Proteste gegen Schutzmaßnahmen in mehreren Städten mit extrem rechter Beteiligung
Quer durch Deutschland ist am Wochenende gegen die Beschränkungen im Zuge der Coronakrise demonstriert worden – wobei zahlreiche Teilnehmer die Auflagen missachteten und den Mindestabstand von 1,5 bis zwei Metern nicht einhielten. Auf dem Alexanderplatz in Berlin kam es nach Polizeiangaben zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Einsatzkräften. Rund 1.200 Personen hatten sich demnach zu der nicht angemeldeten Demonstration versammelt. Mehrere Teilnehmer skandierten Parolen wie »Wir sind das Volk« oder »Freiheit, Freiheit«. Ein im Internet kursierendes Video zeigt Hendrik Sodenkamp, einen der Initiatoren der Berliner »Hygienedemos«, der sich auf dem Platz, zunehmend verzweifelt, über die Beteiligung von extremen Rechten beschwert – und damit bei anderen Teilnehmern auf Unverständnis stößt: »Ich habe einfach nichts mit Nazis gemein«, sagt er und bekommt zu hören: »Wir sind alle ein Volk«, und: »Dann geh doch weg hier.« Laut Polizei kam es auch zu Flaschenwürfen und Angriffen auf Beamte. 86 Personen wurden vorübergehend festgenommen.
In München versammelten sich nach Polizeiangaben rund 3.000 Menschen am zentralen Marienplatz, um gegen die Coronaauflagen zu demonstrieren. Da die Menschenmenge deutlich größer gewesen sei als die angemeldeten 80 Teilnehmer, sei die Einhaltung des Mindestabstands nicht möglich gewesen, teilte die Polizei via Twitter mit. Aufforderungen zur Auflösung kamen die Demonstranten jedoch nicht nach, der Einsatzleiter entschied sich dennoch gegen eine Räumung.
In München und Stuttgart fanden ebenfalls Großkundgebungen statt. Der Thüringer FDP-Chef Thomas Kemmerich nahm an einer Protestveranstaltung in Gera teil, an der sich nach Angaben des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) auch AfD-Vertreter beteiligten. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) schrieb zu einem Foto, das Kemmerich in dem Protestzug zeigt: »Abstand halten oder Mundnasenschutzbedeckung? – Fehlanzeige! Vorbildfunktion? – Fehlanzeige!«
Die Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit sei auch am 1. Mai gewährleistet, hiess es noch am 30. April 2020 aus Bundesbern. So verkündete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Tagesanzeiger: «Denkbar sind alle Formen von politischen Äusserungen, bei denen es zu keinen Menschenansammlungen kommt (beispielsweise Aufstellen von Plakaten im öffentlichen Raum).» Die Behörden hätten einen Handlungsspielraum, «insbesondere wenn sich nur einzelne Personen an einer Aktion beteiligen». Ganz anderer Meinung waren aber die Sicherheitsorgane verschiedener Schweizer Kantone und Städte. Sie genossen am 1. Mai ihren neuen Spielraum und schritten rigoros gegen jede Regung von Protest ein. Besonders aus den Städten Bern und Zürich erreichten uns Berichte von Repression und Willkürakten rund um den 1. Mai. Aktivist*innen wurden verhaftet, weil sie ein Transparent aufgehängt oder irgendwo ein Plakat mit Klebstreifen angebracht hatten. Fahnen und andere sichtbare politische Statements wurden konfisziert. Und im Knast wurden Verhaftete gedemütigt.
Ruhe sollte auch in Zürich die erste Bürgerpflicht sein. Das Aufhängen von Transparenten im öffentlichen Raum wurde zum kriminellen Akt und Robocops nahmen sämtliche Transparente, die sie entdeckten, gleich wieder ab. Kritik und Protest sollte unsichtbar gemacht werden. Bereits am frühen Morgen hielten etwa Vertreter*innen der gewerkschaftlichen Basisgruppe «Zürich bleibt öffentlich» und Arbeiter*innen des Gesundheitswesens vor dem Rathaus einige Reden – coronakonform in Kleingruppen und mit Abständen.
Doch schon nach kurzer Zeit löste ein Grossaufgebot der Polizei die Aktion auf und nahm sogar Verhaftungen vor. Dies mit Verweis auf die geltenden Hygienemassnahmen. Massnahmen, die die Polizist*innen im Unterschied zu den Protestierenden nicht einhielten. Im Verlauf des 1. Mai 2020 wurden in Zürich, wo die grüne Stadträtin Karin Rykart die Polizei anführt, 24 Personen verhaftet und 113 weggewiesen. Dabei kam es auch zu Prügelattacken auf kleinere Ansammlungen.
Ganz anders in Winterthur, wo es wie in der Nachbarsstadt zahlreiche Kleingruppen-Proteste gab, die Polizei aber kaum sichtbar war und völlig passiv blieb. In Basel wiederum war es sogar möglich, eine Distanz-Demonstration mit rund vierhundert Personen durchzuführen.
Kurzum: Der Auftritt einiger Polizeien am diesjährigen 1. Mai zeigt, wie selbstgefällig die Sicherheitsapparate agieren können. Öffnet sich ihnen ein Spielraum, nutzen sie diesen sofort aus und wenden neue Praktiken an, wie es ihnen gerade beliebt. Das zeigen deutlich die folgenden Erfahrungsberichte aus Bern und Zürich. Sie gehören zu einem Dutzend Zeug*innenaussagen, die das Ajour Magazin erhalten hat.
1) Transparent aufgehängt: Sechs Stunden in Isolationszelle und Verfahren wegen Verstoss gegen Sprengstoffgesetz
Milo*, aus Zürich:
«Um 10.30 Uhr wurde mein Kollege und ich von Polizisten angehalten. Sie verdächtigten uns, auf einer Fussgängerbrücke ein Transparent aufgehängt und dabei Rauchstäbe gezündet zu haben. Nach Sprüchen wie «Die passed ja gnau i oises Beuteschema» brachten sie uns auf den Posten St. Jakobstrasse/Zeughausstrasse. Dort sassen wir von 11.30 bis 17.30 Uhr. Und zwar jeweils alleine in komplett leeren Räumen. Mein Raum war übertrieben hell beleuchtet, so dass ich sogar dann geblendet wurde, wenn ich die Augen geschlossen hielt. Ganz unabhängig davon, was eine Person gemacht hat: Es ist nie gerechtfertigt, jemanden stundenlang so fertig zu machen. Nach zwei Stunden versicherten die Polizisten, dass es jetzt bloss noch zehn Minuten ginge. Es dauerte aber weitere zwei Stunden. Dann erneut: «Nur noch zehn Minuten.» Sie logen, ohne sich zu schämen. Erst nach dieser langen Zeit, haben sie uns verhört und versuchten unsere geschwächte Verfassung auszunutzen, um an Geständnisse zu kommen. Ihr absurder Vorwurf: Nichts weniger als «Verstoss gegen das Sprengstoffgesetz». Ausserdem haben wir bereits eine Busse von je hundert Franken erhalten, da wir während der Polizeikontrolle angeblich die Zwei-Meter-Regel nicht eingehalten hätten.
Während den sieben Stunden in Polizeigewahrsam wurde mir die Einnahme meiner Medikamente verwehrt. Dies, obwohl ich drei Mal betonte, dass ich nun meine Medikamente brauche, die im konfiszierten Rucksack lagen, samt der ärztlichen Bescheinigung («Drei Mal täglich einnehmen»). Statt Medikamente gab es für mich eine Entnahme der Fingerabdrücke sowie eine schriftliche Aufforderung zur DNA-Probe. Wir sollen uns nun innert 14 Tagen melden, um einen entsprechenden Termin zu bekommen. Dabei gibt es von der Staatsanwaltschaft gar keine Anordnung hierzu.»
2) «Corona war nie ein Thema. Der Polizei ging es nur um unsere politischen Inhalte»
Carmen* und Isabelle*, aus Zürich:
Carmen: «Wir waren in einem Zweier-Grüpplein und einem Dreier-Grüpplein beim Goldbrunnenplatz spazieren. Und wir haben dann ein Ni-Una-Menos-Plakat mit Malerklebband an einem Hauseingang angebracht. Keine 3 Sekunden später waren wir umzingelt von drei Sixpacks. Robocops sprangen raus, umzingelten uns, und unterzogen uns einer Personenkontrolle. Dann haben sie unsere Rucksäcke eingepackt. Da fragten wir uns schon, was das nun wird. Bald war aber klar, dass sie uns verhaften wollten. Wir waren völlig perplex. Das kann doch nicht sein. Wir kamen uns vor wie im falschen Film, dass sie uns für das verhaften wollten – für das Malerklebband und das A4-Plakat, auf dem Anlaufstellen und Notrufnummern bei häuslicher Gewalt draufstehen.
Wir wurden dann alle fünf auf den Posten mitgenommen und es hat sich rausgestellt, dass jede von uns völlig unterschiedlich behandelt wurde von den Cops. Einige wurden befragt, andere nicht, einige wurden viel länger dabehalten als andere. Einigen haben sie am Schluss gesagt, dass sie alles fallen lassen werden, wiederum anderen haben sie gesagt, «ja, sie werden schon noch Post von der Staatsanwaltschaft erhalten» und sie würden einen Verzeig oder eine Busse erhalten. Ich habe dann auf meinem eigenen Rapport gesehen – weil der Bulle das Papier falsch hielt – was der Tatbestand ist, den sie uns vorwerfen: Sachbeschädigung, unbewilligte Demonstration und Vermummung. Sachbeschädigung durch etwas Malerklebband? Unbewilligte Demonstration, weil wir zu dritt und zu zweit auf dem Trottoir gingen? Und Vermummung wegen eines farbigen Schals im Gepäck? Das ist doch völlig jenseits.
Harmlose beschlagnahmte Gegenstände: Polizei legt einen Böller hinzu.
Während der Verhaftung haben die Bullen einfach einen Gegenstand, der nicht uns gehörte – es sah aus wie ein Böller – vom Boden aufgelesen und in den Effektensack einer Freundin gesteckt. Die Freundin meinte dann: «Hey, das gehört nicht mir!» Sie meinten bloss: «Ah jaja, wir nehmen das dann nachher schon wieder raus». Wir wissen aber nicht, ob sie das dann tatsächlich wieder rausgenommen haben.
Und dann sind wir für dieses Klebband in unserem Rucksack drei Stunden gefesselt in einer Garage der Bullen am Boden gehockt – wir mussten auf diesem kalten Boden sitzen. Andere mussten drei Stunden lang in einen Einzel-Warteraum. Die waren drei Stunden in diesen kleinen Räumen völlig abgeschnitten von allem und wussten nicht, was vor sich ging.
Demütigung mit offenem WC
Sehr unangenehm war auch, dass sie sich auf dem Posten weigerten, uns die WC-Tür zu schliessen. Die Türe war immer offen. Und man musste die Hosen runterlassen und dort aufs WC sitzen, währendem draussen Bullen hin und her liefen und neu verhaftete Leute reinbrachten. Eine Polizistin meinte: «Ihr seid ja sonst auch nicht so prüde.»
Während der ganzen Prozedur hat sich eindeutig gezeigt, worum es ihnen wirklich geht. Corona war nie ein Thema! Sie haben uns alle ohne Handschuhe, ohne Masken angefasst, kontrolliert, sie sind uns allen so nahe gekommen, als wir verhaftet wurden und es waren insgesamt fünf riesen Kastenwägen mit zwanzig Cops drin. Immer ging es bloss darum, dass wir politische Inhalte verbreitet haben. Sie haben offen gezeigt, dass sie Corona gar nicht wirklich interessiert.»
Isabelle*: «Ich – als eine der fünf Verhafteten – hatte eine heftige Panikattacke. Ich hatte Herzrasen, musste erbrechen und mir war sehr schlecht. Und der Typ nebenan, also der Bulle in der Garage, hat geraucht. «Tu nicht so hysterisch», sagten die Beamten, und «wir holen die Ambulanz dann schon, wenn du zusammenklappst». Irgendwann haben sie mich rausgeführt durch die Türe an die frische Luft und die anderen haben angenommen, dass ich nach Hause kann, weil es mir nicht gut geht. Und ich war dann aber letztlich die Person, mit der als einzige ein vollständiges Verhör gemacht wurde. Meine Situation wurde ausgenutzt. Alle Polizist*innen haben das ganz offensichtlich gesehen und realisiert.»
3) «Sie sagten, mein Freund und ich seien eine unbewilligte Demonstration»
Thomas*, aus Bern:
«Ich bin alleine mit einer eingerollten Fahne der Basisgewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) zum Rosengarten gegangen. Es wurde ja zu keiner Demo aufgerufen, sondern dass man irgendwann zwischen 16 und 18 Uhr die übliche Route läuft. Ich hatte um 16 Uhr mit einem Arbeitskollegen abgemacht. Der Rosengarten ist schon länger abgesperrt wegen Covid-19. Das hatte ich nicht mehr auf dem Radar. Als ich an der Bushaltestelle vorbeigekommen bin, hat mich ein Anruf des Arbeitskollegen erreicht, dass sie in der Innenstadt Demo-Sachen beschlagnahmen. Er sei durchgekommen und warte auf dem Bänkli im Aargauerstalden grad unterhalb des Rosengartens. Bei der Bushaltestelle im Rosengarten ist ein Freund, der seit Jahren Demos filmt, auf mich zu gekommen und hat erstaunt bemerkt: «di hei si düre gla?!» Er sagte mir, dass sie etwas weiter oben «grad vori» kontrolliert hätten und Schilder einkassiert und Leute weggeschickt. Ich lief dann alleine mit ausgerollter Fahne vom Rosengarten zum Aargauerstalden, dort wartete auf einem Bänkli mein Arbeitskollege, der sich mir anschloss. Wir liefen auf gleicher Höhe, hielten Abstand. Vor uns und nach uns waren andere bekannte Gesichter in Zweiergruppen und mit mindestens zehn Meter Abstand zueinander. Ohne Demomaterial. Wir spazierten auf dem Trottoir den Stalden runter. Kurz vor dem Bärengraben wurde unsere Zweiergruppe von drei Polizist*innen gestoppt. Diese wiesen gerade Leute, die uns entgegenkamen, darauf hin, dass die Demo verboten sei
Dann sahen sie uns mit der Fahne. Personenkontrolle. Was wir hier machen würden, wir sagten nichts. Ausweise fotografiert. Die Fahne müsse beschlagnahmt werden. Die Demo sei verboten. Wir sagten, wir seien keine Demo, sondern zu zweit – sie sagten das sei eine verbotene Demo unabhängig der Anzahl Teilnehmer. Ich sagte, dann gehe es hier allein ums Prinzip. Und nicht um Massnahmen gegen Covid-19? Und dass das lächerlich sei. Der Polizist sagte nichts darauf. Sondern erklärte mir die Wegweisung. Sie waren freundlich, hielten aber den Abstand nicht ein und ich musste mit ihrem Kugelschreiber eine Quittung unterschreiben, damit ich die Fahne am Montag abholen kann. Wir wurden mündlich weggewiesen für 24 Stunden für die Demoroute, inklusive der ganzen Innenstadt mit Reitschule/Schützenmatte. Wir gingen dann mit dem Bus ins Quartier und trafen uns mit drei weiteren Leuten, die ähnliches erlebt hatten, und einer unentdeckt gebliebenen Fahne, um ein Bier zu trinken. Dort blieben wir unbehelligt.»
4) «Was tragen Sie da unter dem Arm?» – «Einen Karton.» – «Der ist verboten!»
Rebecca, aus Bern:
«Meine Kollegin und ich laufen mit meinem Sohn, der im Kinderwagen sitzt, durch die Berner Altstadt. In der Kramgasse steigen plötzlich drei Polizisten aus einem Auto und halten uns an. Sie fragen meine Kollegin, was sie unter dem Arm trage. Sie antwortet: «einen Karton». Die Polizisten wollen den Karton sehen und teilen uns mit, dass dieser nicht erlaubt sei. Auch ein A4-Plakat des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB), das vorne im Kinderwagen steckt, ist gemäss den drei Beamten zur Zeit verboten. Auf die Frage, warum wir solche Schilder nicht bei uns haben dürfen, heisst es, dass Kundgebungen verboten seien. Wir führen eine kurze Diskussion über Sinn und Unsinn dieser Massnahme und machen klar, dass wir uns nicht mit anderen Menschen treffen wollen. Das scheint den Polizisten nicht einzuleuchten und sie bestehen darauf, dass wir die beiden Schilder abgeben. Wir lassen uns für die konfiszierten Schilder eine Quittung ausstellen. Wir könnten diese am Dienstag abholen.»
5) «Mein Kind schrie zehn Minuten lang ununterbrochen»
Daniela*, aus Zürich:
«Wir, vier erwachsene Aktivistinnen und meine zweijährige Tochter, waren friedlich in Zürich unterwegs. Mit Abstand und Schutzmasken. Als wir um die Ecke bogen, wurden wir von Zivis abgefangen. Personenkontrolle. Ich gab meinen Ausweis ab und weigerte mich aber, die Musik abzuschalten, was die Zivilpolizistin schon sichtlich verärgerte. Sie forderte mich auf, an die Wand zu stehen. Mit dem Kind im Fahrradanhänger gehe ich Richtung Wand und bleibe aber leicht in Bewegung, weil ich mein Kind umsorgen musste (ich gab ihr eine Banane, denn sie hatte Hunger). Ich holte mein Handy aus dem Fahrradanhänger, woraufhin die Polizistin sofort auf mich zukam und mich energisch aufforderte, das Telefon wegzutun. Als ich dies nicht sofort tat, griff sie brutal nach mir und will mir das Telefon gewaltvoll aus der Hand reissen. Ich nehme das Telefon reflexartig zu mir und wehre mich. Ich schreie: «Keine Gewalt». Darauf hin folgt ein blinder Moment ohne Erinnerung, die Gewalt nimmt zu. Ich werde von der Polizistin weggezerrt und will zu meinem Kind, da es losschreit, weint und meinen Namen ruft. Es zerreisst mich, ich schreie laut (weiss aber nicht mehr was). Ich denke mir bloss: Was ist hier los? Ich bin doch friedlich hier! Das ist Willkür. Ich habe hier keine Rechte. Ich werde gewaltvoll in Handschellen gelegt, an das Polizeiauto gedrückt. Als mein Kind zehn Minuten ununterbrochen weinte (der Klang der Panik in meiner Stimme schien ihr Angst zu machen), wurde sie von einer Genossin ausser Sichtweite gebracht. Ich musste ca. 45 Minuten verharren, bis ich wieder mit meinem Kind in Kontakt treten darf. Ich bin wütend und habe Angst um die Kleine. Wenn sie mich mitnehmen, was passiert denn mit ihr? Wie konnte das passieren? Warum all diese Aggression?
Ein Mitgrund für meine Festnahme war, dass ich «vermummt» war. Ich trug eine Atemschutzmaske, um mich unter anderem vor der Polizei zu schützen, die keine trug und mir definitiv näher als zwei Meter kam. In meiner Wahrnehmung hatte mich auch die Zivilpolizistin bereits von Anfang an im Visier, da ich mit dem Fahrradanhänger mit der Musik und den Transparenten unterwegs war. Sie war auffallend gewaltvoll und kaltherzig, als müsse sie sich in diesem machoiden Konstrukt der Polizei als Frau besonders stark behaupten. Das macht mich aus feministischer Perspektive im Nachhinein besonders wütend.«
6) «Sie haben sich politisch betätigt!» – sechs IWW-Gewerkschafter*innen in Zürich verhaftet
Die Betroffenen schreiben uns:
«Am 1. Mai 2020 wurden sechs Mitglieder der Basisgewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) im Zürcher Niederdorf verhaftet und über mehrere Stunden festgehalten. Sie waren in Zwei-Meter-Distanz und in zwei Gruppen auf dem Weg zu einer Firma, in der ein Arbeitskampf tobt. Ziel: Mit Transparenten und Fahnen Solidarität zeigen.
Die sechs Personen bewegten sich um 13:45 Uhr auf den «Oberen Zäunen» in zwei Dreiergruppen von der Kirchgasse herkommend Richtung Blaufahnenstrasse, als die eine Dreiergruppe von hinten von zwei Polizisten eingeholt und aufgehalten wurde und gefragt wurde «Wo machen sie?» (sic). Der anderen Gruppe wurde mit einem Polizeifahrzeug der Weg abgeschnitten und die drei Personen wurden ebenfalls festgehalten. Auf die Frage nach den Gründen der Kontrolle wurde der einen Gruppe von einem Beamten etwas undeutlich mit Aussagen wie «Ja, erster Mai halt…» und «Sie wissen schon, warum» geantwortet, auf erneutes Nachfragen dann immer noch vage mit «Verstoss gegen die Covid-Verordnung» und, dass sich die sechs Personen «politisch betätigt» hätten und an einer unbewilligten Demo teilgenommen hätten. Es gäbe Videoaufnahmen. Auf den Hinweis, dass das Vorgehen der Beamten nicht im Sinne der Covid-Verordnung sei, wurde nicht geantwortet. Ebenfalls konnte keine Antwort darauf gegeben werden, was denn eine Demo sei und was nicht.
Polizei ohne Schutzmasken
Während des Wortwechsels zwischen Beamten und Verhafteten wurden die festgehaltenen Personen zu keinem Zeitpunkt dazu aufgefordert sich aufzulösen. Die vier Beamten kontrollierten Identität, Taschen und Rucksäcke. Mit Hilfe der inzwischen herbeigerufenen Verstärkung von zwei bis drei weiteren Einsatzteams wurden den IWW-Mitgliedern mit Kabelbindern die Hände hinter die Rücken gebunden. In zwei Kastenwagen wurden um kurz nach 14 Uhr je drei Personen in die Hauptwache der Stadtpolizei gefahren. Zu keinem Zeitpunkt haben die Polizist*innen Schutzmasken getragen oder den Abstand zu den Verhafteten versucht einzuhalten. Einzelnen wurde die Schutzmaske erst nach vermehrtem Kontakt mit Polizist*innen direkt vor dem Einsteigen in den Kastenwagen angezogen.
Keine Kooperation? Strafe per Kabelbinder
Die Behandlung in der Hauptwache fiel sehr unterschiedlich aus. Alle sechs Personen wurden zunächst gefesselt im Kastenwagen (bis zu vierzig Minuten) und auf dem Boden einer Garage festgehalten, abfotografiert und danach für zwanzig bis neunzig Minuten in Einzelhaft festgehalten. Die Personen wurden auf eine Weise aufgefordert, ihre Fingerabdrücke abzugeben, die nicht klarmachte, dass dies nicht Pflicht ist. Personen die sich geweigert haben, ihre Fingerabdrücke zu geben, wurden für die Zeit in der Einzelzelle nicht von den Kabelbindern befreit, einer Person wurden die Kabelbinder um die Handgelenke hinter dem Rücken noch enger angezogen bevor sie in die Einzelzelle kam. Es wurde klargemacht, dass dies eine Konsequenz der Kooperationsunwilligkeit ist. Ausserdem hat sich die Polizei uns gegenüber mal wieder von der rassistischsten und sexistischsten Seite gezeigt und hat einzelne Mitglieder während der Verhaftung entsprechend beleidigt.
Willkür wohin das Auge reicht
Einzelne Personen wurden befragt, andere nicht. Die angedrohten Konsequenzen reichten von einem Bericht an die Staatsanwaltschaft und Anzeigen wegen Teilnahme an einer unbewilligten Demo, über Bussen wegen Verstosses gegen die Covid-Anordnung (100 Fr.) und Anschuldigungen wegen Gefährdung Dritter sowie geplanter Gewaltausübung. Alle bekamen ein Rayonverbot. Die erste Person wurde um 15:53 Uhr entlassen die letzten beiden Personen kurz vor 18 Uhr. Weitere IWW-Mitglieder, die in kleinen Gruppen unterwegs waren und zum Zeitpunkt der Verhaftung der sechs Personen offenbar zu weit weg waren, wurden später beim Central angehalten, kontrolliert und weggewiesen. Einem Mitglied wurde von der Polizei gesagt, dass sie jetzt ein Auge zudrücken würden und ihn deshalb nicht wie die anderen sechs Personen mit auf die Wache nähmen.»
7) «Die Polizisten waren respektlos» – Aktion von gewerkschaftlicher Basisgruppe unterdrückt
Hanna*, aus Zürich:
Als Mitarbeiterin einer NGO, die sich für prekäre Migrantinnen einsetzt, wollte ich am 1. Mai mit der VPOD-Gewerkschaftssekretärin für NGOs und mit zwei anderen Personen, die in NGOs arbeiten, mit einem Transpi in der Stadt präsent sein. Wir wollten eine kurze Rede halten. Ich habe mich dieser Aktion angeschlossen, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Staat versagt und wir es sind, die Nothilfe leisten. Und es war mir wichtig, öffentlich zu zeigen, was wir bei unserer Arbeit in den letzten Wochen durchgemacht haben. Wir waren nur zu viert und mit Schutzmasken unterwegs, haben also die BAG-Auflagen eingehalten. Die Stadtpolizei hat das aber nicht toleriert und uns kontrolliert, durchsucht und wir alle haben ein 24-stündiges Rayonverbot für die Innenstadt erhalten. Ausserdem waren die Polizisten respektlos und hielten uns dreissig Minuten in aller Öffentlichkeit fest
Keine 1. Mai Demo Aufgrund des Corona Virus kann die für dieses Jahr geplante 1. Mai Demo vom Luzerner Gewerkschaftsbund und RESolut nicht durchgeführt werden. Stattdessen gibt es ein digitales Programm mit einem Online-Podium zum Thema Care Arbeit und die Corona-Krise von 20:00 bis 21:00 Uhr unter https://us02web.zoom.us/j/83450781676. Linke Organisationen rufen zur Demo am Tag X auf Dennoch habe die Corona-Krise gezeigt, wie dringend notwendig eine 1. Mai Demo sei. Deshalb ruft ein Bündnis, welches zurzeit aus RESolut, Luzerner Gewerkschaftsbund, Juso, Junge Grüne und Frauen*streik Komitee besteht, zur Demo auf sobald dies die aktuelle Lage wieder zulasse. Die Organisator*innen werden dazu mit der Stadt Luzern Kontakt aufnehmen, sobald ein Datum absehbar sei. Alles verändern Die Organisator*innen wollen gemäss dem Motto «Alles verändern». In ihrem Aufruf fordern sie nicht nur mehr Lohn, Personal und Freizeit für die Pflege, sondern kritisieren auch «egoistische» Kündigungen im Gastro Bereich, «unhaltbare» Zustände auf dem Bau und Gewalt an Frauen. Ausserdem fordern sie sichere Fluchtwege nach Europa, keine staatliche Unterstützung für Abzocker und Umweltzerstörer sowie eine solidarische Gesellschaft. Scharfe Kritik am Bundesrat Gleich in mehreren Punkten wird der Bundesrat kritisiert. Ein Dorn im Auge ist den Organisator*innen etwa, dass die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals verschlechtert worden seien, dass der Bundesrat zu wenig gegen Gewalt an Frauen unternommen und dass er es verpasst habe Menschen aus den Flüchtlingslagern rund ums Mittelmeer zu evakuieren.
Die aktuelle Situation lässt die Widersprüche und Barbarei des Kapitalismus schonungslos hervortreten. Das chronisch überlastete Pflegepersonal muss noch länger und härter arbeiten als sonst. Menschen mit temporärer Anstellung sind seit einem Monat ohne Lohn, andere haben Lohneinbussen aufgrund der Kurzarbeit. Das Asylrecht in der Schweiz ist faktisch ausgehebelt, während die Geflüchteten in Griechenland ohne Schutz sind. Es droht eine weitere Zunahme häuslicher und sexualisierter Gewalt. Und der Bund prüft die Massenüberwachung via Handyortung. Kurz: Die Krise tobt und wir sollen an unterschiedlichen Fronten für all die Fehler des Systems bezahlen.
Es ist eine Situation, in der der Kapitalismus mehr denn je zeigt, dass er selbst der Fehler ist. Doch dieser Fehler lässt sich beheben! Wir befinden uns in einer Situation, in der sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse drastisch verändern können, positiv wie negativ. Deshalb ist es für uns als revolutionäre und klassenkämpferische Linke klar, dass wir jetzt in die Offensive gehen müssen – und uns nicht erst erheben, wenn die Epidemie abgeflacht ist und alle reaktionären Massnahmen durchgesetzt sind.
Auch dieses Jahr kämpfen wir am 1. Mai gegen den Kapitalismus. Solidarisch uns angepasst an die Situation nehmen wir uns die Strasse!
Solidarität heisst Revolution! Gemeinsam gegen den Krisen-Kapitalismus!
Durch die Corona-Pandemie haben Tausende ihre Arbeit verloren oder müssen Kurzarbeit beziehen. Andere müssen auf die Arbeit gehen und sich jeden Tag einem Risiko aussetzen nur um die Miete bezahlen zu können. Der Staat befiehlt den Arbeiter*innen wieder zu arbeiten um die Profite ihrer Chefs zu sichern und investiert Milliarden Steuergelder um die Wirtschaft zu retten. Wir wollen die Leben der Arbeiter*innen schützen und fordern jetzt einen Mieterlass für alle Mietenden für die nächsten 3 Monate. Schicke jetzt einen anonymisierten Brief an deine*n Hauseigentümer*in über mietstreik.ch
Der Staat investiert Milliarden in die Rettung der Wirtschaft, aber scheinbar bleiben die Menschen dabei meist auf der Strecke. Die sich abzeichnende Wirtschaftskrise, welche seit 2008 nie wirklich überwunden wurde, könnte die Lage zusätzlich verschärfen.[1] Wir wollen nicht, dass sich die Krise wieder auf dem Rücken der Eigentumslosen ausgetragen wird. Wir sprechen von allen welche Miete zahlen Müssen weil sie keine Häuser besitzen. Von all jenen welche jeden Morgen zur Arbeit gehen müssen weil sie nicht andere für sich arbeiten lassen können. Oder diejenigen welche nicht einmal die Möglichkeit haben sich ein geregeltes Einkommen zu sichern weil ihre Existenz oder Arbeit vom Kapitalistischen System nicht anerkannt wird.
Die Klassenunterschiede können nicht offensichtlicher sein, besonders jetzt wo der Bundesrat beschlossen hat alles daran zu setzen die Profite der besitzenden Klasse zu sichern und die Arbeiter*innen wieder zur Lohnarbeit zu schicken und ihr Leben zu riskieren. Es zeigt sich, wie die Klasse der Eigentumslosen, obwohl deutlich in der Überzahl, entweder politisch keine Macht hat, kein Bewusstsein über ihre Gesellschaftliche Position besitzt oder ihre eigene Macht unterschätzt.
Sie haben die Medien, wir die Wahrheit Sie haben die Richter, wir die Beweise Sie haben die Chefs, wir die Massen Sie haben die Panzer, wir die Guillotine
Halten wir also zusammen, schützen wir uns gegenseitig und reden wir gemeinsam darüber, wie wir wieder als Kollektiv für unsere Interessen einstehen können. Gehen wir zusammen in den Klassenkampf und fordern gemeinsam Mieterlass!
Schicke jetzt einen anonymisierten Brief an deine*n Hauseigentümer*in über https://mietstreik.ch/
Laut der Gruppe «Gundula» soll eine der Villen des dänischen Unternehmers Jørgen Bodum in Luzern erneut besetzt sein. Das Kollektiv möchte damit ein Zeichen für «grenzenlose Solidarität» in der Corona-Krise setzen. Bodum und Stadträtin Manuela Jost sollen persönlich informiert worden sein.
Eine der Villen des dänischen Unternehmers Jørgen Bodum soll seit dem frühen Donnerstag morgen wieder besetzt sein. Laut einer Medienmitteilung der Gruppe «Gundula», die die Häuser schon mehrmals in Beschlag genommen hatte, soll das Haus an der Obergrundstrasse 101 in der Nacht auf Donnerstag betreten worden sein. Man habe das Haus «geöffnet, gelüftet und besetzt». Die andere Villa mit der Hausnummer 99 bleibe leer. Sie sei aufgrund ihres baulichen Zustandes nicht mehr betretbar.
«Für die Besetzerinnen und Besetzer ist klar, dass gerade in Zeiten des Shutdowns neue Perspektiven auf grösst mögliche Unabhängigkeit eröffnet werden müssen: Sich als Gruppe zu organisieren, heisst Autonomie. Keine Miete zu bezahlen, bedeutet Unabhängigkeit», wird die erneute Besetzung begründet.
«Solidarität wird nur propagiert»
Und weiter: Je weniger Lohnarbeit nötig sei, desto mehr Zeit und Energie bleibe für vieles, was vor, nach und während Krisenzeiten als sogenannt «systemrelevant» betitelt werde. «Deshalb steht die Tür nun offen. Für die grenzenlose Solidarität und die Überzeugung, Herrschaftsfreiheit zu erreichen». Damit wolle man ein Zeichen echter Solidarität setzen. Denn diese werde aktuell zwar «propagiert», aber nicht wirklich gelebt.
So würden Geflüchtete in Lager gesperrt und ihrem Schicksal überlassen. «Vergessen sind diese Menschen ausserhalb der Festung Europa, vergessen ist die Klimakatastrophe, vergessen sind die elementaren Probleme des Neoliberalismus und der Globalisierung», schreibt die Gruppe.
Jørgen Bodum und Manuela Jost wurden informiert
Neben den Medien seien auch Villen-Besitzer Jørgen Bodum sowie Stadträtin und Baudirektorin Manuela Jost per Brief in Kenntnis worden, die Polizei hingegen nicht.
Bei einem ersten Augenschein vor Ort konnten keine Personen ausgemacht werden. Die Transparente, die aktuell an der Fassade hängen, scheinen indes neu zu sein.
Zwischen der COVID-19-Pandemie und vergangenen Grippewellen besteht nicht nur ein Unterschied in der Gefährlichkeit, sondern auch in der individuellen Wahrnehmung über die Verbreitung: Nie zuvor haben sich diese Menge an Menschen bei viralen Erkrankungen derart gefragt, wer einen bald anstecken könnte – oder bereits angesteckt hat. Wie ein Buschfeuer verbreitet sich die Information, wer den neuen Virus schon hat und welche Orte man meiden sollte. Freilich handelt es sich dabei in der Regel um aufgeregten Smalltalk in Zeiten, in denen andere Gesprächsthemen in den Hintergrund rücken. Man würde es auch niemandem ernsthaft übelnehmen, wenn er oder sie tatsächlich Teil der Übertragungskette war. Dass man sich ständig mit den Virus-Übertragenden beschäftigt, hat dennoch einen Grund. Der mediale wie auch staatliche Diskurs in der Eindämmung der Pandemie zielt auf das Individuum und dessen „Eigenverantwortung“. Und dies, so die folgende These, ist gefährlich, weil es einen falschen Fokus legt, der uns in dieser Krise – die nicht nur eine gesundheitliche, sondern auch eine wirtschaftliche und politische ist – noch nachhaltig beschäftigen wird.
Gegen die Individualisierung des Virus
Was für andere Pandemien wie der Influenza-Grippe fataler Trugschluss oder schlicht nicht haltbar wäre, scheint bezüglich COVID-19 plötzlich selbstverständlich: Wer jetzt nicht sofort zuhause bleibt, ist für die Übertragung verantwortlich oder riskiere das Leben seiner Mitmenschen, lautet sinngemäß die weit verbreitete Botschaft. Diejenigen, die diese Botschaft verkünden, sind nicht selten dieselben, die sich zugleich lächerlich über jene machen, die die Vorschrift dann allzu ernst nehmen und sich wie Prepper mit Einkäufen eindecken. Es sei betont, dass man sich solidarisch verhalten sollte – doch ich bin nicht Hauptverantwortlicher für die Viren, die ich in mir trage, und schon gar nicht für die Sterberate, mit der der Virus um sich schlägt!
Entgegen vieler Behauptungen trifft der Virus nämlich nicht alle gleich. Neben der Art des Virus ist auch der Zugang zum Gesundheitswesen entscheidend, wie viele Menschen letztendlich in Folge des Virus sterben. Und dieser Zugang ist in einer Klassengesellschaft ungleich verteilt – direkt, weil nicht jede/r gleichermaßen versichert ist, indirekt, weil einige ihren Jobs leichter fernbleiben können als andere. Diese Ungleichheit gilt auch für jene, die man umgangssprachlich „RisikopatientInnen“ nennt. Vorerkrankungen sind immer auch abhängig vom sozio-ökonomischen Status einer Person. Freilich können sowohl KapitalistInnen als auch ArbeiterInnen beispielsweise an Diabetes erkranken, allerdings korreliert das Risiko an Diabetes Typ 2 zu erkranken mit den ökonomischen und sozialen Umständen. So ist es auch mit Corona. Wie wichtig dabei der Klassenunterschied ist, zeigt sich anhand der historischen Pandemien. Die Spanische Grippe zum Beispiel wütete dort ungleich mehr, wo sie auf katastrophale Lebensbedingungen und entsprechend auf eine Vielzahl an Vorerkrankungen traf, insbesondere im kolonialisierten und von Hungersnöten betroffenen Indien. Die linke Diskussion auf Solidarität mit den Mitmenschen und der entsprechenden Anpassung des individuellen Verhaltens zu reduzieren, ist deshalb aus meiner Sicht gefährlich. Natürlich muss man sich als Individuum den neuen Verhältnissen anpassen. Das individuelle Verhalten kann aber nicht allein verantwortlich gemacht werden für die Lösung der Krise – exakt so, wie es die Linke in Umweltfragen die letzten Jahre noch und nöcher bezüglich des bewussten individuellen Konsums predigte. Kurzum: Man mag das Verhalten des Skifahrers, der einen Tag länger auf der Piste war und der Partygängerin, die auch am Samstag noch eine Hausparty schmiss, angesichts der gegenwärtigen Lage zu Recht kritisieren – gerade auch weil der Kapitalismus uns jahrzehntelang egoistisches und konsumorientiertes Verhalten anerzogen hat – , doch weder er noch sie trägt eine reale Mitschuld an den Todeszahlen. Entscheidend für Leben und Tod ist der Zugang zum Gesundheitswesen und die Verfügbarkeit von Geräten und medizinischem Personal, nicht das individuelle Handeln.
Die Gefahr dieser falschen Fokussierung zeigt ein Blick auf verschiedene von linken Kräften und Personen geteilten Kampagnen in den sozialen Medien. Dazu vorweg: Natürlich ist Twitter und Facebook nicht mit der Realität zu verwechseln. Gleichzeitig sind Meldungen darauf immer auch symptomatisch für bestimmte Tendenzen, die linke Diskurse in den kommenden Monaten prägen können. Unter dem Hashtag #staythefuckhome rufen beispielsweise auch einige meiner FreundInnen dazu auf, zuhause zu bleiben, um dadurch „Leben zu retten“. Dass sich derart viele Menschen solidarisch um ihre Mitmenschen sorgen und Teil einer Eindämmungsstrategie sein wollen, ist gut. Allerdings fürchte ich, dass dadurch simples individuelles Handeln zu einem politischen Akt erkoren wird – was es nicht ist. Es ist sicherlich klug, angesichts der aktuellen Situation gewissen Maßnahmen Folge zu leisten. Fokussiert man jedoch auf die Handlung des/r Einzelnen, läuft man Gefahr, die gegenwärtige Krise in ihrem politischen Charakter zu verkennen. Anders gesagt: Man übergibt dem Individuum die Verantwortung, der sich der Kapitalismus verweigert.
Dies mag angesichts der solidarischen Intentionen harsch klingen. Tatsächlich ist es wichtig, all die schönen Momente beziehungsweise Chancen zu betonen, die jeder Krise ebenso inhärent sind wie ihre Tragödien. In der Corona-Krise sind es die verschiedenen Formen der Selbstorganisierung und Nachbarschaftshilfen, wo Menschen solidarisch mit bedrohlichen Situationen umgehen. Wenn wir es nicht nur schaffen, dass diese positiven Momente in Erinnerung bleiben, sondern die Krise auch dazu nutzen, uns besser zu organisieren, dann werden am Horizont auch Alternativen einer anders strukturierten Gesellschaft sichtbar. Allerdings muss man sich keine Illusionen machen: Der Kampf um die Deutungshoheit ist schon längst entbrannt und die Herrschenden werden sich nicht davor scheuen, diesen Kampf ebenfalls mit allen Mitteln zu führen.
Die nationalistischen Reaktionen auf den Feind
Viren haben die Eigenart, dass sie als eine Art Fremdkörper wahrgenommen werden (im Körper sind sie es schlichtweg meistens auch). In dieser Rhetorik ist es kein Wunder, dass die politische Rechte gerade jetzt ihr liebstes „Allheil-Mittel“ fordert: Grenzschließungen und stärkere Kontrolle, ganz so, als könnte man den Virus ähnlich wie Migrationsbewegungen repressiv an der Grenze stoppen. Als Fremdkörper tauchen Viren allerdings auch in der allgemeinen Mobilmachung auf, die dann plötzlich auch von anderen Kräften mitgetragen wird. Gemeinsam, überparteilich, alle zusammen sollen wir gegen den Virus zusammenstehen, ganz so als sei die gegenwärtige Pandemie etwas, das uns alle gleichermaßen – als Menschen – trifft. Freilich ist es dem Virus egal, ob er auf KapitalistInnen, Kleinbürger oder ProletarierInnen trifft, doch treffen die ökonomischen Konsequenzen der durch den Virus gestoppten Wirtschaft die unteren Klassen ungemein mehr als die obere.
Das Gemeinwohl des Staates ist im Kapitalismus das Wohl des Kapitals, und dies zeigt sich nicht nur in den Maßnahmen, die zuerst die individuelle Freiheit in den Blick nimmt, bevor die Produktion gestoppt wird. Es zeigt sich auch in den kommenden Abwälzungen der Krise. Schon heute steigt der Druck auf die Betreuung, sei es in der bezahlten oder unbezahlten Variante, oder auf alle prekär Angestellten. Dieser Druck wird sich in den kommenden Monaten intensivieren – und er wird ungleich verteilt und legitimiert werden. Und auch hier werden Unternehmen, PolitikerInnen und staatliche Institutionen früher oder später mit dem Argument auftauchen, dass es doch uns alle betrifft und wir nun zusammenhalten müssen. Man wird den Arbeitenden, uns, die Ferien streichen wollen und uns auffordern, freiwillig auf unsere Löhne zu verzichten. Wieder wird es um das Gemeinwohl gehen, nur dass es dann endgültig nicht mehr um das Virus, sondern um die Wirtschaft geht. Ich hoffe, dass wir dann kollektiv fähig sein werden, die unterschiedlichen Varianten eines Gemeinwohls sichtbar zu machen und gegen falsche Versprechen zu kämpfen.
Die Corona-Krise ist auch eine Umwelt-Krise
In den ersten drei Monaten des neuen Jahrzehnts waren wir mit zwei einschneidenden Ereignissen konfrontiert. In Australien brannten gigantische Waldflächen, was eine Klimakatastrophe darstellt, und gegenwärtig erleben wir eine globale Pandemie, deren Ausmaß sich nicht abschätzen lässt. Dahinter steckt sowohl ein Zufall, als auch eine Symptomatik. Kapitalistische Widersprüche verschärfen sich, auch was die Umweltkatastrophen und die biologischen Nebenwirkungen zunehmender Landnahme und intensivierter Nahrungsmittelindustrie – insbesondere die Massentierhaltung und Wildtiermärkte – betrifft. Das zeigt sich vor allem in der Klimaerwärmung und der durch sie ausgelösten oder verstärkten Naturkatastrophen, aber auch in zunehmenden Pandemien, die wie die Vogel- oder Schweinegrippe meist (noch) auf das Tierreich beschränkt bleibt.
Die beiden linken Historiker beziehungsweise Biologen Mike Davis und Rob Wallace haben dazu in den letzten Jahrzehnten ausreichend Forschung betrieben. [1] Sie haben zwar verschiedene Schwerpunkte, folgen aber denselben drei Thesen: Erstens beschleunigt sich die globale Verbreitung von Viren durch Prozesse der kapitalistischen Globalisierungs- und Landnahme. Dadurch intensiviert der Kapitalismus die Gefahr von viralen Epidemien. Dies ist wichtig zu betonen, weil es dem verbreiteten Glauben widerspricht, dass wir jetzt ein wenig Verzicht üben müssen, um das Übel ein für alle Mal zu beseitigen. Virale Epidemien werden uns jedoch in Zukunft mehr denn je begleiten. Zweitens trägt die kapitalistische Landwirtschaft, insbesondere nach ihrer neoliberalen Reorganisierung, zur tödlichen Virenproduktion bei. Die Schweine- und Geflügelindustrie bilden einen idealen Nährboden für künftige Epidemien. Hier treffen Viren auf geschwächte Wirte und werden aufgrund der gesteigerten Umlaufszeit, in der sie neue Tiere befallen müssen, evolutionär angeregt, sich rascher zu verbreiten. Drittens hat die Klassengesellschaft Auswirkungen auf den Umgang und die Folgen von Pandemien.
Die Austerität als Nährboden der Gefahr
Als „Katastrophenkapitalismus“ kritisiert Tomasz Konicz, wie unvorbereitet die Staaten auf Naturkatastrophen reagieren. Katastrophen treffen auf einen kaputtgesparten oder privatisierten Sozial- und Gesundheitsbereich. 2018 brannten beispielsweise die Wälder in Griechenland. Aufgrund der Austerität fehlte es an allen Ecken an Personal, insbesondere bei der Feuerwehr. Natürlich hatten die Brände auch ohne Austerität nicht einfach gestoppt hätten werden können. Doch durch die Sparmaßnahmen verstärkte sich die Katastrophe, indem sowohl präventive Schutzmaßnahmen als auch Personal in der Feuerbekämpfung fehlten.
Vergleichbares zeigt sich in der aktuellen COVID-19-Pandemie. Je schlechter das Gesundheitssystem eines Landes funktioniert, desto katastrophaler wird der Virus wüten – zumindest für jene, die es sich nicht leisten können. Auch hier ist es nicht so, dass ein optimales System – oder gar eine andere Gesellschaftsform – eine virale Pandemie einfach stoppen könnte. Doch je nach Ausgangslage sinkt oder steigt die Sterblichkeitsrate immens. Und nicht nur diese. Auch die Folgekosten sind abhängig von der Verfügbarkeit und Organisation des Gesundheitswesens. Gerade hier sieht es weltweit nach Jahren der Sparmaßnahmen und Privatisierungen katastrophal aus. In den USA fehlen zahlreiche Betten, und Menschen mussten erst politischen Druck ausüben, damit sie führ ihre COVID-19-Tests nicht selbst bezahlen müssen. Ähnlich verheerend sieht es in England aus, wo der Staat für immens viel Geld Betten von privaten Spitälern mieten muss. Zudem leidet das Gesundheitswesen weltweit unter dem Problem, dass dank der postfordistischen Just-in-Time-Bestellungen wenig Vorräte an Versorgungs- und Schutzmitteln vorhanden sind. Weitere Beispiele für das Versagen des Kapitalismus werden sich in den kommenden Monaten zu Genüge finden lassen.
Der Klassencharakter der staatlichen Eingriffe
Der gegenwärtige Ausnahmezustand ist wie jede Krise im Kapitalismus zeitgleich eine Rationalisierungsmaschinerie und ein Testfeld für staatliche Interventionen. Das bedeutet nicht, dass der Staat und das Kapital diese Krise heraufbeschworen oder gar selbst aktiviert haben, wie gewisse Verschwörungstheorien behaupten. Aber man muss nicht so tun, als wäre diese Krise eine ganz andere als bisherige, als stünden uns nicht wie immer Schockstrategien bevor, die Menschen entlang von Klassengegensätzen ungleich treffen werden. Wenn man die gegenwärtige Krise auch in ihrem allgemeinen und nicht nur in ihrem speziellen Charakter betrachtet, dann zeigen sich zwei Dinge.
Erstens werden sich bestehende Widersprüche verstärken, beispielsweise die imperialistischen Spannungen oder die neokolonialen Ausbeutungsverhältnisse und Ungleichheiten. Das wiederum verstärkt andere Übel der Gesellschaft wie Rassismus (siehe beispielsweise den Alltagsrassismus oder den gegenwärtigen Umgang mit Migrationsbewegungen) oder Geschlechterungleichheiten (siehe beispielsweise die erwartete Zunahme „häuslicher“, sprich patriarchaler Gewalt während des Lockdown).
Zweitens wird die Krise für die betroffenen Menschen irreversible Schäden hervorrufen. Für den abstrakten Standpunkt des Kapitals allerdings gibt es diese Irreversibilität nicht. Der wertkritisch inspirierte Politikwissenschaftler William Sewell hat dies einst mit einem einfachen Beispiel erläutert: „Jeder Verlust ist gleichzeitig ein Gewinn: Der Konkurs einer Firma ist eine Chance für ihren Rivalen; der Misserfolg einer Investition ist ein Zeichen für das Kapital, sich anderswo zu investieren, wo die Erfolgschancen höher sind.“ [2] So zeichnet sich bereits heute ab, dass die gegenwärtige Krise eine neue Welle der Digitalisierung und Rationalisierung auslösen wird. Während sich viele Unternehmen vor den Umbrüchen fürchten, hat Amazon bereits angekündigt bis zu 100‘000 neue Stellen in seinen Verteilzentren schaffen zu wollen, weil Menschen noch mehr dazu übergehen, ihre Einkäufe online zu tätigen. [3] Und der Staat wird keine Sekunde zögern, diese Maßnahmen zu fördern. Damit soll nicht gesagt sein, dass der Staat sich nicht um den Ausgleich bemüht und sich nur für die Wirtschaft interessiert. Denn gerade das ist unter anderem sein Wesen: die Bereitstellung einer funktionierenden Wirtschaft in einer antagonistisch verfassten Gesellschaft. Ebenso wenig ist der Staat in Zeiten der Epidemie aber in eine dem Kapital gegenüber neutralen Position übergegangen.
Solidarität und das Aufkommen von neuen Kämpfen
Es gehört zu den beliebten linken Floskeln der letzten Jahre, dass man mit Widersprüchen umgehen muss. In diesem Falle hat sie etwas Wahres und es läge wohl darin: dass Menschen solidarisch sind, diese Solidarität aber auch das Potenzial hat, sich in ihr Gegenteil zu verkehren.
Wie gut wir damit tatsächlich umgehen können, wird sich zeigen. Eine erste Hürde hierzu wird sich offenbaren, sobald es darum geht, die staatlichen Maßnahmen nicht mehr einfach hinzunehmen. Zu Recht bewunderte man in den letzten Wochen die Aufstände in den italienischen Knästen und Produktionsstätten. Es ist zu hoffen, dass wenn im deutschsprachigen Raum vergleichbares geschieht, nicht plötzlich linken Stimmen den moralischen Zeigefinger erheben werden, der den Widerstand zum jetzigen Zeitpunkt als falsch oder gar gesundheitsgefährdend brandmarkt. Früher oder später wird es zum Moment kommen, in dem wir Druck aufbauen und eine militante Position entwickeln müssen, die sich nicht um staatliche Verbote kümmert. Gerade wenn es um den Umgang mit den durch die Krise verschärften Widersprüche geht, wird es verantwortungsbewusste, aber doch kollektive Aktionen und Druck von unten brauchen, der kollektiv passieren muss und nicht von zuhause aus oder nur digital laufen kann. Wir dürfen andere prekäre Notlagen wie zum Beispiel in den Lagern in Griechenland nicht vergessen. Und in den kommenden Monaten werden uns neue, durch die kommende Krise angereicherte lokale wie globale Protestwellen erwarten. Wir können sicher sein, dass der Staat und die Massenmedien in solchen Fällen sofort zur nationalen Einheit aufrufen und vermeintlichen GegnerInnen gesundheitsgefährdendes Verhalten unterstellen werden. Inwiefern eine linke Bewegung dann fähig sein wird, sich diesem zersetzenden und spaltendem Druck entgegenzusetzen, wird sich zeigen und wesentlich von ihrer Organisierung abhängen. Wir tun allerdings gut daran, bereits jetzt unsere eigenen Positionen zur Krise zu entwickeln und nicht dem staatlichen Krisen- und Pandemie-Diskurs zu verfallen.
Anmerkungen
[1] Davis, Mike: Vogelgrippe: Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien, Berlin 2005. // Wallace, Rob: Big Farms Make Big Flu, New York 2016.
[2] Sewell, William H.: The temporalities of capitalism, in: Socio-Economic Review 6 (3), 01.07.2008, S. 517–537
[3] Bei Amazons Ankündigungen handelt es sich auch um einen PR-Maßnahme: Wer in der gegenwärtigen Krise Jobs generiert, verschafft sich damit eine große Portion politischen Goodwill. Darum sind solche Zahlen mit Vorsicht zu genießen. In der Tendenz zeigen sie allerdings durchaus, wer aktuell von der Krise profitiert.
Derzeit bricht die Weltwirtschaft regelrecht ein. Das Ende
des Desasters ist nicht abzusehen. Wir müssen uns darüber ins Vernehmen
setzen. Und wir müssen uns auf die kommenden Verwerfungen und die
Angriffe auf unsere Leben vorbereiten.
Das neue Corona-Virus hat weite Teile
der Welt fest im Griff. Während in Italien die Lage weiter eskaliert und
massenhaft Menschen sterben, nehmen auch in der Schweiz die Fallzahlen rapide
zu. Auch das hiesige Gesundheitssystem wird weit über Kapazitäten belastet, das
steht mittlerweile fest. Die Regierung hält Pressekonferenzen im Akkord ab und
schränkt das öffentliche Leben sukzessive ein.
Gefängnisinsass*innen werden gezwungen,
hektoliterweise Desinfektionsmittel abzufüllen, dürfen es aber selber nicht
benutzen. Von Flughäfen heben Flugzeuge ohne einen einzigen Passagier ab, damit
die Airlines ihre Flug-Slots nicht verlieren. Vielerorts sind Toilettenpapier,
Fiebermesser und Laptops Mangelware. Der Chef der SBB rät, den öffentlichen Verkehr
zu meiden. Auf Spitalangestellte, aber auch auf Care-Arbeitende kommt ein
Tsunami an Überstunden zu. Währenddessen haben Taxifahrer*innen, Stagehands und
Servicepersonal kaum mehr ein Einkommen.
Was hat das alles gemein? All dies sind News aus jener Welt, die
gemeinhin als «Wirtschaft» bezeichnet wird. Es sind offenbar Dinge, die
geschehen, wenn eine Pandemie auf eine kapitalistische Wirtschaft
trifft.
Warum wir schon heute über die Krise reden müssen
Wieso sollte man sich aber in dieser akuten und brutalen Situation
dazu überhaupt Gedanken machen? Dafür gibt es mindestens zwei triftige
Gründe:
1. Momentan entstehen an vielen Orten
Nachbarschaftshilfen und Solidaritätsgruppen, fundamentale Fragen werden
diskutiert. Es wird in der Hochphase der Epidemie wichtig sein, dass
man Risikogruppen, aber auch Arbeitende im Gesundheitswesen unterstützt.
Darüber hinaus müssen wir in den neuen Gruppen aber auch dafür werben,
dass man die ganze Entwicklung politisch versteht und sich längerfristig
organisiert. Denn mitten im Corona-Unwetter zieht ein weiterer Sturm
auf: Eine ökonomische Krise ungesehenen Ausmasses. Und ihr folgen
Angriffe auf unsere Arbeits- und Lebensbedingungen auf den Fuss.
2. Die Produktion aller Güter für unser Leben
ist kapitalistisch organisiert. Sie werden hergestellt, um damit Geld zu
verdienen. Wir sind aber nicht nur Gegner*innen dieser
Wirtschaftsweise, sondern zugleich auf Gedeih und Verderben auf sie
angewiesen – bis wir sie gemeinsam überwunden haben. Eine Krise des
Kapitalismus heisst ab einer gewissen Tiefe nicht «nur», dass die
Arbeitslosenzahlen nach oben schnellen und das Leben vieler Menschen
sich dramatisch verschlechtert, sondern dass es auch zu Engpässen bei
der Versorgung kommt. Dies kann man bei bestimmten Medikamenten bereits
beobachten. Ausserdem wissen wir spätestens aus der Krise nach 2008,
dass wirtschaftliche Verwerfungen auch durch Hunger, Armut, Kriege oder
schiere Verzweiflung Menschleben fordern.
Darum soll hier erklärt werden, wie tief der kommende Fall werden
könnte und weshalb wir uns unbedingt dafür wappnen müssen. Vieles ist
noch spekulativ, aber es zeichnet sich bereits einiges deutlich ab.
Alles wacklig: viel Geld, viele Schulden, wenig Profit
In China sind die
Exporte während der Epidemie in den letzten beiden Monaten um über 17 Prozent
eingebrochen, während die Industrieproduktion um 13,5 Prozent schrumpfte. Das
ist in einer kapitalistischen Wirtschaft einschneidend. Denn diese ist auf
Wachstum angewiesen, damit alles halbwegs rund läuft.
China ist die zweitgrösste Wirtschaftsnation der Welt. Diese
Einbrüche allein würden ausreichen, um die Weltwirtschaft in arge
Bedrängnis zu bringen. Nun stehen Europa und die USA aber erst noch an
und auch die restliche Welt zählt mehr und mehr Fälle von Covid-19.
Zudem ist eine zweite Welle in China laut Epidemiolog*innen
wahrscheinlich, wenn die Produktion wieder hochgefahren wird.
Das wäre an sich schon dramatisch genug. Doch die Pandemie trifft auf keine vitale Wirtschaft, sondern auf eine Welt, die schon lange in der Krise steckt.
Auf eine Welt in der die Profitabilität, also das was ein Unternehmen
mit seinem Einsatz an Gewinn machen kann, bereits sehr niedrig war. Und
auch auf eine Welt, in der die Zentralbanken im grossen Stil Dollar,
Euro und Franken in die Märkte pumpen. Damit versuchen sie spätestens
seit dem letzten grossen Finanzcrash von 2008 das System am Laufen zu halten. Und dennoch hat sich erst kürzlich die Aussicht wieder einmal eingetrübt.
Nach den Abstürzen in
den vergangen Tagen und Wochen und angesichts der verzweifelten Notenbanken und
Regierungen fühlt man sich an jenen Crash von 2008 erinnert. Einiges ist auch
tatsächlich ähnlich.
Laut der Bank für
Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) sind 13 Prozent der Firmen weltweit sogenannte
Zombiefirmen. Sie überleben nur, weil sie sich immer neu verschulden, um Zinsen
und Schuldlast zu begleichen. Das können sie wiederum nur dank dem billigen
Geld und den tiefen Zinsen der Zentralbanken.
Ihre Schulden werden
in komplizierte Finanzpapiere gebündelt und verkauft. Dies wurde vor dem Crash
2008 mit ähnlich wackligen Schuldforderungen im Immobilienbereich gemacht. Das
war damals der direkte Auslöser des Crashs.
Der Schuldenberg rund
um den Globus beläuft sich auf etwa 250 Billionen Dollar. Das ist drei Mal mehr
als die Wirtschaftsleistung der gesamten Welt. Die hohe Verschuldung galt schon
nach dem letzten Crash als wichtige Grundlage für die Krise. Sie lag damals aber
deutlich tiefer als heute.
Auch weitere Probleme
von 2008 wie wacklige Banken oder ein überhitzter Immobiliensektor bestehen
weiter fort. Es ist also vieles instabil, die Zentralbanken halten den ganzen
Laden mit Unsummen zusammen.
Selbst die NZZ schrieb, dass die ständigen Interventionen
der US-amerikanischen Zentralbank eine «systemfremde Dauereinrichtung»
sei. Dies nachdem diese im Herbst 2019 mal wieder mit dreistelligen
Milliarden-Beträgen existenzbedrohende Verwerfungen aufgefangen hatte –
und zwar auf dem wichtigen Markt für sogenannte Repo-Kredite, der nach
2008 für den Beinah-Infarkt des Finanzsystems verantwortlich war.
Eindämmung rettet Leben und bremst die Wirtschaft aus
Wir sehen also viele Ähnlichkeiten.
Und wir müssen das aktuelle Schlamassel auch in der Kontinuität der Krise nach
2008 verstehen. Aber es gibt in der aktuellen Krise auch wichtige Differenzen. Und
sie machen allesamt wenig Hoffnung für die Wirtschaft: Der aktuelle Schock zeigt
sich zwar an den Verwerfungen an der Börse, aber er hat seinen Auslöser in unterbrochenen
Lieferketten, Produktionsausfällen und einer krassen Reduktion der Nachfrage. Wenn
nun einige schreiben, dass nicht das Coronavirus Grund der Krise sei, dann
haben sie zwar halbwegs recht, wenn man die obigen Faktoren kennt – aber eben
nur halbwegs.
Der französische Ökonom Pierre-Olivier Gourinchas hat in einer Modellierungsstudie berechnet,
dass die drastischen Eindämmungs-Massnahmen, wie sie in China oder
Singapur ergriffen wurden, die wirtschaftlichen Aktivitäten krass
abbremsen: Im ersten Monat um die Hälfte und in einem weiteren Monat um
25 Prozent. Die Folgen sind heftig: Der Rückgang der Wirtschaftsleistung
– des berühmten Bruttoinlandprodukts (BIP) – würde fast 10 Prozent
betragen.
Laut dem Professor der
UC Berkeley sind die Zahlen aber nur für eine «perfekte Welt» gültig. Für
eine konstruierte Welt in der die oben beschriebenen Probleme nicht existieren,
in der alle rational handeln und in der es nicht zu einer Verkettung von
Unglücken etwa in den komplexen Lieferketten kommt. Zugleich sind einige
Faktoren – etwa die konkreten staatlichen Epidemie-Massnahmen – noch nicht en
Detail klar. Nehmen wir der Einfachheit halber die 10 Prozent aus der
Modellierungsstudie an. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel stützt diese
Einschätzung ungefähr, es rechnet im schlimmsten Fall mit einem
Konjunktureinbruch von neun Prozent.
Zum Vergleich: In der «grossen Rezession» im Jahr nach dem Crash von
2008 schrumpfte die Wirtschaft in den «entwickelten» Staaten um etwa 4,5
Prozent (in der Schweiz um 1,6 Prozent). Die Folgen waren verheerend.
Die Arbeitslosenzahlen schossen in die Höhe. Die Sozialausgaben wurden
zusammengestrichen. Ganze Länder wie Griechenland wurden ins Elend
gestossen. In der Ukraine eskalierte ein Krieg.
Noch mag sich niemand öffentlich ausmalen, was die immensen
menschlichen Kosten einer Rezession wären, die doppelt so stark zu Buche
schlägt. Ökonom Gourinchas wirbt nun dafür, dass man – wie bei der
Pandemie – auch wirtschaftlich die Welle mit staatlichen Massnahmen
glättet.
Die Krise, die Staatschulden und das grosse
Sparen
Aber ist das überhaupt
noch möglich? Die Zentralbanken haben schon sehr, sehr viel Pulver verschossen
und ihre Zinssätze liegen auf historisch niedrigem Niveau. Dadurch können sich
die Banken billig Geld leihen. An den Produktionsausfällen und dem Einbruch der
Nachfrage ändern die Billionen aber erst mal wenig, auch wenn sie Firmen über
die erste harte Zeit helfen können.
Die US-Zentralbank hat als erste Massnahme Mitte März schon mal 1,5
Billionen Dollar locker gemacht, um einige Tage darauf nochmals 300
Milliarden nachzulegen. Das ist deutlich mehr als die gesamte Schweizer
Wirtschaft in zwei Jahren in Geld gemessen leistet. Die Zunft der
Ökonom*innen ist zerstritten darüber, wie viel Pulver die Zentralbanken
noch haben. Möglicherweise werden wir bald sehen, wie es ausgeht und das
Kartenhaus zusammenfällt.
Die Nationalstaaten schnüren
derweil Rettungspakete, um das Gröbste zu verhindern. Allerdings scheinen das
erstmal panische Alleingänge. Bundesrat Alain Berset hat an einer Pressekonferenz
zum ursprünglich vorgesehenen Paket von 10 Milliarden Franken gesagt: «Wir
wissen, dass es noch mehr braucht» und liess die Summe wohl weisslich offen. ETH-Forschende
mit ökonomischem Sachverstand forderten kurz darauf einen
100-Milliarden-Fonds für die akute Situation. Mittlerweile hat der Bundesrat 42 Milliarden zugesichert.
In den USA wurde ein historisch beispielloses Paket über rund 1,2
Billionen Dollar geschnürt. Zudem sollen in den nächsten zwei Wochen
über 1000 Dollar an alle amerikanischen Bürger*innen verschickt werden.
Das sogenannte Helikoptergeld wird aber nach einem Steuerschlüssel
verteilt, die Armen erhalten weniger Cash als besser Verdienende. In
ganz Europa werden gerade eifrig Pakete geschnürt. Deutschland sieht
offenbar eine Neuverschuldung von rund 150 Milliarden Euro sowie einen
Rettungsschirm von bis zu 600 Milliarden vor.
Das wird alles die
Staatshaushalte stark belasten, während zugleich die Steuereinnahmen einbrechen
werden. Italien, das hart von der Pandemie getroffen wird, ist bereits mit über
125 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldet. Frankreich und Spanien mit etwa
99 beziehungsweise 95 Prozent ihres BIPs. Die Länder müssen dennoch grosse
Rettungspakete für die Wirtschaft versprechen.
Die Schweiz steht zwar mit einer Staatschuld von etwa 40 Prozent des
BIP relativ gut da. Die gesamte private Verschuldung liegt aber bei 247
Prozent des BIP, dabei fallen vor allem die privaten Haushalte ins
Gewicht. Wir erinnern uns: In der Schweiz werden selbst Sparmassnahmen
durchgeboxt, wenn der Haushalt einen Überschuss verzeichnet, wenn also
der Staat mehr einnimmt als ausgibt. Dasselbe Spiel in Deutschland.
Der Sprecher des Kapitals: «Es ist wie im
Krieg»
Schon jetzt, aber erst recht, wenn sich die Corona-Angst verzogen
hat, wird der Virus als Argument herhalten müssen. «Nun müssen alle den
Gürtel enger schnallen», wird es heissen. Bereits fordert die NZZ
«Lohnopfer» von den Angestellten des Bundes und der Kantone. Wir kennen
dieses Muster, haben es immer wieder gesehen. Besonders deutlich nach
2008. Den Gürtel enger schnallen sollen vor allem die Lohnabhängigen und
jene, die vom Sozialstaat abhängig sind.
Es kann allerdings
sein, dass angesichts der schieren Dimension der aktuellen Krise, ein
Kurswechsel ansteht. Donald Trump hat in den USA diverse sozialstaatliche
Massnahmen implementiert und natürlich zugleich die nationale Karte gespielt.
In Europa reden verschiedene Regierungsvertreter bereits von Verstaatlichungen.
Wie weit das reine Propaganda ist und welche hässlich-nationalistische Wendung
das noch nehmen könnte, wird die Zukunft zeigen müssen.
Was aber wohl unvermeidlich ist: Es werden viele Firmen Konkurs
gehen, viele Lohnabhängige werden ihr Einkommen verlieren, Vermögen wird
vernichtet werden – ein Prozess der im Kapitalismus auch eine
Bereinigung der Widersprüche ist. Das Kapital wird alles daran setzen,
gestärkt aus dem Schlamassel herauszukommen. Dazu wird auch beitragen,
was der britische Journalist Jeremy Warner offenherzig für das
Gesamtkapital aussprach: «Covid-19 könnte sich aus einer völlig
uninteressierten wirtschaftlichen Perspektive langfristig sogar als
leicht vorteilhaft erweisen, indem es unverhältnismässig viele ältere
Angehörige tötet.»
Der neoliberale Star-Ökonom Kenneth Rogoff sagte in einem Interview mit N-TV zudem
kürzlich, was wohl viele seiner Zunft denken: «Es ist wie im Krieg».
Italien wende 16 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Renten auf,
ergänzte er und beschrieb damit den Frontverlauf. Dieser Krieg hat einen
Namen: Klassenkampf. Das Kapital hat seine Kanonen in Stellung
gebracht.
Zugleich werden wir vermutlich auch wirtschaftliche Prozesse erleben,
die wir noch nie gesehen haben: In China stiegen in den letzten Wochen
die Preise für Lebensmittel teilweise um 25 Prozent. Angesichts der
Tiefe des Falls, der Dauer der Massnahmen und der Wiederkehr des Virus
wird man möglicherweise auch mit Engpässen bei der Versorgung rechnen
müssen. Und je weiter die Zerstörung der Produktionsstruktur und die
Unterbrüche der Lieferketten, desto schwerer wird es, den Laden wieder
hochzufahren.
Auf all dies müssen wir uns vorbereiten. Darum sollte man in den heutigen Nachbarschaftshilfen, im Freundeskreis und in Diskussionsgruppen dafür Werbung machen, dass wir uns längerfristig zusammensetzen. Dass wir uns das nicht gefallen lassen. Und dass wir endlich Schluss machen mit dem Kapitalismus. Die gewaltigen Verwerfungen erfordern radikale Antworten.
Eine Initiative aus der Schweiz, die gerade darauf hinarbeitet, findet man hier: coronasoli.ch
Ausführlicheres zum Zustand der Wirtschaft, der Krise von 2008 und den Folgen kann man in einer dreiteiligen Serie im Ajour-Magazin nachlesen. Den ersten Teil findet man hier.
«Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber,
daß der ‚Ausnahmezustand’, in dem wir leben, die Regel ist.»
(Walter Benjamin, 1940)
(az)
Wem schien vor zwei Wochen die Welt noch in Ordnung? Uns nicht. Vor
zwei Wochen hatte Erdogan den Flüchtlingsdeal mit der EU gekündet, weil
die türkische Armee sich mit ihrer Offensive in Idlib in Syrien
verzettelt hatte. Auf Griechenland jagten faschistische Banden
Geflüchtete. Angela Merkels EU weigerte sich, 13’000 Menschen
aufzunehmen. In Chile wüteten die Gewaltexzesse der Repression gegen die
Aufständischen. Nein, vor zwei Wochen war die Welt alles andere als in
Ordnung. Aber all das scheint lange her.
Denn die Coronakrise übertrifft in Europa jede Erfahrung seit dem
Zweiten Weltkrieg. Sie bedeutet einen Einschnitt im täglichen Leben, wie
wir ihn noch nie zuvor erfahren haben. Offensichtlich ist es eine
gesundheitliche, wirtschaftliche und politische Krise. Was die Zukunft
bringt, weiss niemand, wir natürlich auch nicht. Aber es ist gut
möglich, dass diese Krise noch tiefer geht und noch weiter reicht als
die Finanzkrise von 2008. Was sich vor unseren Augen abspielt, ist eine
ständig bewegliche Situation, bei der es um Menschenleben gegen Profit
geht, um die Art und Weise, wie politische Herrschaft ausgeübt und wie
das Zusammenleben gestaltet wird. Es könnte sein, dass das, was wir
erleben, eine beispiellose Krise der gesellschaftlichen Reproduktion
ist, das heisst, der Art und Weise, wie Leben und Überleben in der
kapitalistischen Weltgesellschaft hergestellt und erhalten werden.
«Krise» ist ein ursprünglich medizinisches Wort – es bezeichnet den
Moment im Krankheitsverlauf, bei dem ein kranker Körper entweder den Weg
in Richtung Gesundung oder in Richtung Tod nimmt. Ein Moment der
Entscheidung. Wen betrifft es wie – und welche gesellschaftlichen Kräfte
bringen sich in Stellung? Auf wen soll die Last der Krise abgewälzt
werden? Wo eröffnet die Krise neue Perspektiven – für die
Kapitalvertreter neue Wege der Ausbeutung, für uns neue Wege der
Solidarität und des Widerstands?
Wer bewegt sich?
Die Pandemie zeigt, dass wir alle Menschen und als solche verletzlich
sind. Ein Mensch, ein bedürftiges und verletzliches Wesen zu sein,
darin könnte eine fundamentale Grundlage für gesellschaftliche
Gleichheit liegen. Das wäre eine Basis, auf der eine Gesellschaft die
Alten und Kranken schützt.
Was heute aber geschieht, ist so ziemlich das Gegenteil. Zwar sind
einem Virus Klassen, Geschlechter und Hautfarben egal; das ist die
biologische Logik der Krankheit. Daneben gibt es aber die
gesellschaftliche Logik der Krankheit, und hier ist Gefährdung enorm
ungleich verteilt: ob im Knast, im Flüchtlingslager, im Spital, im
Altersheim, im Verteilzentrum, im Supermarkt, in den Bahnhöfen, die nun
regelmässig desinfiziert werden müssen. Hier lohnt es, daran zu
erinnern, dass die ersten Mobilisierungen in dieser Krise die
Knastrevolten Italiens waren, die in 49 der 189 Gefängnisse des Landes
aufgeflammt waren – andere Zahlen sprechen von 29 Revolten – und in
deren Verlauf 14 Personen getötet wurden (Le Monde, 20. März).
Auch weitere Gefährdungszonen werden kurzzeitig zu Frontlinien. In
den Amazon-Verteilzentren Frankreichs kommt es zum Aufruhr, weil die
Schutzvorschriften systematisch missachtet werden, da seit der
Schliessung aller Non-Food-Läden der Online-Dienst Rekordbestellungen
verzeichnet (Le Monde, 19. März). Velokuriere sehen sich als
Kanonenfutter. Das Genfer Baustellenverbot wurde nur eingeführt, weil
die Bauarbeiter gestreikt hatten. Sie waren dem Vorbild italienischer
ArbeiterInnen gefolgt, die bereits seit Anfang März Fabriken bestreiken.
Erst als Reaktion auf die Genfer Streiks fuhr Implenia schweizweit die
Arbeit auf den Baustellen herunter.
Wie wird die Krise abgewälzt?
Staatschefs, Notenbanken und Patrons koordinieren sich schnell. Auf
einmal sind Dinge möglich, die unter dem Dogma des Neoliberalismus ein
Sakrileg bedeutet hätten. In Spanien, wo die Austeritätspolitik seit der
Eurokrise das Gesundheitswesen kaputtgespart hat, sind kurzerhand die
Privatspitäler verstaatlicht worden. Italien, das europäische Epizentrum
der Pandemie, wurde auch deshalb so hart getroffen, weil dort seit 2011
rund 15 Prozent der Spitäler geschlossen worden waren. Grund dafür war
der Druck der Europäischen Zentralbank gewesen, die behauptete, dass nur
brutale Kürzungen im Service Public die Zinsen für italienische
Staatsanleihen tief halten würden. Als die Corona-Welle anrollte,
reagierten die Finanzmärkte prompt und der Risikoaufschlag für
italienische Staatsanleihen schnellte hoch. Doch dann tat die EZB etwas,
mit dem sie ihre eigenen Argumente und ihre Politik aushebelte. Sie gab
EU-Anleihen aus, kaufte italienische Staatsschulden und schaffte innert
Tagen, was während der ganzen Finanz- und Eurokrise für absolut
unmöglich behauptet wurde: der italienische Risikoaufschlag liess sich
Ende letzter Woche von 3,3 auf 2,0% herunter drücken. So etwas war den
südeuropäischen Staaten in der Finanz- und Eurokrise stets verweigert
worden. Seit über vier Jahrzehnten behaupten der IWF und seit ihrem
Bestehen die EZB, dass die Risikoaufschläge für Staatsanleihen das
gottgegebene Zeichen der Finanzmärkte seien, nach denen die Staaten
ihren Haushalt auszurichten hätten. Aber, das zeigt die Corona-Krise,
sie sind kein heiliges Preissignal, sondern lassen sich offenbar
steuern.
Verstösse gegen Sakrilege bedeuten aber noch kein Ende des Neoliberalismus.
In den nächsten Wochen wird das Netz nur so rauschen vor Nachrufen
auf den Neoliberalismus und die Globalisierung. Das ist Polit-Spin der
schlichten Sorte. Die Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann, zwar immer
gut informiert, aber stets ihren grün-liberalen Vorgaben treu, betreibt
gleichermassen Ideologie wie Augenwischerei, wenn sie einen Abgesang
auf den Neoliberalismus schreibt (taz, 21. März). Was sich zeigt, ist
etwas anderes: Dass Globalisierung immer schon imperalistische
Globalisierung gewesen war, in der keine flache Welt, sondern
nationalstaatliche Interessen, militärische Gewalt und Grenzregimes
herrschten.
Welche Firmen wo domiziliert sind, wer wieviel Material und
Infrastruktur hat, das spielt eine enorme Rolle. Grenzen sind auf einmal
wieder total wichtig; die Erfahrung, die Geflüchtete und Menschen aus
Drittstaaten seit je gemacht haben, betrifft auf einmal alle. Und auch
in Spanien, wo, wie soeben angetönt, die Spitäler verstaatlicht werden,
sind nach wie vor 70% der IndustriearbeiterInnen voll am Arbeiten. Trotz
Ausgangssperre und fehlender Kinderbetreuung wird der Wirtschaftsmotor
auf Hochtouren gehalten (La Información, 22. März).
Weiter ist die Krise eine Chance, das politisch Unbequeme
durchzudrücken. In Frankreich kam Macron die Ausgangssperre bei den
anhaltenden Demos der Gilets Jaunes gerade recht. Auch in der Schweiz
passen der Regierung Versammlungsverbot und das jüngst erwogene
Handytracking. Wie auch in der Schweiz die über 40 Milliarden Franken
Staatshilfe den Patrons zugute kommen und nicht den ArbeiterInnen und
Angestellten. Die Banken brachten sich in Stellung, um den Kreditfluss
abzuwickeln. Über die Zinsen und Kommissionen, die sie dabei einholen,
herrscht noch völliges Stillschweigen. Bereits gibt es in der Schweiz
mehr Anträge auf Kurzarbeit als zum Höhepunkt der Finanzkrise. Das
entspricht einem internationalen Muster – in Philadelphia, einem
gebeutelten ehemaligen Industrie-Bundesstaat, sind Mitte letzter Woche
121’000 Anträge auf Arbeitslosenunterstüzung eingegangen, ungleich mehr
als in der Finanzkrise; die nächsthöchste Zahl, vom Januar 2010, hatte
61’000 betragen.
Bis jetzt ist keine Verlautbarung aus Bern bekannt, in der irgendein
Schutz vor Entlassung zugesichert wird. Firmen, zumal die grossen,
werden gerettet. Aber für die Menschen ist kein Bail-Out vorgesehen.
Diejenigen, bei denen die Putz-Jobs ausbleiben und die deshalb die Miete
nicht zahlen können, worauf dann das Migrationsamt auf den Plan rückt,
diejenigen werden keine finanzielle Überbrückung kriegen.
Zur Zeit ist nicht klar, wie die Lage sich entwickelt. Ein Grossteil
der Kurzarbeit wird über die Arbeitslosenbeiträge, die auch die
ArbeiterInnen berappen, gedeckt werden. Welche Rolle die Banken mit den
Überbrückungskrediten einnehmen, ist offen. Aber es ist gut möglich,
dass sie ihre Dominanz gegenüber den mittleren Firmen ausbauen werden,
weil sie die Gelegenheit bekommen, die kreditsuchenden Sektoren
durchzuscannen. Wie weit die Experimente mit Home Office einen
Digitalisierungsschub bei den Bürojobs und im Bildungssektor auslösen,
wird sich zeigen. Nur etwas ist sicher: Wenn es so weitergeht, wie
bisher, wird in der kommenden Wirtschaftskrise die Lohnarbeit
rationalisiert, das heisst, die Ausbeutung verschärft werden. Es wird
heissen: «Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt» (bloss nicht –
Ansteckungsgefahr!), und wir steigern wieder das Bruttosozialprodukt.
Es sei denn…
Care im Zentrum
… es sei denn, wir wehren uns. Denn wie ein Blitzschlag erhellt
Corona die gesellschaftliche Topographie. Auf einmal sind nicht Banken
systemrelevant, sondern Krankenpflegerinnen, Kinderbetreuerinnen und
Verkäuferinnen. Wenn diese Systemrelevanten zugleich die
Schlechtbezahlten sind, dann stellt sich die eine oder andere
Systemfrage. Care-Arbeit rückte im Nu ins Zentrum der gesellschaftlichen
Debatte. Was die letzten Wochen uns vorführten, von der Kinderbetreuung
über die Altenpflege und den Lebensmitteleinkauf bis zur
Gesundheitsversorgung, ist, dass die Kreisläufe des Kapitals erst
ermöglicht werden durch die viel weiteren Zyklen, in denen menschliche
Arbeitskraft hergestellt und erhalten wird. Das ist gesellschaftliche
Reproduktion. Wenn der Reichtum der Gesellschaften von der ArbeiterIn
abhängt, wer produziert dann die ArbeiterIn? Care-Arbeit, die kaum
bezahlte, nur teilweise über Märkte abgewickelte und meist von Frauen
verrichtete Arbeit der Betreuung und Pflege ist im Normalbetrieb der
kapitalistischen Maschinerie an den Rand verwiesen. Ähnlich wie
Infrastrukturen, deren Vorhandensein man nur bei einer Störung merkt,
werden sie kaum beachtet. Jetzt, beim jähen Vollstopp, erweist sich
Care-Arbeit als diejenige Macht, die den Unterhalt der Maschinerie
überhaupt betreibt.
Care-Arbeit ist nicht abgekoppelt, sondern verbunden mit der
Produktion von Wert. Als reproduktive Arbeit ermöglicht sie die
Akkumulation von Kapital. Die gesellschaftliche Unterdrückung von Frauen
ist strukturell verbunden mit der kapitalistischen Produktion.
Umgekehrt wirkt die Ausweitung der Lohnarbeit auf die Haushaltsökonomie
zurück. Das zeigt sich in der globalisierten Dienstmädchenarbeit, aber
auch in der politischen Ökonomie des Fertigsalats (historisch gehörte
das Zubereiten von Speisen zur zeitaufwändigsten Plackerei im Haushalt,
die heute im convenience food durch industrialisierte Lohnarbeit und
Geldtransaktion ersetzt wird). Care-Arbeit ist auch verbunden mit
politischer Herrschaft, dem Staat. «Service public» leistet einen
Dienst, wie das Dienen der Dienstbotinnen, das nicht voll über einen
Arbeits-, sondern einen Dienstvertrag geregelt ist, der traditionell dem
Dienstherr grössere Rechte einräumt als in der freien Lohnarbeit. Es
verzahnen sich wirtschaftliche Ausbeutung und gesellschaftliche
Unterdrückung entlang der Geschlechterordnung und der rassistischen
Hierarchie. Kapitalismus kann ohne solche Dynamiken nicht auskommen, ja,
er produziert sie aktiv.
Kapital lebt von menschlicher Arbeit, es kannibalisiert Leben und
jetzt, wo das Leben ein Stück weit gesundheitlich bedroht ist, wird das
deutlich, und auch, aus welchen weitreichenden gesellschaftlichen
Kräften sich Leben speist.
Nach der Quarantäne die Flut
Und hier, in den Kreisläufen der gesellschaftlichen Reproduktion, tut
sich was. Trotz social distancing entwickeln sich Formen der
Solidarität. Leute erkennen, dass Nachbarschaftshilfe wichtiger ist als
Home Office. Andererseits gibt es allgemeinen Beifall für die
ArbeiterInnen im Gesundheitswesen, die sonst in die «verborgene Stätte»
der Reproduktion relegiert ist. Anerkennung ist wichtig, gerade weil die
Care-Arbeit in die Unsichtbarkeit gedrängt wird. Aber Solidarität ist
nicht Wohltätigkeit, sondern das gemeinsame Für-einander-Einstehen unter
Gleichen. Klatschen am Balkon ist nett. Allerdings gibt es auf Deutsch
das Sprichwort: Nett ist die kleine Schwester von Scheisse. Solidarität
sieht anders aus, nämlich bei den Kämpfen mitzuhelfen, dass die
Schlechtbezahlten in der Pflege, in der Kinderbetreuung im Verkauf und
in der Logistik einen Lohn bekommen, der dem Wert ihrer Arbeit
entspricht. Und genau das ist im Rahmen des Kapitalismus nicht möglich –
Kapital muss sich systematisch soziale Beziehungen zunutze machen, die
ausserhalb seiner selbst liegen, um Mehrwert abpressen zu können. Ganz
anschaulich bekommen wir vorgeführt, wie eigentlich elementare Dinge
offenbar System sprengenden Charakter haben. Und hier gilt es weiter zu
machen: Soll die Kerosinschleuder Swiss aus dem Konkurs herausgehauen
werden, wenn vor kaum zwei Wochen die Kids noch für ihre Klimazukunft
demonstriert haben? Diese Woche präsentiert die CS ihren Jahresbericht –
warum sollen die ihre Dividenden und Boni behalten? Die Gegenseite
wartet nicht, sie nutzt die Krise, um zuzuschlagen. NZZ-online verlangte
schon am 18. März, am Tag drei des Lockdown, eine Lohnkürzung bei allen
ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst, weil deren Löhne ja weiterhin
bezahlt würden, sie deshalb im Vorteil wären und sich solidarisch zeigen
sollten. Warum nicht Firmen unter der Kontrolle derjenigen, die dort
arbeiten, verstaatlichen?
Das schlimmste, was in dieser Pandemie passieren könnte, wäre, dass
nachher alles gleich bleibt, weil die Angst den politischen
Vorstellungshorizont verriegelt hat. Wir sollten nichts mehr fürchten
als die Furcht davor, Forderungen zu stellen und dafür zu kämpfen. Die
bürgerlichen Parteien von SVP bis zu SP und den Grünen haben sich hinter
den Bundesrat gestellt, SP und Grüne fordern knapp ein
Konjunkturprogramm für die Zeit danach. Die Dürftigkeit ist
atemberaubend – und eine beispiellose Chance.
«Diese Situation ist ernst und sie ist offen» sagte Angela Merkel in
ihrer Fernsehansprache letzte Woche. Sie hat ungewollt recht. Denn
nichts fürchten die Herrschenden mehr als die Offenheit der Situation.
Wir erleben gerade einen Schlingerkurs zwischen der gesundheitlichen
Notwendigkeit, die Maschinerie Kapitalismus anzuhalten und dem
striktesten Diktat, sie weiter laufen zu lassen. Das ist ein Experiment
in globalem Ausmass. Wir leben in nur einer Welt – Klima, Migration,
Weltmarkt verdeutlichen die Vernetzung dieser Welt. Die globale Pandemie
zeigt, wie der Horizont der gesellschaftlichen Reproduktion die Welt
als Ganze ist. Richten wir unsere Forderungen danach aus: aufs Ganze.Das
ist die enorme Aufgabe, trotz social distancing zu kollektivem Handeln
zu kommen. Unter Bedingungen eines stillgelegten öffenlichen Lebens und
des social distancing nicht isoliert zu sein. Seit je her – und auch
heute – hatten Frauen, Männer und Jugendliche der Internationale mit
Isolation zu kämpfen, beispielsweise, wenn sie ins Gefängnis gesperrt
wurden. Etwas, was sie taten, war, in diesen Momenten ihre politische
Vorstellungskraft zu bilden und diese Isolation praktisch zu überwinden.
Das ging weit über das Bücherlesen und das Verfassen von Schriften
hinaus – sie arbeiteten an einer kommunikativen Gegenöffentlichkeit und
an organisatorischen Lösungen kollektives Handeln wiederzuerlangen. Der
Lockdown ist kein Gefängnis, zum Glück nicht, für die meisten von uns
sind die Bedingungen weit besser. Er soll die Ruhe vor dem Sturm werden.
Nutzen wir also die Gelegenheit, die Situation zu analysieren, Wege
kollektiver Handlungsfähigkeit zu finden und Gegenmacht aufzubauen. Was
kommt nach der Pandemie? Das entscheiden wir.
Artikel aus dem Lowerclass Magazin zur Frage, wie wir als Antikapitalist*innen einen politischen Umgang mit der Corona-Krise finden, statt wie im Kino abzuwarten, was als nächstes passiert.
Flugzeuge
fliegen leer hin und her, um ihre Landegenehmigungs-Slots an Flughäfen
nicht zu verlieren. Kapitalisten kaufen Atemschutzmasken auf und
verkaufen sie dann zu Wucherpreisen. Profitable Großveranstaltungen
finden gegen den Rat von Fachleuten statt. In ihrer Liquidität bedrohte
Unternehmen erhalten schnell und unbürokratisch staatliche Hilfe, statt
den Markt regeln zu lassen.
Jede Krise lässt immer Aspekte des Kapitalismus besonders scharf und deutlich hervor treten. Die Pandemie des Coronavirus ist da keine Ausnahme.
Das Robert-Koch-Institut geht davon aus, dass bis zu 70 Prozent der
in Deutschland lebenden Bevölkerung mit dem Virus infiziert werden. Über
welchen Zeitraum das geschieht, ist unklar. Bei einer Sterberate von
0,7 Prozent der Infizierten (was angesichts der derzeitigen Rate in
Italien eine vorsichtige Zahl ist), würden über 400.000 Menschen alleine
in Deutschland an diesem Virus sterben. Wer Panik verbreiten will,
multipliziert diese Zahl mit 3 oder 4.
Vor dem Virus sind nicht alle gleich, Corona kennt die edlen Ziele
der Französischen Revolution nicht. Es sterben die Menschen aus den
Risikogruppen: Alte, Menschen mit (bspw. Immunsystem-/
Lungen-)Vorerkrankungen, Menschen mit schlechtem Zugang zum
Gesundheitssystem. Und Menschen, die sich durch fehlende Medienkompetenz
oder Bildungszugang ungenügend schützen können. Menschen, denen das
Geld fehlt, ihr Immunsystem mittels hochwertiger Lebensmittel oder
Präparate zu unterstützen. Menschen, die so einsam sind, dass von ihrer
Erkrankung niemand etwas erfährt.
Die Frage von Leben und Tod war und ist eben auch immer eine Klassenfrage.
Es bedarf keiner bösartigen Fantasie, sich auszumalen, dass schon
jetzt neoliberale Ökonomen eifrig Excel-Tabellen bearbeiten, mit denen
sie ausrechnen, wie die Toten der Pandemie die Rentenkassen, die
Sozialkassen entlasten werden und wann sich die kurzzeitigen
Mehrausgaben z.B. im Gesundheitswesen durch die langfristigen Ersparnis
an Renten und Hartz IV-Bezügen amortisieren. Es ist billig, diese
Ökonomen als charakterlich völlig verdorbene Individuen hinzustellen.
Sie handeln nur konsequent nach der Logik ihres Wirtschafts- und
Gesellschaftssystems.
Für alle, die über das Nachplappern linksradikaler Parolen hinaus
sind, ist das keine neue Erkenntnis. Bleibt diese Erkenntnis in der
eigenen Blase, verbindet sie sich nicht mit dem kritischen Blick auf
gesellschaftliche Abläufe, zu dem ganz „normale“ (d.h. nicht
linksradikal geprägte) Menschen durch die Corona-Pandemie kommen, ist
sie völlig nutzlos.
Bleibt es bei einer rein agitatorischen Ebene, ist der Nutzen minimal.
Bitte nicht falsch verstehen: Ich bin kein Anhänger der
Marketingistischen Linken, die jetzt ein „breites Bündnis“ (mit
Robert-Koch-Institut und Marburger Bund) unter dem Label „Block-Covid“
oder „Ende_Epidemie“ schaffen soll. Mitsamt Aktionskonsens („wir werden
gemeinsam mit vielen Menschen durch Aktionen des ungehorsamen
Händewaschens den Ablauf der Pandemie zum Stoppen bringen“) und
Aktionstraining („wir werden gewaltfrei die Infektionsketten
durchfließen“).
Es geht auch nicht um Presseerklärungen, das Vortäuschen gesellschaftlicher Relevanz durch mediale Präsenz.
Es geht um:
Die Verbindung einer antikapitalistischen Analyse
und Kritik mit der Grundessenz linker Weltanschauung: dem Prinzip der
Solidarität.
„Risikogruppen“ benötigen Hilfe z.B. beim Einkauf.
Berufstätige Eltern (besonders die im Gesundheitssystem tätigen)
brauchen angesichts zukünftig geschlossener Schulen und KiTas Hilfe bei
der Kinderbetreuung.
Arme Menschen brauchen angesichts von Hamsterkäufen und leerer Tafeln Hilfe bei der Versorgung mit Lebensmitteln.
Menschen ohne oder mit wenig deutschen Sprachkenntnissen benötigen Informationen.
Einsame Menschen benötigen solidarische Mitmenschen, die nach ihnen sehen.
Und vielleicht braucht es im April oder Mai Menschen mit medizinischem
Fachwissen, die in Krankenhäusern das angestellte, überlastete Personal
unterstützen und eine Bewegung, die nicht zulässt, dass diese Form der
Care-Arbeit eine quasi-berufliche Doppelbelastung darstellt, für die
„Ehrenämtler“ mit einer wertlosen Urkunde abgespeist werden.
Diese Liste ist nicht vollständig!
Natürlich haben wir genügend Menschen, die darauf hinweisen könnten,
dass es angesichts der Pandemie für die Menschen am klügsten wäre, den
Laden einfach mal ein paar Wochen dicht zu machen. Würde denn das Wohl
der Menschen im Mittelpunkt stehen – was es natürlich nicht tut. Sechs
Wochen Corona-Sonderurlaub für (fast) alle – ein Horrorszenario für
jeden BWL-Studi.
Verbinden wir diesen Horror mit einem Schreck&Graus für die
deutsche linksradikale Szene: Die oben genannten praktischen Schritte
der solidarischen Antwort funktionieren nur, wenn sie eben nicht die WG,
das alternative Hausprojekt, den Szene-Laden und das Autonome Zentrum
betreffen!
Es geht um die Nachbarschaft! Und wer nicht gerade das Pech hat, im
Schanzenviertel oder ähnlichen Szene-Kiezen zu wohnen, verlässt dann
automatisch die linksradikale Blase. Trifft auf Malocher*innen,
Rentner*innen und Hartz-Empfänger*innen, echte Migrant*innen (die sind
nicht so wie im Fernsehen!), Leute ohne, kleinem oder etwas größerem
Vermögen, Menschen mit ganz unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen
und Vorurteilen und Marotten.
Vorsicht, Spoiler: es finden sich darunter Menschen, die die Regeln
und Sprache der political correctness nicht kennen – und, man mag es
kaum glauben, wir treffen auf Menschen, die nicht (!) studiert haben,
eventuell nicht einmal Abitur haben (tatsächlich in Deutschland noch
knapp über 60% der Bevölkerung).
Ich schließe nicht aus, dass es zu folgender Szene kommt: „Pfui, die
60jährige Kurdin aus dem Eckhaus hat Erdogan einen Hurensohn genannt,
das ist sexistisch und gar nicht pc – der bringe ich jetzt keine
Einkäufe mehr“.
Hoffentlich aber überwiegt das Prinzip der Solidarität in der Krise.
Dann erwächst daraus die Einsicht, wie sehr die eigene linksradikale
Blase ein Knast ist, in den man sich selbst sperrt, isoliert vom Leben,
während noch über die Folter der Isolationshaft staatlicher Knäste
schwadroniert wird.
Die Erkenntnis, dass ohne solidarisches Handeln mit den Nachbar*nnen das derzeitige politische Bewusstsein bei allen Beteiligten bleibt, wie es ist. Die Erkenntnis, dass ohne solidarisches Handeln mit den Nachbar*innen die politische Antwort auf Corona von der Rechten kommen wird. In Form des starken Staates, geschlossener Grenzen, weiterer sozialer Umverteilung. Die Erkenntnis, dass ohne solidarisches Handeln mit den Nachbar*innen die bierselige Diskussion abends im AZ über Revolution nichts weiter als perspektivlose Faselei darstellt. Die Erkenntnis, dass solidarisches Handeln mit den Nachbar*nnen jetzt eine Perspektive für die notwendigen sozialen Kämpfe darstellt, die nach dem Peak der Pandemie weltweit erfolgen werden und bei denen es um die Verteilung der ökonomischen Kosten der Corona-Krise gehen wird.
LAGOTA kommt vom Spanischen und heisst „der Tropfen“.
LAGOTA ist eine politische Gruppierung, die sich als Teil der ausserparlamentarischen Linken versteht. Sie bietet eine Plattform, auf der sich interessierte Personen mit politischen Themen auseinandersetzen können.
LAGOTA setzt sich zum Ziel, das politische Bewusstsein der Gesellschaft zu fördern. Ihr Antrieb ist die Überzeugung, dass das kapitalistische System überwunden werden muss, um die bestehenden Herrschaftsverhältnisse abzuschaffen.