Tränengas? Nein. Gewalt? Ging nur von den DemonstrantInnen aus. Die Zürcher Stadtpolizei schönte am Wochenende eine höchst fragwürdige Realität und hält seither trotzig daran fest. Eine Rekonstruktion.
Marco Cortesi war nicht zu beneiden. Der Mediensprecher der
Stadtzürcher Polizei, selbst eine Art Medienstar – «Charmant,
sonnengebräunt und immer zur Stelle» («Blick») –, stand im Dauereinsatz.
In Zürich waren am Samstagnachmittag gleich drei Kundgebungen
unterwegs: der von christlich-fundamentalistischen
AbtreibungsgegnerInnen lancierte «Marsch fürs Läbe» auf dem
Turbinenplatz im Kreis 5, eine unbewilligte Gegendemo auf der nahen
Josefwiese, die das «Bündnis für ein selbstbestimmtes Leben» organisiert
hatte, sowie eine bewilligte und von der Juso angemeldete Gegendemo auf
dem Helvetiaplatz.
Am Ende des Tages beschäftigte die Zürcher Stadtpolizei (Stapo) vor allem die unbewilligte Demo rund um die Josefwiese. Auf Tele Züri beschrieb Cortesi den Polizeieinsatz am frühen Abend wie folgt: «Man hat Polizisten mit Gegenständen beworfen, Container angezündet und Strassenbarrikaden gemacht.» Die «Schlussbilanz» verkündete 175 kontrollierte Personen sowie die Festnahme eines Dreissigjährigen wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte. Hinzu kamen zwei durch Wurfgegenstände «nicht gravierend verletzte» Polizisten und ein «massiv beschädigtes Polizeifahrzeug». Entsprechend die Schlagzeilen vieler Medien: «Krawallmacher stören Demo der Abtreibungsgegner» oder «Meinungsfreiheit mit Füssen getreten».
Um 15.45 Uhr knallte es
Doch das Lagebild der Polizei bekam schon bald Risse. Als ein
Tele-Züri-Journalist fragte, ob die Polizei auf der Josefwiese auch
Tränengas eingesetzt habe, sagte Cortesi zunächst unbeirrt, gemäss
seinen Informationen «haben wir dort nie Tränengas eingesetzt». Eine
Aussage, die der Mediensprecher bereits am Sonntag abschwächen musste –
angesichts von Medienfragen sowie von veröffentlichten Foto- und
Videoaufnahmen, die den Einsatz von Tränengas vor Ort dokumentierten:
«Tatsache ist, dass nicht absichtlich Tränengas eingesetzt wurde auf
dieser Josefwiese. Da bleibe ich dabei.» Es sei möglich, dass der Wind
gewisse Schwaden auf die Wiese getrieben habe und Unbeteiligte betroffen
gewesen seien, sagte Cortesi. Hinter ihm standen auf den TV-Bildern gut
sichtbar zwei offenbar konfiszierte Kinderwagen. Der
Stapo-Twitter-Account meldete am Samstagnachmittag: «Unsere
Einsatzkräfte vor Ort melden, dass im unbewilligten Demonstrationszug
Kinderwagen mitgeführt werden, die mit Wurfgegenständen gefüllt sind.»
Davon war im Bild hinter Cortesi nichts zu sehen, stattdessen
Soundanlagen.
Die WOZ hat versucht, den Polizeieinsatz um die Josefwiese so präzise
wie möglich zu rekonstruieren. Sie wertete exklusives Bild- und
Videomaterial aus und sprach mit einem Dutzend AugenzeugInnen – sowohl
mit unbeteiligten ParkbesucherInnen wie auch mit
KundgebungsteilnehmerInnen. Die zwölf unabhängig voneinander eingeholten
Schilderungen und das Bildmaterial widersprechen der offiziellen
Lageeinschätzung.
Die Absicht hinter der unbewilligten Gegendemo im Vorfeld: den
«Marsch fürs Läbe» zu verhindern und für das «hart erkämpfte Frauenrecht
auf Abtreibung einzustehen». Dem Aufruf folgten über tausend Personen
aus feministischen, queeren und antirassistischen Kreisen.
Gemäss AugenzeugInnen war die Lage auf der Josefwiese bis um etwa
15.45 Uhr friedlich. Die Situation änderte sich schlagartig, als die
Polizei die DemonstrantInnen aus den umliegenden Strassen auf die
Josefwiese drängte.
Noémi Bartha, die unweit der Josefwiese wohnt und mit FreundInnen
sowie ihren zwei Kindern zu dem Zeitpunkt vor Ort war, schildert, wie es
plötzlich in unmittelbarer Nähe des Spielplatzes, wo ihre Kinder waren,
geknallt habe. «Und ohne Vorwarnung kam Tränengas zum Einsatz, wir
hörten Gummigeschosse, und Panik brach aus.» Innert kürzester Zeit sei
die Situation bedrohlich geworden. Sie hätten dann zum Glück rasch in
der nahen Tangoschule Platz gefunden. «Es waren viele Eltern mit ihren
Kindern da, alle Kinder weinten. Aus meiner Sicht hat sich die ganze
Situation als unnötige Angstmacherei der Polizei angefühlt. Sie waren
überall sichtbar und machten einen bedrohlichen Eindruck.» Diese
Darstellung bestätigen alle befragten AugenzeugInnen, die zum fraglichen
Zeitpunkt direkt involviert waren: Als bedrohlich wurde das
Polizeiaufgebot wahrgenommen, nicht die DemonstrantInnen.
Kathrin, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte,
war als Teilnehmerin auf der Josefwiese. Sie beschreibt, wie die
Stimmung gekippt sei, als «ein Sechserteam der Polizei in Vollmontur mit
weissen Helmen am Rand der Josefwiese aggressiv wirkend
herummarschierte». Diese seien daraufhin auf dem Weg einer Hecke entlang
von Anwesenden mit Kies beworfen und beschimpft worden. «Zeitgleich
traf dort eine Demonstrationsgruppe ein, die vor Polizisten flüchtete,
die Gummigeschosse und Tränengaspetarden abfeuerten. Ein Teil davon
landete auf dem Spielplatz», sagt Kathrin. Dann sei es unübersichtlich
geworden: «Noch mehr Tränengaspatronen flogen über die Hecke auf die
Josefwiese. Mehrere Patronen landeten direkt neben noch spielenden
Kindern und Kinderwagen. Eine Frau zerrte ein Kind weg, die Kinderwagen
wurden von umstehenden Leuten in Sicherheit gebracht. Alle rannten,
Kinder schrien, Eltern schrien, alle schrien die Polizisten an, die
endlich zurückwichen.» Die Aussagen Kathrins decken sich mit
Videoaufnahmen, die der WOZ vorliegen.
Ein Teil der befragten ZeugInnen übte auch Kritik an der Gegendemo:
Warum wurde die Josefwiese als Versammlungsort ausgewählt, wo immer
viele Kinder und andere Unbeteiligte sind? Weshalb waren gewisse
TeilnehmerInnen vermummt, wieso mussten Container brennen – Bilder, die
Polizei und Medien dankbar aufnehmen?
«Mitteleinsatz»
Die WOZ hat die Stapo mit den mit Bildmaterial unterlegten Aussagen
der zwölf AugenzeugInnen konfrontiert. Die Stapo hält an folgender
Darstellung fest: «Ein Auftrag, an die Polizeiangehörigen an der Front,
auf der Josefwiese Tränengas einzusetzen, wurde nie erteilt. Es gibt
auch keine Hinweise darauf, dass Wurfkörper durch die Polizei auf die
Josefwiese geworfen wurden.» Jedoch seien im Bereich nahe der Josefwiese
bei heftigen Angriffen auf die Polizei zur Selbstverteidigung
«Handwurfkörper» mit Tränengas eingesetzt worden. Nach diesem
«Mitteleinsatz» hätten sich «die flüchtenden gewaltbereiten
Demonstranten auf die Josefwiese zurückgezogen, was auch zur
Verunsicherung von unbeteiligten Personen geführt haben dürfte».
«Allfällige Schwaden»
Die WOZ hat bei der Stapo auch wegen der Wurfgegenstände in den
konfiszierten Kinderwagen nachgefragt. Gemäss Angaben aus dem Umfeld des
«Bündnisses für ein selbstbestimmtes Leben» wurden in den Kinderwagen
lediglich Soundboxen transportiert. Die Stapo sagt dazu: «Die Polizisten
stellten während eines Einsatzes, als sie von Vermummten angegriffen
wurden, Wurfgegenstände in Kinderwagen fest. Zu diesem Zeitpunkt war es
aufgrund der kritischen Sicherheitslage jedoch nicht möglich, diese
sicherzustellen.»
Auch das von der Grünen Karin Rykart geführte Stadtzürcher Sicherheitsdepartement äusserte sich auf Anfrage: «Der Polizeieinsatz am vergangenen Samstag wird gesamthaft als korrekt und verhältnismässig beurteilt. Aus dem Einsatz von Reizstoff wird die Stadtpolizei die notwendigen Lehren ziehen.» Für das Sicherheitsdepartement sind «die beabsichtigte Störung einer bewilligten Demonstration und die Gewalt gegenüber Angehörigen der Stadtpolizei inakzeptabel». Trotz der vorliegenden AugenzeugInnenaussagen und des Bildmaterials spricht das Sicherheitsdepartement weiter von «allfälligen Schwaden, die möglicherweise vom Wind auf die Josefwiese getragen wurden».
Quelle: https://www.woz.ch/1938/marsch-fuers-laebe/die-stapo-im-kommunikativen-rueckzugsgefecht