorrang zu geben«. Die konkreten Folgen sind unklar. Im Mai 2016 hatte die vietnamesische Regierung Facebook und andere soziale Medien blockiert, da dort über Umweltproteste berichtet und diskutiert worden war.

Facebook argumentiert, man müsse sich an die Landesgesetze halten. Das Unternehmen wird jedoch auf diese Weise zwangsläufig zum Komplizen der zensierenden Regierung, deren Interesse keineswegs sein muss, jegliche Debatte zu unterbinden. Jeder Diktator möchte ja wissen, was die Bevölkerung denkt, und das erfährt man nicht aus den Berichten der Geheimpolizei. Zudem ist es sinnvoll, der Unzufriedenheit ein Ventil zu lassen, bevor sie auf der Straße Ausdruck findet, und die sozialen Medien bieten dem Regime die Chance, seinerseits Einfluss auf die Debatte zu nehmen.

Nach welchen Regeln Facebook Posts löscht und Accounts sperrt, ist ein Geschäftsgeheimnis – und das ist ein Problem, denn kein Konzern und kein Staat hat größeren Einfluss auf die globale Meinungsbildung.

Seit den Revolten in der arabischen Welt im Jahr 2011 hat sich die Politik der meisten Autokratien und Diktaturen gegenüber sozialen Medien rasant verändert. Deren Rolle in den damaligen Revolten wird oft übertrieben, tatsächlich aber bot Facebook die Möglichkeit, Informationen auszutauschen und sich zu Protestaktionen zu verabreden. Die arabischen Geheimdienste arbeiteten noch nach dem klassischen Stasi-Modell und hatten die neuen Kommunikationsplattformen nicht ausreichend im Blick.

Mittlerweile aber hat man nicht nur in Russland die Chancen erkannt, die eigene Aktivitäten auf sozialen Medien bieten. Eingesetzt werden Profis der Geheimdienste, Bots und Troll-Armeen, sekundiert von freiwilligen Helfern, denen der Einsatz für ihren geliebten Führer eine Herzensangelegenheit ist. Die Palette der Interventionen reicht von Propaganda über das Aufspüren und Ausspionieren von Oppositionellen bis zu verschiedenen Formen der Diversionsarbeit mit Hacks, fake news und fake accounts. Das beschränkt sich nicht immer auf den Kampf gegen Dissidenten im eigenen Land, auch offensive außenpolitische Ziele werden verfolgt.

Es wird immer schwerer, jener knappen Mehrheit der Weltbevölkerung, die Zugang zum Internet hat, Informationen vorzuenthalten. Die klassische Zensur muss daher um Methoden ergänzt werden, die Verwirrung stiften und Spannungen anheizen. So gab es während des US-Wahlkampfs im vergangenen Jahr russische fake accounts, die zu Verteidigung der Rechte von Muslimen aufriefen, und solche, die ein Einreiseverbot für Muslime forderten. Etwa 150 Millionen Bürgerinnen und Bürger der USA sahen sponsored content der russischen Regierung, so die Einschätzung von Facebook. Dessen Vertreter mussten sich im Oktober gemeinsam mit Kollegen von Google und Twitter vor dem Senat verantworten. Da offenkundig politische Anzeigen in Rubel bezahlt worden waren, hätte es keines allzu großen Scharfsinns bedurft, um misstrauisch zu werden. Kleinlaut versprachen die Unternehmensvertreter schärfere Regeln.

 

Facebook verfolgt politische Ziele

Nach welchen Regeln Facebook Posts löscht und Accounts sperrt, ist ein Geschäftsgeheimnis – und das ist ein Problem, denn kein Konzern und kein Staat hat größeren Einfluss auf die globale Meinungsbildung. Wie jedes andere Unternehmen hat auch Facebook politische Ziele, wenigstens was die Schaffung günstiger Geschäftsbedingungen betrifft. Soweit bekannt, versucht Facebook – außerhalb der USA steuergünstig in Irland ansässig – nicht, Debatten über Steuervermeidung zu beeinflussen. Auch scheint Mark Zuckerberg Facebook nicht für die Verbreitung seines naiven Technologie-Utopismus zu nutzen. Möglich aber wären Manipulationen im Interesse des Konzerns, die verborgen bleiben.

Es sei denn, es wird geleakt. Die Regeln zum Umgang mit hate speech, stellte Pro Publica im Juni nach der Sichtung interner Dokumente fest, »tendieren dazu, Eliten und Regierungen gegenüber Basisaktivisten und ethnischen Minderheiten zu bevorzugen«. Dies diene den Geschäftsinteressen und solle Sperrungen durch Regierungen vermeiden. Die Algorithmen beanstandeten pauschale Hetze gegen »geschützte Kategorien«, etwa »Schwarze«, seien aber nachsichtiger, wenn es um »Untermengen« (subsets) wie »schwarze Männer mit Hoodie« geht. Diese Methode des Löschens reproduziere gesellschaftliche Machtverhältnisse, sie schütze dominante Bevölkerungsgruppen, verhindere aber Hetze gegen Minderheiten und Randgruppen nicht, so die Juristin Danielle Citron von der University of Maryland. Überdies gibt es Sonderregeln. So hat nach Angaben des Wall Street Journal Zuckerberg persönlich entschieden, dass Hassbotschaften Donald Trumps nicht gelöscht werden.

Gibt es Beschwerden, muss sich ein Mensch der Angelegenheit widmen. Facebook reagiert auf Druck. So wurde im vergangenen Jahr der Account eines norwegischen Schriftstellers zeitweise gesperrt, der ein berühmtes Foto aus dem Vietnam-Krieg gepostet hatte – weil darauf auch ein vor Napalmbomben flüchtendes nacktes Mädchen zu sehen ist. Reposts der Zeitung Aftenposten und der Ministerpräsidentin Erna Solberg wurden gelöscht. Facebook rechtfertigte die Maßnahme zunächst, lenkte nach Protesten aber ein. Solbergs Intervention allein hatte nicht genügt, wohl weil Facebook keine Blockierung seitens der norwegischen Regierung fürchten musste.

Empfänglicher ist das Unternehmen offenbar für die Anliegen von Regierungen, denen man eine solche Blockierung zutraut. Weit über die Grenzen der Türkei hinaus sind derzeit Menschen von Löschung, Sperrung und Follower-Schwund betroffen, die sich mit der syrisch-kurdischen YPG solidarisieren. In den Gemeinschaftsstandards werden »gefährliche Organisationen« erwähnt, für deren »terroristische Aktivitäten« nicht geworben werden dürfe. Der türkischen Regierung gilt die YPG als Terrorgruppe. Doch man muss dem Revolutionspathos der Solidaritätsbewegung nicht folgen, um anzuerkennen, dass die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer die Hauptlast im Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS) trugen. So sieht es auch der mächtigste Unterstützer der YPG, der weder Löschungen noch Hausdurchsuchungen fürchten muss: das Pentagon.

Dass Facebook wie im Fall Vietnams bereit ist, Recep Tayyip Erdoğans Anfragen Vorrang zu geben, erscheint plausibel. Der türkische Präsident verfügt zudem, wie sein russischer Kollege, über Troll-Armeen und freiwillige Helfer. Ob Facebook zum Löschen von Followern berechtigt ist, müsste in San Mateo County geklärt werden. Eine solche Manipulation seitens des Konzerns wäre jedoch geschäftsschädigend, da die Werbewirtschaft den Daten nicht mehr trauen würde. Ist Facebook gehackt worden und will es verheimlichen? Sicher ist derzeit nur, dass die Erklärung des Konzerns, nur fake accounts seien gelöscht worden, ungenügend und nicht korrekt ist.

 

Die dunkle Seite der Macht ist im Vorteil

Wer auch immer manipuliert hat – der Fall zeigt noch einmal, dass auf Facebook ein cyberwar stattfindet. An sich dürfte sich eine globale Kommunikationsplattform dieser Größenordnung nicht in Privatbesitz befinden, zumindest müsste sie der Kontrolle durch eine demokratische Öffentlichkeit und einem den öffentlich-rechtlichen Grundsätzen ähnlichen Reglement unterliegen. Facebook zu enteignen und Donald Trump zu unterstellen, wäre jedoch kein Fortschritt, und eine globale Repräsentanz der demokratischen Öffentlichkeit existiert nicht.

So bleibt vorerst nur, Facebook unter Druck zu setzen. Doch wie im analogen Krieg ist auch im cyberwar die dunkle Seite der Macht im Vorteil, denn sie verfügt über ungleich größere Ressourcen. Man kann zumindest fordern, wenn auch nur schwer durchsetzen, dass Facebook zugunsten der Meinungsfreiheit auf formelle und informelle Vereinbarungen mit Autokratien und Diktaturen verzichtet und seine tatsächlichen Löschkriterien öffentlich macht. Vietnam etwa hat Facebook auch deshalb zugelassen, weil es nicht über die Mittel verfügt, die Umgehung von Sperren zu verhindern. Auch Erdoğan wäre damit überfordert.

Man könnte es also darauf ankommen lassen und auf die Kreativität der in solchen Dingen bereits erfahrenen Interessierten setzen, sich Zugang zu gesperrten Seiten zu verschaffen. Allerdings mindert ein solches Versteckspiel die Einnahmen aus personalisierter Werbung und wäre für Facebook wohl nur eine Option, wenn wegen der Zusammenarbeit mit autoritären Herrschern höhere Einnahmeverluste drohten.

Vor einem Boykott etwa nach dem Motto »A day without Facebook for freedom of speech« schützt das Unternehmen jedoch sein Monopol – wo, wenn nicht auf Facebook, könnte man global dazu aufrufen?

Quelle: https://jungle.world/artikel/2017/48/erdogan-und-putin-haben-einen-link-geteilt

 

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REMEMBER REMEMBER THE FIRST OF DECEMBER!

Vor 10 Jahren wurden 245 Menschen im Vögeligärtli verhaftet, während sie den Missmut über die Schliessung des Kulturzentrums boa auf die Strasse tragen wollten. 10 Jahre und unzählige Versuche einen boa-Ersatz zu schaffen später, treffen wir uns wieder im Vögeligärtli [bewilligt]

Sandra Hofstetter und Simone Steiner rufen auf zu

>> zwei Konzerten und gemütlichem Getränk ab 20 Uhr! <<

DIE STADT GEHÖRT AUCH UNS!! NICHT VEREINZELN LASSEN! – auf einen inspirierenden Abend!

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»Es tut weh«

Seit 2010 regiert Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Partei Fidesz in Ungarn. Die Prognosen sagen ihm auch für die Wahlen im Frühjahr 2018 einen Sieg voraus. Wie also weiter, fragt sich die Opposition in Ungarn.

Heftig diskutiert wird derzeit der Vorstoß des Vorsitzenden der neofaschistischen Partei Jobbik. Gábor Vona versucht, die Wähler und Parteien des mittleren politischen Spektrums für einen Regierungswechsel zu gewinnen.

Die erste Initiative dieser Art hatte es von ihm Anfang Oktober gegeben, nachdem der Spitzenkandidat der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP), László Botka, seinen Ausstieg aus dem Wahlkampf erklärt hatte. Vona rief in einem offenen Brief seine »verehrten linken Volksgenossen« auf, bei den kommenden Wahlen für Jobbik zu stimmen. Diese sei nunmehr nicht nur die größte, sondern auch die einzige ernstzunehmende Oppositionskraft. Die Frage sei heute nicht mehr, wer links und wer rechts sei, sondern wer einen Regierungswechsel wolle und wer nicht. In einem Interview mit der Tageszeitung Magyar Nemzet vom 21. November wurde er konkret. Er sei bereit, einen Kompromiss mit den »Parteien des 21. Jahrhunderts« einzugehen. Gemeint sind damit die beiden relativ neuen Parteien LMP und Momentum, die nicht für die katastrophalen Bilanz des »Systemwechsels« nach 1989 verantwortlich gemacht werden können.

Bislang haben diese Parteien Vona mehr oder weniger klare Absagen erteilt. Auch die ehemalige Vorsitzende von MSZP, Ildikó Lendvai, sagte in einem Interview am 24. November gegenüber mandiner.hu, dass sie für eine Zusammenarbeit nicht zur Verfügung stehe. Das Problem sei nicht nur die Vergangenheit der Partei, sondern dass Jobbik in vielen Punkten mit Fidesz übereinstimme. »Fidesz hat den Großteil ihrer Slogans übernommen. Das Jobbik-Programm von 2014 hat Fidesz in weiten Teilen verwirklicht und ihren Platz auf der politischen Landkarte eingenommen.«

fuckfidesz
Vonas Mitstreiter bekommen nun in den regierungsnahen Medien Raum, um ihr Befremden über sein Werben um die politische Mitte Ungarns zu äußern. So zum Beispiel die Jobbik-Europarlamentsabgeordnete Krisztina Morvai, die in einem Interview am 23. November im Magazin heti válasz erklärte, sie wisse nicht, ob sie bei den nächsten Wahlen für Jobbik stimmen könne. Zu Vona habe sie seit drei Jahren keinen Kontakt mehr. »Als Frau darf ich zugeben, es tut weh.« Vona habe die ursprünglichen Prinzipien Jobbiks aufgeben, um den Linken den Hof zu machen.

Damit verweist sie wohl auf die Prinzipien der Zeit vor 2013. Die Partei hatte damals noch mehr oder weniger offen die faschistische und erzreaktionäre Vergangenheit Ungarns verherrlicht und war mit aggressiver Hetze gegen Juden, Homosexuelle und Roma über die ungarische Landesgrenze hinweg bekanntgeworden. Seit 2013 versucht Jobbik mit einer »Zuckerkampagne«, »radikale Inhalte« mit moderater Rhetorik zu verbinden um die von Fidesz enttäuschten Wähler zu erreichen. Das Führungspersonal wurde teilweise ausgetauscht. Das Ziel sei, zur Volkspartei zu werden. Mitte Oktober hatte Vona in einem Interview mit dem Fernsehsender atv gesagt, er sei bereit, sich bei Juden und Roma zu entschuldigen.

Zustimmung findet er von ungewohnter Seite. Die auch in Deutschland bekannte Philosophin Ágnes Heller: »Warum sollen sie nicht zusammenarbeiten, um ein normales Land zu schaffen?«, sagte sie gegenüber mandiner.hu. Der frühere Standpunkt der Partei sei »bedauerlich«, die Partei vertrete derzeit aber andere politische Ansichten, und nur darauf komme es an.

Für die regierungsnahen Medien ist die Angelegenheit ein gefundenes Fressen. Es verging kein Tag in den letzten Wochen, in denen von Orbáns Medien nicht Beweise präsentiert wurden, wie antisemitisch und rassistisch Jobbik sei. Den linksliberalen Kräften werfen sie vor, kein Mittel sei ihnen zu schade, um an die Regierung zu kommen.

Im Ergebnis hat dies alles zu der absurden Situation geführt, dass demokratische Parteien über eine Öffnung hin zu einer neofaschistischen Partei diskutieren. Linke Perspektiven zur Überwindung der gegenwärtigen Lage und eine sozialistische Alternative bleiben aber weiterhin mit einem Tabu belegt. Darin war der Vorstoß erfolgreich, auch wenn Jobbik die Wahlen gegen Orbán 2018 nicht gewinnen wird.

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/322639.es-tut-weh.html

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Spürbare Sanktionen

Quelle: http://www.hans-stutz.ch/texte/sp%C3%BCrbare-sanktionen

Am ersten Julisamstag 2015 haben Rechtsextreme in Zürich-Wiedikon mehrere Juden angepöbelt, verfolgt und bedroht, auch mit nationalsozialistischen Gesten. Nun erhält einer der Beteiligten eine kostspielige Strafe. Der Haupttäter wird später vor Gericht erscheinen müssen.

Der Strafbefehl, in den Tachles Einsicht nehmen konnte, schildert die „aggressive Grundhaltung“ gegen „diverse nicht näher bekannte“ Jüdinnen und Juden, begangen durch „einzelne nicht näher bekannte Mitglieder“ einer rechtsextremen Gruppe, die in Zürich-Wiedikon einen Polterabend feierte. Dies nicht nur in einer Bar, sondern auch in einigen Quartierstrassen.

Gegen zwanzig Rechtsextreme aus dem Umfeld des Naziskinhead-Netzwerks „Blood and Honour“ waren an jenem späten Samstagnachmittag im Juli 2015 anwesend, gegen vier Rechtsextremisten eröffneten die Behörden später Strafverfahren. Zwei Verfahren stellte die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl nun Anfang Oktober ein, da sie keine „rechtsgenügenden Beweise“ für bestimmte Handlungen und Äusserungen der zwei Schweizer aus dem Kanton Zürich vorlegen konnte.

Ausreichend Belege hatte die Staatsanwaltschaft gegen einen 24jährigen Maurer aus dem Kanton St. Gallen. In Anwesenheit von Stadtpolizisten und mehrerer Zivilpersonen habe der Beschuldigte sich darüber gefreut, „dass im 2. Weltkrieg 5 Millionen Juden gestorben“ seien. Er habe weiter mindestens zwei Juden physisch bedroht und sie mit einem Schwall antisemitischer Aussagen beschimpft und beleidigt. Auch habe er den Hitlergruss gezeigt und „Heil Hitler“ geschrien.

Die Staatsanwaltschaft Zürich sprach den Angreifer deshalb schuldig der Rassendiskriminierung. Er habe, so schreibt die zuständige Staatsanwältin, „in der Öffentlichkeit die Taten Hitlers und des Nationalsozialismus“ gelobt und „auch die Nachahmung von Verbrechen“ angedroht, „die zu dieser Zeit begangen worden waren. Der „Polterabend“ kommt den Verurteilten teuer zu stehen: 180 Tagessätze à 90.00 macht 16‘200 Franken, dazu kommen noch 3800 Franken Busse und 1500 Franken Verfahrenskosten. Macht total 21‘500 Franken, nebst den Anwaltskosten.

Bereits Anfang Oktober machte der „SonntagsBlick“ publik, dass die Staatsanwaltschaft einen vierten Beteiligten vor Gericht stellen wird. Diese Anklage richtet sich gegen Kevin G., bekannt als Sänger der Naziskin-Band „Amok“. Der Strafbefehl erwähnt, dass Kevin G. einen Juden bespuckt haben soll und er diesen über rund zweihundert Meter verfolgt habe. Der Angeklagte ist bereits vorbestraft wegen Drohung und Rassendiskriminierung. Und er ist weiterhin in der Rechtsextremen-Szene aktiv. Im Mai 2017 trat er mit seiner Band an einer Veranstaltung der Nationaldemokratischen Partei NPD im Bundesland Thüringen auf. Unter den Konzertbesuchern auch der verurteilte 24-jähriger Maurer aus dem Kanton St. Gallen.

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Making cash from chaos

sexpistols
Vor genau 40 Jahren erschien das erste und einzige Album der Sex Pistols. Anarchie, wie sie Johnny Rotten und seine Mitstreiter forderten, kam dann auch, allerdings in unerwarteter Form.

Einen Song veröffentlichen, damit sofort zwei Plattenverträge ergattern und gleich wieder platzen lassen, um insgesamt 115 000 Pfund Vorauszahlung zu kassieren (was heutzu­tage in etwa einer knappen halben Million Euro entspräche) – so hat wohl niemals zuvor oder danach eine Newcomer-Band gleich zwei Groß­labels hintereinander zur Ader gelassen. Die Rede ist von der im November 1976 auf dem Label EMI veröffentlichten Single »Anarchy in the U.K.« der Sex Pistols, die die Firma bereits Anfang Januar wieder vom Markt nahm und die Band nach einem skandalösen Fernsehauftritt feuerte. Zwei Monate später nahm das Label A & M die Gruppe unter Vertrag: Die Sex Pistols spielten daraufhin die Single »God Save the Queen« ein, die das anstehende silberne Thronjubiläum der Königin schockierend rüde kommentierte. Diese Platte erreichte die Läden zunächst überhaupt nicht, A & M stampfte die erste Auflage noch vor Auslieferung ein und schmiss die Band raus. Die Reaktion der Sex Pistols: Sie präsentierten den Song mit maximal möglicher Lautstärke auf einem Boot, das auf der Themse vor dem Parlamentsgebäude kreuzte und selbstverständlich von der Flusspolizei gestürmt wurde.

Die Sex Pistols führten im Frühjahr vor 40 Jahren alle gültigen Regeln der Musikindustrie ad absurdum, indem sie die Hände, die sie fütterten, nach Kräften bissen. Das war wirklich neu, denn bis dahin hatte das Musikbusiness noch jeden teenage rebel entweder so präpariert, dass er die rebellische Attitüde brav verkaufen half, oder, falls sich der potentielle Star als allzu bockig erwies, darauf setzen können, dass er ohne Plattenvertrag wieder in der Obskurität verschwinden würde.

 

Verzweiflung und Wut auf den gesellschaftlichen Konsens

Beim Punk – ein Wortgebrauch des englischen Begriffs für Strichjungen, den der Boutiquebetreiber Malcolm McLaren für sich reklamierte, um die Musik der von ihm gemanagten Sex Pistols zu beschreiben – klappte das nicht. Denn in einem waren der Leadsänger der Band, John Lydon aka Johnny Rotten, und McLaren wahre Meister: in der Inszenierung von Provokationen und Ärgernissen, von denen die britische Boulevardpresse einfach nicht die Finger lassen konnte. Je mehr aber Abscheu und Hass auf die unverschämten Lümmel aus der Schlange beim Arbeitsamt – dole queue, das englische Wort fürs Warten auf Stütze, wurde damals synonym für Punkrock gebraucht – die Schlagzeilen beherrschten, desto interessanter wurden genau diese Lümmel.

Zunächst galt das selbstverständlich für Jugendliche, die ebenfalls Schlange standen; und das waren nicht ­wenige, denn die Jugendarbeitslosigkeit stieg Mitte der Siebziger zum ersten Mal in der Nachkriegszeit steil an. Das Gefühl aber, dass insbesondere der die Charts verheerende Softrock der Wings, Elton Johns oder Leo Sayers die Lebenssituation im krisengebeutelten Großbritannien geradezu verhöhnte, war noch viel weiter verbreitet – kein Wunder in einem Land, das seinerzeit seine Zahlungsfähigkeit nur mit IWF-Krediten und den höchsten Steuern der westlichen Welt sichern konnte, in dem Benzin rationiert war, ganze Industriezweige im Sterben lagen, Haushalte und Betriebe tagelang auf Strom verzichteten und verzweifelte Streiks dafür sorgten, dass Krankenhäuser Patienten abweisen mussten und der Müll sich meterhoch in den Straßen stapelte.

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Glühwein und Betonfrisur: Die Hassikone des Punk, Margaret Thatcher

Bild:

picture alliance / empics

Verzweiflung und Wut auf den Zustand, in den die Krise den britischen post-war consensus gebracht hatte, prägten die Stimmung. Jener gesellschaftliche Konsens, auf den sich Konservative und Labour ge­einigt hatten – also die Kombination von keynesianischem, auf deficit spending basierendem Wohlfahrtsstaat, verstaatlichten Industrien und starker Rolle der Gewerkschaften samt tariflich abgesicherter Vollbeschäftigung –, schien sich von dem Versprechen, das er nach dem Krieg bedeutet hatte, in eine Plage mit absurden Auswüchsen verwandelt zu haben. Das war der Nährboden des Punk, der Sex Pistols und ihres ebenso hellsichtigen wie skrupellosen Managers Malcolm McLaren. Er gab die Stichworte, die er zuvor aus einigen situationistischen Schriften der sechziger Jahre zusammengeklaubt hatte, an Lydon weiter, der wiederum möglichst anstößige und provokante Texte drumherumstrickte. Anarchy war der wichtigste dieser Schlüsselbegriffe, violence ein anderer. Die solcherart entstehende Rhetorik war genial darin, dass sie radikal und ambivalent zugleich war, dass sich in ihr linksradikale Junggewerkschafter und arbeitslose Vorstädter ebenso wiederfanden wie Jungakademiker und hedonistische Alternativunternehmer, die – ob nun von klassischen Avantgarde-Konzepten beeinflusst oder nicht – eine als verkrustet erscheinende Konsensgesellschaft und ihre Regeln über den Haufen werfen wollten, obwohl die ökonomischen Interessen der Beteiligten gegensätzlicher kaum hätten sein können.

Und nirgendwo ist die für den Urpunk typische rhetorische Vereinheitlichung in der blanken Negation so perfekt ausbuchstabiert und so zielgenau in auf extreme Ruppigkeit getrimmte musikalische Arrangements gegossen worden wie auf dem Ende Oktober vor vierzig Jahren doch noch auf dem damals unabhängigen Label Virgin erschienenen Album »Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols« (in etwa: Vergiss den ganzen Scheiß, hier kommen die Sex Pistols). Allein schon das Aufmacherstück der Platte, »Holidays in the Sun« kokettiert mit der Lust an der Katastrophe schlicht aus persönlichem ennui, wie es vorher in der Rockmusik kaum je getan worden war: Das KZ Bergen-Belsen, die Berliner Mauer und die kommunistische ­Bewegung tauchen in dem Song nurmehr als austauschbare Reize auf, um dem unentrinnbaren Stumpfsinn (»Pretty Vacant« heißt denn auch eine andere Nummer der Platte) ein wenig dramatische Würze zu ver­leihen.

So zerschlug Punk zwar rüde alle utopisch-konstruktiven Konventionen des bisherigen Rock, die sich vor der gesellschaftlichen Realität als »Great Rock ’n’ Roll Swindle« entpuppt hatten (so der Titel des Films, mit dem McLaren den Pistols-Hype bediente), zerfiel dabei aber auch selbst fast sofort; die negative Einheit jugendlicher Unzufriedenheit, der vor allem die Sex Pistols für einen kurzen ­Moment den passenden ästhetischen Ausdruck gegeben hatten, zerbrach ebenso wie die Band schon 1978. Die einzelnen Bestandteile der neuen ­Jugendkultur strebten mächtig auseinander: Der proletarische Teil mündete eher in die verschiedenen Strömungen der Skinhead-Subkultur – vom freundlichen Ska bis zum Nazisound von Skrewdriver –, der klassische Linksradikalismus, den The Clash und andere propagierten, ging spätestens 1984/85 zusammen mit den streikenden Bergarbeitern unter, während der eher kommer­ziell und künstlerisch geprägte Flügel unter der Bezeichnung New Wave ­reüssierte und das müde gewordene Musik- und Modebusiness mit neuen Klängen und schrill recycelten Klamotten und Frisuren aus der Steinzeit des Rock ’n’ Roll zumindest für eine Weile revitalisierte.

 

Stichwort anarchy: »So etwas wie ­Gesellschaft gibt es nicht!« (Margaret Thatcher)

Die radikale Zerstörung der britischen Nachkriegsgesellschaft aber, mit der die Sex Pistols geliebäugelt hatten, übernahmen ab 1979 andere. Die Lust am Destruktiven, die Beschwörung des Konventionen verachtenden Individuums, aber auch die im prononcierten Amateurismus des Punk lauernde Anspruch, nicht mehr von anderen oder vom Staat abhängig zu sein, sondern sich auf die eigene Kraft zu stützen – und sei das Ergebnis noch so dürftig –, oder die provokante Aufkündigung jeder gesellschaftlichen Regulation, Stichwort anarchy – all diese Motive fanden sich in zunächst paradox scheinender Weise am ehesten im Programm einer der heftigsten Opponentinnen des Punk und, in späteren Jahren, dessen liebstem Feindbild wieder: im Programm der damaligen konservativen Oppositionsführerin im Unterhaus, Margaret Thatcher, das sie in etwa zur selben Zeit entwickelte, als Malcolm McLaren den Punk als alternative Geschäftsidee konzipierte und bündig so definierte: making cash from chaos. Und es war eben auch eine Art Chaos, sprich: die ­Zerstörung unrentabler Infrastruktur und Industrie sowie der Lebensweise ihrer ebenso unrentablen menschlichen Anhängsel, das die 1979 zur Premierministerin gewählte Thatcher anrichtete. Trotz der absolut nicht punkaffinen Neomoralität, die die Lady mit der Betonfrisur vordergründig propagierte, setzte sie doch mit Sprüchen wie »So etwas wie ­Gesellschaft gibt es nicht!« auf eine Form von gesellschaftlichem Überdruss an den Sixties, in dem die Hippie-Aversion des Punk und sein ­Koketterie mit dem Nihilismus widerhallte.

https://www.jungle.world/artikel/2017/44/making-cash-chaos

 

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Fast 1000 Menschen in Bern zur Demo zum Reitschule-Jubiläum

Anlässlich des 30-jährigen Reitschulejubiläums zeigten wir, dass die Reitschule mehr ist als ein Kulturzentrum, ein Partyort oder ein „Schandfleck“. Die Reitschule und viele andere Squats in und ausserhalb Berns versuchen durch die Praxis der Besetzung und des autonomen Raumes Gegenpunkte zum herrschenden System zu setzen.

reitschulebern
Wie bei den beiden verhinderten Antifaschistischen Demonstrationen haben auch wir unbewilligt zur Demo aufgerufen. Auch wenn wir heute laufen konnten, vergessen wir die mit Polizeigewalt verhinderten Antifa-Demos nicht. Dementsprechend richtete sich die heutige Stimmung ganz klar gegen die Präsenz der Polizei während der Demo.
Unser Kampf wird auf der Strasse geführt, und wer kämpfen will, bettelt nicht! Unser Kampf für mehr autonome Räume ist auch ein Kampf gegen Repression und Faschismus. Umso mehr freuen wir uns über die Beteiligung der Antifaschist*innen, welche an der Demo zugegen waren. Unsere Kämpfe bedingen einander und sind untrennbar verbunden.
Genauso freuen wir uns, eine äusserst vielseitige und durchmischte Demonstration erlebt zu haben. Insgesamt gab es sechs Redebeiträge von Menschen aus der Schweiz und Deutschland. Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senior*innen, darunter ehemalige Besetzer*innen der Reitschule 1987, waren bei der Demonstration präsent. Anliegen verschiedener Couleur zu den Themen Freiraum, Autonomie und Widerstand kamen zur Sprache.

Wir danken allen Beteiligten für dieses starke Zeichen. Wir sehen: Bern und die Reitschule können ihren revolutionären Geist leben, wenn sie nur wollen.

Quelle: https://barrikade.info/Fast-1000-Menschen-in-Bern-zur-Demo-zum-Reitschule-Jubilaum-505

 

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