Methoden getestet

Drei Jahre nach G-20-Gipfel in Hamburg kein Ende der Prozesswelle gegen linke Aktivisten in Sicht

Die Lagerhalle steht heute wieder leer, auf dem Parkplatz wuchert Unkraut. Vor drei Jahren war das Areal im Süden Hamburgs mit NATO-Draht eingezäunt und schwer bewacht, auf dem Parkplatz standen Container, in der Halle befand sich eine Gefangenensammelstelle, kurz GeSa. Es war ein Ort fortgesetzter Menschenrechtsverletzungen im Juli 2017, während des G-20-Gipfels, der sich an diesem Dienstag zum dritten Mal jährt. Gipfelgegner wurden hier bis zu 30 Stunden in neun Quadratmeter große, fensterlose Zellen mit weißen Wänden gesperrt, bei grellem Neonlicht rund um die Uhr. Übergriffe waren an der Tagesordnung.

Polizeigewalt straffrei

Von den in der GeSa eingesetzten Polizisten stand ein einziger vor Gericht – weil er einen Kollegen im Streit eine Bänderdehnung am kleinen Finger zugefügt hatte. Eine von vielen Absurditäten, die kennzeichnend sind für die polizeiliche und juristische Aufarbeitung des Gipfels, bei dem ein Heer von rund 33.000 Polizisten die Staats- und Regierungschefs der mächtigsten Industrieländer schützte. Drei Jahre später wird der Skandal immer deutlicher: Für die exzessive Polizeigewalt vor und während des G-20-Gipfels, die mit zahlreichen Videos und Fotos dokumentiert ist, musste sich bis heute kein Beamter verantworten. Pünktlich zum dritten Jahrestag hat die Antwort des Senats auf eine Große Anfrage der Linksfraktion in der Bürgerschaft das belegt.

Demnach hat Hamburgs Staatsanwaltschaft bisher 157 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten in Sachen G 20 geführt, die meisten wegen Körperverletzung im Amt. Der offensichtliche Unwille der Justiz, die Prügler in Uniform zur Rechenschaft zu ziehen, steht im scharfen Kontrast zur Strafverfolgung von Gipfelgegnern, die mehr an einen Rachefeldzug von Polizei und Justiz erinnert. Nach Zahlen, die die Staatsanwaltschaft am Montag gegenüber junge Welt nannte, sind bis zum Stichtag 31. Mai 2020 Verfahren gegen 1.284 »identifizierte Beschuldigte« geführt worden und 1.666 gegen Unbekannt, von denen die meisten bereits eingestellt wurden. Aus den Verfahren gegen namentlich bekannte Personen hätten sich 449 Anklagen und 76 Strafbefehle ergeben. 446 dieser Verfahren seien bereits eingestellt worden.

Bis heute wird mit riesigen Aufwand, mit großer Akribie und Ausdauer noch dem kleinsten Verdacht nachgegangen. Mit zeitweise 160 Beamten hat die Sonderkommission »Schwarzer Block«, die sich ausgerechnet in der GeSa einquartierte, mutmaßliche G-20-Straftäter gejagt – zum Teil mit fragwürdigen Öffentlichkeitsfahndungen. Eine gigantische Menge von Fotos und Videos wurde mit einer modernen Gesichtserkennungssoftware durchforstet. Die Polizei kümmerte es nicht, dass Hamburgs Datenschutzbeauftragter auf der Löschung einer dafür erstellten Datenbank bestand.

Die Soko lieferte das Material für die G-20-Prozesse, die bis heute geführt werden, einige wurden bereits mit drakonischen Strafen abgeschlossen. Am Freitag soll nach eineinhalb Jahren vor dem Landgericht Hamburg der sogenannte Elbchaussee-Prozess zu Ende gehen. Nach der Urteilsverkündung soll noch in diesem Sommer das Mammutverfahren gegen insgesamt 86 Angeklagte im »Rondenbarg-Komplex« beginnen. Beide Verfahren sind von übergeordneter politischer Bedeutung, weil sie über die Zukunft des Versammlungsrechts entscheiden.

Keinem der Angeklagten im Rondenbarg-Verfahren werden konkrete Straftaten vorgeworfen. Wie im Elbchaussee-Prozess vertritt die Staatsanwaltschaft die Ansicht, dass es sich nicht um eine Demonstration handelte, sondern um eine »von vornherein auf Gewalt ausgerichtete« Aktion. Daher könnten allen Teilnehmern die aus dem Aufzug begangenen Straftaten zugerechnet werden. Sollte die Staatsanwaltschaft sich mit dieser Rechtsauffassung durchsetzen, würde das auf eine massive Einschränkung der Versammlungsfreiheit hinauslaufen. Jeder Demonstrant könnte belangt werden, wenn irgendwo aus dem Aufzug Steine fliegen.

Grundrechte außer Kraft

Für Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, liegt der Grund für den »Verfolgungsfuror« von Polizei und Justiz in Sachen G 20 auf der Hand. »Die Sicherheitsbehörden haben nach dem Gipfel die Gelegenheit genutzt, gegen die linke Szene vorzugehen, dabei neue Methoden zu testen und das Feindbild vom ›gewalttätigen Linksextremisten‹ zu festigen«, sagte Jelpke am Montag gegenüber jW. Zudem sei es darum gegangen, von eigenem Versagen abzulenken. Als parlamentarische Beobachterin habe sie in Hamburg miterlebt, wie die politisch Verantwortlichen und die Polizei während des G-20-Gipfels von Anfang an auf Eskalation setzten. Grundrechte seien in weiten Teilen der Hansestadt außer Kraft gesetzt und viele friedliche Demonstranten bei Polizeieinsätzen schwer verletzt worden.

Für Emily Laquer, Aktivistin der »Interventionistischen Linken«, war die Eskalation der Gewalt, zu der es im Juli 2017 in Hamburg kam, von vornherein angelegt. »Es war klar, dass die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung denen von Trump oder Erdogan untergeordnet werden«, sagte sie am Freitag gegenüber jW. Die Geschichte der Hamburger G-20-Proteste sei »die einer militarisierten Stadt, in der es keine Polizeigewalt gegeben haben soll«. Aber es sei genauso eine Geschichte »über Zehntausende, die den Ausnahmezustand und den Wahnsinn der G 20 gemeinsam zurückgewiesen haben«, so Laquer: »Diese Erfahrung von Solidarität und kollektivem Mut sollten wir in Erinnerung behalten.«

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/381678.verfolgungsfuror-in-hamburg-methoden-getestet.html

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Nicht aus humanitären Gründen

Die Ausbreitung des Coronavirus hat unverhältnismäßig stark die Schwächsten getroffen und Ungleichheiten verschärft. In vielen Ländern sind die Regierungen daran gescheitert, effiziente Nothilfe zu gewährleisten – und unzählige Gruppen für gegenseitige Unterstützung sind entstanden, um diese Lücken zu füllen. Unter ihnen die »Solidaritätsbrigaden«, die während des Lockdowns im italienischen Mailand von der antifaschistischen Bewegung aufgebaut und schnell in anderen Ländern übernommen wurden. Weltweit gibt es mittlerweile 52 Gruppen.

Kritik am System

In Frankreich entstanden im Großraum Paris in wenigen Wochen 17 Brigaden (»Brigades de solidarité populaire«, BSP) mit gegenwärtig rund 700 Mitgliedern. Darunter die Solidaritätsbrigade des 93. Departements, Seine-Saint-Denis, die sich kurz BSP 93 nennt und in einer der ärmsten und vom Coronavirus am stärksten betroffenen Gegenden Frankreichs agiert. Gegründet hatte sich diese Brigade Anfang April, kurz nach Inkrafttreten der Ausgangsbeschränkungen. Zentraler Ansatz war die Organisierung von solidarischer Hilfe für die Schwächsten, ohne die Politik, also vor allem Kritik am kapitalistischen System, außen vor zu lassen. Dieser Aspekt unterscheidet die BSP deutlich von jenen Gruppen, die darauf bestehen, einfach nur »humanitär« zu sein.

Pierre*, 31 Jahre alt und Einwohner von Saint-Denis, erklärt seine Beweggründe: »Warum die Brigaden und keine andere Gruppe? Mich hat der Ansatz angezogen, praktische mit politischer Arbeit, die sehr wichtig für mich ist, zu verbinden. Nicht einfach nur eine humanitäre Sicht auf die Situation zu haben, sondern politische Kritik zu äußern, während wir uns selbst die Mittel aneignen, um denen, die am meisten gefährdet sind, zu helfen (…).«

Die BSP 93 ist in vier Städten aktiv – Aubervilliers, Pantin, Saint-Denis und Saint-Ouen – mit drei Teams von rund 100 Mitgliedern, die meist bereits über politische Erfahrung aus sozialen Bewegungen verfügen. Anders als man es hätte erwarten können, hat das Engagement nach den Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen am 11. Mai und der Rückkehr vieler an den Arbeitsplatz nicht nachgelassen.

Es ist der 13. Juni. In Aubervilliers haben BSP-93-Mitglieder einen Campingtisch, große Bögen weißes und rotes Papier und Farben zum Kanal Saint-Denis gebracht und fangen an zu schreiben: »Keine Gerechtigkeit. Kein Frieden.« Die Poster werden für die am Nachmittag stattfindende Demonstration gegen Polizeigewalt und Rassismus vorbereitet, zu der das Komitee Adama Traoré aufgerufen hat. Der Sohn malischer Einwanderer war 2016 in »Polizeigewahrsam« unter ähnlichen Umständen gestorben wie George Floyd, dessen Tod weltweit Wut auslöste. Traoré war ebenfalls erstickt, als er von drei Polizeibeamten auf den Boden gedrückt wurde. Seine Familie kämpft seitdem für Gerechtigkeit und hat eine mächtige Bewegung in Frankreich aufgebaut, die Straffreiheit und Rassismus bei der Polizei anprangert. Die am 2. Juni vom Komitee organisierte Kundgebung hatte ganz Frankreich in Staunen versetzt: Zehntausende, darunter viele junge Menschen aus den bevölkerungsreichen Stadtvierteln, widersetzten sich dem Demonstrationsverbot.

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Anne Paq Praktische Solidarität: BSP-93-Mitglieder verteilen Schutzmasken vor dem Bahnhof Saint-Denis an Beschäftigte auf dem Weg zur Arbeit (25. Mai 2020)

Für den 13. Juni hat sich BSP 93 dazu entschieden, die Plakate im öffentlichen Raum zu gestalten und damit Passanten zur Mitarbeit anzuregen. Dies gelingt auch nach kurzer Zeit, und so entstehen 35 Plakate in neun Sprachen, die im Anschluss geklebt werden. Für Gaby*, 38jährige BSP-Aktivistin aus Pantin, bedeutet die gemeinsame Arbeit am Kai, dass »der Prozess nicht nur darin besteht, Botschaften weiterzutragen, sondern den Menschen, die politische Forderungen haben, sich aber nicht trauen, diese öffentlich auszudrücken, die Möglichkeit dazu zu geben«. Mit diesem kleinen Tisch, Papier und Farben »haben wir einen kleinen Raum eröffnet, der es Menschen ermöglichte, ihre politische Meinung zu äußern und politische Forderungen zu stellen, ohne sich selbst zu exponieren«. In diesen scheinbar harmlosen kleinen Momenten sieht Gaby die Möglichkeit, gemeinsam ein Instrument zu schaffen, mit dem eine politische Debatte angestoßen werden kann, in der sich auch jene ausdrücken, die sich nicht als Aktivisten verstehen. Am Ende stehe dann »ein gemeinsamer Diskurs«. »Wir erkennen zusammen, dass wir alle vom selben System unterdrückt werden und dass es nur kleiner Momente des Austauschs bedarf, um festzustellen, dass wir gemeinsame Interessen haben.«

Vom Kleinen zum Großen

Diese Wiederaneignung des öffentlichen Raums durch BSP 93 ist jedoch keine neue Erscheinung. Bereits Anfang April waren in den Straßen von Aubervilliers und Pantin Botschaften in Form von Transparenten oder Plakaten in Schwarz und Rot aufgetaucht. Die Botschaften waren eindeutig politisch und revolutionär, sie riefen die Leute dazu auf, sich zu organisieren: »Nur Menschen können Menschen retten«, »Kollektive Selbstverteidigung«, »Freie Masken für alle – Unsere Gesundheit steht nicht zum Verkauf«, »Kapitalismus ist das Virus, Solidarität das Heilmittel«, »Keine Rückkehr zur Normalität, denn Normalität ist das Problem«. Meist unterzeichnet mit »BSP 93«. Gaby, die an den Aktionen beteiligt war, erklärt: »Diese öffentliche Meinungsäußerung ist sehr wichtig, da diese politischen Positionen in den Mainstreammedien nicht vertreten werden. Es gibt uns die Möglichkeit, über unser bestehendes Kommunikationsnetzwerk hinauszugehen.«

»Selbstorganisation«, »gegenseitige Hilfe« und eine Absage an den Staat sind zentrale Positionen der Brigaden. Auf ihrer Webseite heißt es: »Die Solidaritätsbrigaden sind ein Netzwerk selbstinitiierter wechselseitiger Hilfegruppen, die für die Selbstverteidigung der Menschen für die Menschen eintreten. (…) Die Brigaden wurden gegründet, als die Covid-19-Pandemie uns alle traf. Wir sind uns bewusst, dass die Gesundheitskrise nicht von Regierungen gelöst werden wird. (…) Dieses Solidaritätsnetzwerk muss sich auch darauf konzentrieren, den Neoliberalismus anzuprangern. In der Praxis hat sich einmal mehr dessen kriminelle Natur gezeigt. Wir müssen neue Formen kollektiver Organisierung erarbeiten.«

Der 25jährige Boris* aus Pantin, Gründungsmitglied der französischen BSP, erinnert sich an die Anfänge: »Wir kommen aus der radikalen Linken und kennen uns schon seit langer Zeit. Wir standen auch in Kontakt mit den Genossen in Mailand, und es erschien uns wichtig, unsere Kräfte in einer kollektiven Dynamik der politischen Solidarität zu vereinen. Wir spürten, dass die Menschen nicht nur vom Staat eingeschränkt und herumkommandiert werden wollten – sie wollten handeln. Wir organisierten uns und gründeten Anfang April gleichzeitig in verschiedenen Städten BSP-Gruppen, so auch die BSP 93. Die Idee war dabei, das italienische Modell zu übernehmen, aber an die örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Auf nationaler und internationaler Ebene sollte eine gewisse Einheit zwischen den Gruppen bestehen. Als wir die Begeisterung und die Ergebnisse sahen, waren wir sehr überrascht. Das Feedback war extrem positiv. Der Slogan »Nur die Menschen können die Menschen retten« fasst für die 20jährige Julie* aus Aubervilliers »unseren Gemütszustand« sehr gut zusammen. »Neoliberale Konzepte und Regierungen, die diese umsetzen, dienen nicht unseren Interessen. Und das haben wir verstanden.«

Anfangs konnte sich die Gruppe wegen der Beschränkungen durch die Pandemie nicht persönlich treffen, Aktionen mussten per Videokonferenz und Telefonchats organisiert werden. Und trotzdem konnte innerhalb weniger Wochen eine beeindruckende Serie von Solidaritätsaktionen organisiert werden, von denen einige bis heute fortbestehen. Die Idee war, unmittelbar zu reagieren, um die Situation der Menschen in Not in besonders armen Gegenden zu verbessern. Seine-Saint-Denis wurde mit am härtesten von der Pandemie getroffen und ist ohnehin gekennzeichnet von Ungleichheit, Armut und Polizeigewalt, was durch die Gesundheitskrise verschärft wurde. Ein Viertel der Häuser erfüllt die Hygienestandards nicht, und ein Drittel der Haushalte lebt unter der Armutsgrenze. Es gehört zu den Departements, in denen die Sterblichkeit in den Monaten März und April am stärksten gegenüber den Vorjahren angestiegen war. Auch viele Geflüchtete ohne Papiere leben hier, meist in besetzten Häusern oder ohne Dach über dem Kopf. Viele fanden sich in dieser beispiellosen Krise noch weniger beachtet und in größter Not wieder – ganze Familien verloren plötzlich ihr Einkommen. Ernährungsunsicherheit wurde ein ernstes Thema. Vor diesem Hintergrund hätten viele das Bedürfnis gehabt, endlich zu handeln.

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Anne Paq Niemanden vergessen: Im Gemeinschaftscafé wird Essen für wohnungslose Menschen in Aubervilliers zubereitet (12. April 2020)

Für Julie wäre es unmöglich gewesen, einfach nur zuzuschauen, während der Staat nichts tut, da »besonders in meinem Departement mehr Menschen an Covid-19 sterben als anderswo«. Das Projekt der Brigaden »schien das Problem bei der Wurzel fassen zu wollen: Auf das Scheitern und die Verantwortung derer abzuzielen, die vorgeben, uns zu regieren. Anders formuliert, eine Form der Organisierung, in der Kritik am Kapitalismus und an dem dazugehörigen Staat mit praktischer Solidarität verbunden wird.«

Am Anfang stand für BSP 93 jedoch erst mal die Notsituation im Vordergrund. Manche Mitglieder kochten, andere lieferten das Essen aus, unter anderem an Wohnungslose, wie die in Zelten am Kanal lebenden Geflüchteten in Aubervilliers und Saint-Denis. Es wurden Orte geschaffen, an denen Lebensmittel und Hygieneartikel zu bestimmten Zeiten abgegeben werden konnten, Teams der Brigaden baten vor Supermärkten um zusätzliche Spenden. Aktionen wurden auch gemeinsam mit dem größten Kollektiv Asylsuchender ohne Papiere in Frankreich, den »Gilets noirs« (»Schwarzwesten«, in Anlehnung an die Protestbewegung der »Gilets jaunes«, »Gelbwesten«, jW), organisiert. In Reaktion auf das Versagen des Staates dabei, Schutzmasken zur Verfügung zu stellen, begannen einige, diese selbst zu nähen und in Lebensmittelgeschäften oder an Pendler an Bahnhöfen auszugeben.

Neue Beziehungen

Nach Lockerung der Ausgangsbeschränkungen waren endlich auch persönliche Treffen möglich. Es kamen Debatten darüber auf, wie lange BSP 93 in der Lage sein werde, Familien weiter direkt zu unterstützen, da die Spenden rückläufig waren. Für Boris ist klar, dass die Solidaritätsarbeit weitergehen muss: »Es gibt nicht länger die ›Helfenden‹ und jene, denen ›geholfen‹ wird – wir alle sind betroffen. Wir müssen uns mehr in eine Dynamik der Auseinandersetzung begeben. Deswegen ist es so wichtig, ein landesweites Netzwerk zu haben, in dem wir Kampagnen und gemeinsame Forderungen entwickeln können.«

Die 35jährige Céline* will sich ebenfalls langfristig bei den Brigaden engagieren: »Ich will, dass diese Form der Organisation, die Alltagsaktionen mit politischem Bewusstsein verbindet, weiter existiert. Ich träume von einer Welt, in der es keine Herrschaftsverhältnisse mehr gibt. Ich weiß, dass ich das nicht erleben werde, aber ich möchte daran arbeiten, dies zu verwirklichen.« Für Pierre steht fest, dass Debatten stattfinden müssen. Andererseits werde das Elend nach Ende des Lockdowns ebenso da sein wie zuvor. »Es wird immer viele Dinge geben, um die wir uns unabhängig vom Staat kümmern können. Sei es beim Thema Wohnen oder beim Kampf gegen prekäre Lebensverhältnisse. Es gibt viele Bereiche, in denen wir uns uns kollektiv engagieren können. Unsere Analyse ist, dass der Staat gescheitert ist, und Selbstorganisierung, gegenseitige Hilfe ist eine Antwort darauf.«

Auch die 38jährige Paula*aus Aubervilliers glaubt, dass die BSP relevanter denn je seien: »Die Krise ist keineswegs überwunden. In der Gesundheitskrise mag es ein wenig besser geworden sein, aber die Wirtschaftskrise, das Wohnungs- und Erwerbsproblem und prekäre Verhältnisse sind nach wie vor da. Das gilt auch für die Klimakrise.« Die Mission der BSP sei einerseits, weiterhin Menschen in Not materiell zu unterstützen, und andererseits auf der Basis von gegenseitiger Hilfe und Solidarität neue gesellschaftliche Beziehungen aufzubauen. »Ich glaube, dass diese Beziehungen der einzige Weg sind, die Krisen zu überleben. Ich misstraue dem Staat nicht nur, ich weiß, dass er gegen uns – die Prekarisierten, Bewohner der bevölkerungsreichen Viertel, rassifizierte Menschen – arbeitet. Daher sind Solidarität, Selbstorganisierung und gegenseitige Hilfe unser einziger Schutz gegen die Gewalt des Staates und des kapitalistischen Systems.

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/380632.basisorganisierung-nicht-aus-humanit%C3%A4ren-gr%C3%BCnden.html

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66 Tage – Die USA zwischen Lockdown und Riots

Joshua Clover schreibt über die Proteste und Riots, die in den USA nach der Ermordung von George Floyd in Minneapolis ausgebrochen sind. Und er stellt sie in den Kontext einer Zeit der wirtschaftlichen und sozialen Krise.

66 Tage dauerte es von der ersten Anweisung, zu Hause zu bleiben, bis zum ersten Riot. Neben der Empörung über die Ermordung von George Floyd lässt sich auch eine gewisse Hoffnung darin erkennen, dass die Menschen weiterhin gegen die Ordnung einer Welt kämpfen können, die für sie immer eine Quelle der Gewalt ist, dass sie für das eigene Wohlergehen kämpfen können, dass sie gemeinsam auf der Strasse kämpfen können. 66 Tage lange quälte alle, die ich kenne, zweifellos der Gedanke, diese Möglichkeit könnte verblasst sein. Das ist sie nicht.

Die Ereignisse sind immer noch im Gange und ich möchte keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Das Wissen darum, dass alle Theorie aus Kämpfen entspringt, mahnt zur Bescheidenheit: Theorie geht Kämpfen nicht voraus und erst Recht beansprucht sie nicht, sie zu lenken. Für diejenigen von uns, die nicht auf der Strasse sein können, ist es wichtig, das unerträglich Vertraute wahrzunehmen: den Mord von Polizisten an einem Schwarzen; die Lüge, die Polizei habe in Notwehr gehandelt; die Enthüllung, dass diese plumpeste aller Lügen einen Lynchmord verdecken soll. Die Vertrautheit des Geschehens mindert in keiner Weise seine Drastik. Die aussergesetzliche Tötung von schwarzen Menschen ist von zentraler Bedeutung für die gesellschaftliche Ordnung der Vereinigten Staaten, zentral nicht nur für die Aufrechterhaltung der Macht, sondern auch für ihr Selbstverständnis. Die Legitimität und Notwendigkeit der schwarzen Wut ergibt sich zum Teil aus dem Versuch, diese Ordnung zu überleben und ihr eine andere Ordnung entgegenzustellen. Entgegen allem aufgeregten Geblöke von Journalist*innen und Politiker*innen über das Chaos auf den Strassen besteht eine Unordnung nur im wörtlichsten Sinne: als Versuch, die auf rassistischer Gewalt beruhende Ordnung zu überwinden.

Foto: Matthew Roth

Diese Darstellung von Unordnung steht im Übrigen in einer langen, in der Linken leider genauso wie auf der Rechten vorhandenen Tradition des Befindens darüber, was als Politik zählt. Gruppierungen mit klaren Hierarchien und Abstimmungsprozeduren und Finanzierungsquellen, mit Organigrammen und einem Büro irgendwo: Das ist ohne Frage Politik. Riots hingegen nicht, sie gelten als unüberlegte und unkontrollierte Reaktionen auf das unmittelbare Leiden einer Community. Dies geht einher mit der bösartigen Vorstellung des externen Unruhestifters, die verspricht, alle über schlichte Kommunikation hinausgehenden Aspekte von Protest auf das heimliche Wirken von Verschwörer*innen aus einem mysteriösen Anderswo zurückzuführen; von Verschwörer*innen, die zur Durchsetzung eigener politischer Ziele das Chaos und die legitime Trauer und Wut ausnutzen, wobei sie solchen Gefühlen angeblich gleichgültig gegenüberstehen. Alle diese Phantasien haben die gleiche Funktion: Schwarze aus dem Politischen auszuschliessen und sich zu weigern, den Riot als eine der grundlegendsten und ältesten Formen kollektiven Handelns anzuerkennen. Während der Staat immer mehr Gewalt einsetzt, zeichnen die Nachrichtensender und der Stab der Gouverneur*innen mit ihrem entsetzten Geplapper ein Bild, das alles auf den Kopf stellt: Gefühle sind die einzig legitime Politik, Handeln ist irgendwie etwas anderes.

Diese Taktiken der Demobilisierung sind auf entmutigende Weise nur zu bekannt. Gleichzeitig schimmert etwas Neues auf, das wie immer aus den Trümmern des Alten aufgebaut wird. Die Reaktion auf das Corona-Virus liess zwar den Ausbau eines ohnehin schon hochgerüsteten Überwachungsstaates erwarten, doch die Ausserkraftsetzung jedes Vermummungsverbots (das Trump und Konsorten während der grossen Antifa-Krise von 2017 noch verschärfen wollten) scheint nun zumindest grössere Spielräume für öffentlich ausgetragenen Antagonismus zu bieten. Sicherlich ist die Erinnerung daran, dass der Überwachungsstaat noch nicht alle Grenzen überwunden hat und sein Wunsch nach totaler Erfassung angefochten werden kann, für viele eine stärkende Erfahrung gewesen. Da Masken nun zur neuen Normalität in den USA gehören, wie es anderswo schon seit geraumer Zeit der Fall ist, wird sich das Kräfteverhältnis für eine Weile verschieben.

Foto: Kelly Kline

Zu den bizarrsten Merkmalen des Zeitraums von 66 Tagen gehörte etwas, das man als Antistreik bezeichnen könnte: die nachdrückliche kollektive Forderung nach einer Wiederaufnahme der Arbeit, egal zu welchen Löhnen und Bedingungen. In vieler Hinsicht handelte es sich dabei um eine PR-Kampagne, bei der sich nicht die angebliche Arbeiter*in Ausdruck verschaffte, sondern die Unternehmer*in, die die Geldmaschine wieder zum Brummen bringen wollte. Insofern waren solche Pantomimen eine Lüge, die aber die Wahrheit ans Licht gebracht hat, dass der Kapitalismus ausserstande ist, eine Antwort auf die aktuelle Situation zu finden: Was tun, wenn Löhne das Überleben sichern, aber eben diese Funktion der Arbeit, das Proletariat am Leben zu halten, damit es noch mehr arbeiten kann, plötzlich widersprüchlich wird, weil die Arbeit in Wirklichkeit so viele Proletarier*innen töten könnte, dass der Kapitalismus nicht mehr funktioniert? Es wäre eine Genugtuung gewesen, zuzusehen, wie sich die offiziellen und unbezahlten Sprecher*innen des Kapitals in dieser Falle winden, wären die Umstände nicht für Menschen, die wir kennen und lieben, so schrecklich und tödlich gewesen. Die Regierung, deren Rolle als Dienerin des Kapitals noch nie so deutlich war, begann zu kalkulieren, wie genau sie die Parameter für Arbeit und Konsum einzustellen hat, um das Überleben der Wirtschaft zu sichern, wie viele Menschenleben es auch kosten mag. Diese Flickschusterei machte sich der riesige Staatsapparat zu seiner einzigen Aufgabe, bis er gezwungen wurde, den Blick nach Minnesota und dann plötzlich auf zahllose andere Orte zu richten.

Das ganze Szenario hatte ferner den Effekt, dass es das Privateigentum in ein sehr seltsames Licht rückte. Die Offenbarung vom ersten April, dass man einfach… die Mietzahlung einstellen kann, war sicherlich ein wichtiger Riss im ideologischen Schleier; der historisch einmalige Absturz auf eine Erwerbsquote von kaum 50 Prozent zerriss den Schleier weiter. Hinzu kam die Erfahrung mit Waren, den naturalisiertesten Dingen. Wenn Leute auf einmal anfangen, ihre Einkäufe mit chemischen Reinigungstüchern abzuwischen, dann ist das befremdlich. Wenn der gesamte Sektor, der das Geld der Bevölkerung in Waren verwandelt, als genauso unverzichtbar anerkannt wird wie das medizinische Personal und zugleich offensichtlich ist, dass die dort Beschäftigten für diese Verwandlung ihr Leben riskieren müssen, dann ist das ebenfalls befremdlich. Wenn die Regierung offen zugibt, dass sie entgegen ihren obersten Neigungen und Gepflogenheiten Menschen Geld dafür gibt, einkaufen zu gehen und so die Wirtschaft zu retten, dann ist das verdammt befremdlich.

Foto: Jenny Salita

Man muss sich fragen, ob die Dynamik von Plünderungen dadurch nicht eine gewisse Veränderung erfährt. Die üblichen Reaktionär*innen werden die üblichen Dinge sagen, aber wir befinden uns in einer eigentümlichen Situation: Die Frage, wie die Grundgüter aus den Händen der Kapitalist*innen in die Häuser der Proletarier*innen gelangen, wurde noch nie so betont, in den Güterbergen, die sich andernorts auftürmen, wurde noch nie so offensichtlich ein Horten von notwendigem gesellschaftlichem Reichtum erkannt – das ist vielleicht etwas Neues. Dass sich Plünderungen aus verelendeten Vierteln in die Glitzerwelt von Melrose und SoHo verlagert haben, hat zweifellos eben jenen Kommentator*innen Angst eingejagt, die eine solche Verlagerung doch seit langem fordern, indem sie gegen die «Zerstörung der eigenen Community» wettern (als ob eine Gemeinschaft jemals aus Waren bestehen könnte). Gefangen in ihrer Verlogenheit, können sie sich jetzt nur noch die moralische Autorität anmassen, die Aneignung von allem zu verurteilen, was Wert hat, selbst wenn der offensichtliche Zweck im Wiederverkauf besteht, um an Geld für das eigene Überleben zu gelangen – in ihren Augen kann hier von Bedürftigkeit keine Rede mehr sein (als ob sie die Plünderung von Milch und Windeln verteidigen würden). Das alles sollte niemand ernst nehmen, denn bekanntlich heissen diese aufgebrachten Gestalten Plünderungen nur dann gut, wenn ein grosser oder kleiner Jeff Bezos sie verübt. Die Akteur*innen mit guten Absichten sind hier ganz offensichtlich die Plünderer*innen, die an einem Plebiszit über das Überleben teilnehmen. Dies ist nur ein Aspekt davon, wie die Unruhen von 2020 das andere politisch bestimmende Ereignis  des Jahres in den Schatten stellen. Vielleicht lautet die Offenbarung des Jahres 2020 nicht: «Wow, ein Quasi-Sozialist wäre fast Präsidentschaftskandidat geworden», sondern «Klar, die Polizei werden wie niemals abwählen», und auch «Klar, die Barrieren beim Zugang zu lebenswichtigen Gütern sind absurd und inakzeptabel», und schliesslich: «Moment mal, diese beiden Tatsachen gehören ja zusammen.»

Das eindrucksvolle Bild von der Polizeistation in Minneapolis, die überrannt, von den Polizeikräften aufgegeben und schliesslich niedergebrannt wird, ist in der jüngeren US-Geschichte beispiellos. Die Zerstörung der Wache lässt sich als unsere internationalistische Wende sehen; schliesslich wurden vor neun Jahren in Ägypten binnen einer einzigen Nacht 99 Polizeistationen in Brand gesetzt. So viel zur Mär des amerikanischen Exeptionalismus. Die Bilder des Stadtviertels, aus dem die Polizei vollständig vertrieben wurde, haben uns vergegenwärtigt, dass Blockade und Barrikade – beides zentrale Formen von Riots und Zirkulationskämpfen – darauf drängen, von Unterbrechungen des (Waren-)Verkehrs zu Verteidigungslinien von Territorien zu avancieren. Womöglich hallte in der Nacht des 28. Mai, als die Polizeiwache in Minneapolis niedergebrannt wurde, die derzeitige Praxis der Oglala Sioux und der Cheyenne River Sioux wider: Mit Checkpoints schützen sie den Zugang zu ihren angestammten Gebieten, sogar den Gouverneur von South Dakota haben sie einmal abgewiesen. Auch wenn die Begründung für ihre Kontrollposten medizinisch einleuchtend und rechtlich überzeugend ist, sind darin unschwer die Checkpoints dieses Frühjahres zu erkennen, mit denen die noch unkolonisierten Wet’suwet’en-Territorien vor dem anrückenden kanadischen Ölstaat und seinen Polizeikräften verteidigt wurden. Nick Estes und Glenns Sean Coulthard haben mich vor kurzem daran erinnert, dass das American Indian Movement in Minneapolis gegründet wurde und – genau wie die Black Panther Party for Self Defense – mit Community Patrols anfing. Hinter dem Niederbrennen des Polizeipostens in Minneapolis stand die Geschichte der Kämpfe um selbstverwaltetes Territorium, die sich unweigerlich gegen die Polizei in Stellung bringen müssen. Falls es jemals einen Zeitpunkt gab, ein Quartier als autonome Kommune zu etablieren – dies war er. Oder beinahe. Wir alle wussten es: Mehr Schergen würden kommen, bewaffnet mit Knarren und US-Flaggen, während der Präsident seinen imperialen Traum vom Ausnahmezustand träumen würde. Aber wir dürfen annehmen, dass dieser grosse Schritt auf dem Weg zu einem kollektiven Prozess, der es schafft, die Staatsgewalt fernzuhalten, nun auf dem Tisch ist, wenn die Polizeimorde ein Ende und die kollektive Autonomie eine Chance haben sollen.

Foto: Matthew Roth

Wichtig ist, dass es dieses Verständnis des gegenwärtigen Staates und der Besitzverhältnisse bereits gibt. Bei den einen mehr als bei anderen – die rassifizierten unteren Klassen, ganz besonders die Familien, die selbst einmal Besitz waren, tragen die schmerzliche Einsicht mit sich, dass die gegenwärtige Eigentumsordnung Tod bedeutet und dass die Polizei als Hüterin dieses Systems die Hüterin des Todes ist. Ein anderes Urteil über diese Institution ist undenkbar. Die Eigentumsordnung durchzieht fraglos rassifizierte und andere Trennlinien. Und klar ist auch, dass die immer noch anschwellende Welle von Inhaftierungen sich auch aus hauptsächlich von Weissen bewohnten Gegenden nährt, besonders aus Zentren der Opioid-Krise. Die Bedeutung des Polizei-Gefängnis-Komplexes lässt sich dabei unter anderem durch seine Funktion verstehen, soziale Zerstreuung zu erzielen und Löhne zu drücken. Was höflich «Einwirkung durch das Strafrechtssystem» genannt wird, dient dazu, Kollektivität und letztlich das Lohnniveau zu untergraben, wie zuletzt Adam D. Reich und Seth J. Prins in ihrem Beitrag «The Disciplining Effect of Mass Incarceration on Labor Organization» gezeigt haben. Das bedeutet: Cops erzeugen auch Kapital. Sie sind Werkzeuge der Extraktion von Reichtum. Er wird allen Armen abgepresst, wenn auch auf unterschiedliche Weise und teilweise gerade durch solche Unterschiede – ein weiterer Grund, weshalb die Annahme, ein zunächst gegen die Cops gerichteter landesweiter Aufstand müsse ethnisch monolithisch sein, absurd wäre. Das soll allerdings nicht heissen, alle befänden sich in der selben Lage. Mit der staatlich verordneten Immobilität aufgrund der Pandemie und nun den selektiv durchgesetzten Ausgangssperren kehrt die Geschichte der Sklavenjäger*innen zurück: Bestimmte Menschen dürfen sich frei bewegen, andere nicht. Sie spiegelt sich klar im Bild von Derek Chauvins Knie im Nacken von George Floyd.

Noch eine letzte neuartige Entwicklung gilt es zu erwähnen, auch wenn viele andere unerwähnt bleiben. In den letzten Dekaden, in denen sich wiederholt entsetzlich Ähnliches ereignete, kam es nach Polizeimorden zunächst zu lokalen Riots, die sich später, wenn die Täter freigesprochen oder gar nicht erst angeklagt wurden, auf das ganze Land – und darüber hinaus – ausdehnten. Nach diesem Muster entwickelten sich die Ereignisse nach der Prügelorgie gegen Rodney King und nach dem Mord an Michael Brown – die beiden weitreichendsten Episoden seit den Sommern 1967 und 1968. Die Woche nach dem Mord an George Floyd verlief anders: Die Riots haben sich rasch von Minneapolis auf das gesamte Staatsgebiet ausgeweitet. Ich möchte keine zu einfache Erklärung für diese Entwicklung anbieten. Noch überschlagen sich die Ereignisse, und es ist wichtig, zunächst hinzuschauen und aus ihnen zu lernen. Möglicherweise liegt ein Teil der Erklärung im Mord an Ahmaud Arbery, der wenige Monate zuvor auf eine ganz eigene entsetzliche Weise in Georgia stattfand. Wir sollten seinen Namen sagen, und den von Breonna Taylors und der vielen anderen. Als George Floyd ermordet wurde, lag für manche bereits das Grauen des Lynchmords in der Luft, andere empfanden es wie einen Stich ins Herz mit einer Glasscherbe.

Foto: Matthew Roth

Was beim Lynchmob, der Arbery ermordete, heraussticht: Er wurde nicht von den Cops angeführt. Zumindest nicht direkt. Denn die drei weissen Männer standen der Polizei nahe: Gregory McMichael war früher Cop, Travis McMichael ist sein Sohn, Roddie Bryan ein Nachbar, der sich eifrig zum Komplizen machte. Sie warfen dem Ermordeten Diebstahl vor, um ihren Mord zu legitimieren, ein Vorwurf, der weit mehr gefälscht ist, als es ein 20-Dollar-Schein je sein könnte. Das erinnert natürlich an George Zimmermann, der seinen gescheiterten Traum, Polizist zu werden, mit der Exekution des siebzehnjährigen Trayvon Martin auslebte. Noch belastender ist die Tatsache, dass die Polizei mindestens einer Person in der Nachbarschaft mitteilte, bei Problemen solle sie sich an Gregory McMichael wenden, der inzwischen eigentlich nur ein gewöhnlicher Rentner war – ein ekelerregendes Beziehungsgeflecht, in dem Whiteness und Polizeiarbeit aufgrund der Eigentumsordnung wie in einem Mengendiagramm tendenziell zur Deckung kommen. Die Schnittfläche: eine Lizenz zum Töten.

Doch vielleicht wird daran etwas deutlich. In meinem Beruf hatte ich immer Schwierigkeiten damit, den Studierenden den Begriff des strukturellen Rassismus zu vermitteln; uns allen wird ständig nahegelegt, schlechte Taten für eine Folge von schlechten Ideen schlechter Individuen zu halten. Aber die informelle Ernennung von Gregory McMichael, ja im Grunde jeder anderen weissen Person zum Hilfspolizisten belehrt uns eines Besseren. So lag die Kraft der zirkulierenden Bilder des neunminütigen Mordes an George Floyd womöglich nicht in ihrer Besonderheit, sondern im Gegenteil davon. Vielleicht haben alle begriffen, dass es immer so abläuft, mal mehr, mal weniger unvermittelt, aber immer so offensichtlich und brutal. Kein Widerstand, keine abrupten Bewegungen, kein Tasten nach einer vermeintlichen Waffe. Vielleicht ist endlich allen klar geworden, dass die Mörder diese vier Cops waren, aber ebenso der rassistische Kapitalismus, die Eigentumsordnung, die Polizei an sich. Wenn man das endlich erkannt hat, verspürt man unweigerlich ein Verlangen danach, die einzelnen Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen. Gleichzeitig aber ist es kaum vorstellbar, durch solche Massnahmen allgemein Gerechtigkeit herzustellen.

Dieser Text erschien zuerst auf der Website des Verlags Verso. Er wurde für das Ajour Magazin auf Deutsch übersetzt.

Joshua Clover ist Kommunist und ausserdem Professor für Literatur und kritische Theorie an der University of California, Davis. Sein Buch Riot.Strike.Riot erscheint im Herbst 2020 in deutscher Sprache im Verlag Galerie der abseitigen Künste in Zusammenarbeit mit dem Magazin Non.

Quelle: https://www.ajourmag.ch/66-tage/

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Erfolgreiche Black Lives Matter Demonstration in Luzern

700 Personen nahmen am Samstagnachmittag an einer Black Lives Matter Demo in Luzern teil.



Der Umzug startete um 14:30 Uhr auf dem Bahnhofplatz mit 300 Personen und zog danach durch die Zentralstrasse, Winkelriedstrasse und den Hirschgraben Nach einer Ansprache beim Regierungsgebäude führte die Demonstration durch die Bahnhofstrasse zurück zum Bahnhofplatz, wo die Demo nach etwa einer Stunde endete.

Menschen mussten weggeschickt werden

Auf Grund der aktuellen Covid 19 Situation waren an der Demonstration nur 300 Personen zugelassen. Die Organisatoren sind überwältigt von der Solidarität der Luzerner Bevölkerung. Zahlreiche Menschen mussten vom Besammlungsplatz weggeschickt werden. Sie wurden dazu ermuntert mit ihren Schildern an einem anderen Ort in der Stadt auf das Anliegen aufmerksam zu machen. Unterwegs bekundeten zahlreiche Zuschauer*innen immer wieder ihre Zustimmung zur Demonstration. Viele schlossen sich spontan dem Umzug an, so wuchs die Demo immer weiter

Solidarität und die Schweiz im Fokus

Nebstdem die Demonstrant*innen ihre Solidarität mit den weltweiten Protesten bekundeten, machten sie auch auf Missstände in der Schweiz aufmerksam. Racial Profiling, Nachteile auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt, Polizeigewalt und Alltagsrassismus wurden thematisiert. Als Racial Profiling bezeichnet man das Agieren der Polizei anhand von Kriterien wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder nationaler Herkunft und nicht anhand konkreter Verdachtsmomente. Mindestens 18 Personen wurden in den letzten 20 Jahren bei Polizeikontrollen oder in Haft in der Schweiz getötet. Um ihnen und allen anderen durch die Polizei getöteten Menschen zu gedenken wurde am Schluss eine Schweigeminute gehalten.

Der Protest ist nicht zu Ende

Die Demonstrant*innen wollen weiter kämpfen. Sie wollen den Rassismus beenden. Das dies mit einer einzelnen Demo nicht geschafft ist, ist den Organisator*innen klar. Sie wollen deshalb weiter aktiv bleiben und auch in der Zukunft Protestaktionen organisieren.

Quelle: www.resolut.tk

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Black Lives Matter Demo in Luzern am 13.6.20

Am kommenden Samstag organisiert die Aktivist*innen Gruppe RESolut zusammen mit dem Eritreischen Medienbund und Einzelpersonen eine Black Lives Matter Demo in Luzern.



Nach Protesten in den USA, auf der ganzen Welt und in zahlreichen Städten in der Schweiz, wird nun auch eine Demo in Luzern stattfinden. Wir solidarisieren uns mit den Protesten in den USA und gehen auch gegen strukturellen Rassismus und rassistische Polizeigewalt in der Schweiz auf die Strasse. Die Demo in Luzern soll bewilligt stattfinden, so können alle mitlaufen. Die Organisator*innen haben dazu ein Bewilligungsgesuch und ein Corona-Schutzkonzept eingereicht. Ein Gespräch mit der Stadt sei positiv verlaufen. Um sicherzustellen, dass nicht mehr als 300 Personen teilnehmen, wird der Besammlungsplatz abgesperrt und Zutrittskontrollen durchgeführt. Ausserdem müssen die Teilnehmer*innen ihre Kontaktdaten angeben um die Rückverfolgbarkeit zu gewährleisten.
Die Demonstration wird sich um 14:00 Uhr auf dem Bahnhofplatz besammeln. Die Route führt anschliessend durch die Neustadt und endet wieder auf dem Bahnhofplatz.

Paradoxe Situation für die Organisator*innen
Normalerweise würde man mit möglichst vielen Teilnehmenden ein Zeichen setzen. An der Demo am Samstag dürfen jedoch nicht mehr als 300 Personen teilnehmen. «Aufgrund der aktuellen Covid-19 Situation bitten wir interessierte Menschen, People of Color den Vortritt zu lassen und die Demo wieder zu verlassen, sollten mehr als 300 Personen zur Besammlung kommen» sagt eine Veranstalterin. Solidarität könne man mit einem Transparent oder einem Plakat immer und überall zeigen.

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Die Sprache derer, die nicht gehört werden

Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd werden die Vereinigten Staaten von ausgedehnten »riots« erschüttert.

Es sind die schwersten Unruhen in den Vereinigten Staaten seit 1968. Am Wochenende kam es in US-amerikanischen Großstädten erneut zu heftigen Protesten wegen des Todes von George Floyd. In zahllosen Städte, beispielsweise Minneapolis, Washington, Miami, Detroit, Chicago, New York und Los Angeles, fanden riots statt, es gab Verletzte und erhebliche Sachschäden. CNN zufolge verhängten mindestens 40 Städte nächtliche Ausgangssperren, mindestens 15 der 50 Bundesstaaten mobilisierten demnach die Nationalgarde. Anzeige


In den Tagen zuvor waren die Demonstrationen noch friedlich verlaufen. Tausende marschierten wegen des gewaltsamen Todes von George Floyd, einem unbescholtenen Bürger und Vater zweier Töchter. Am Abend des 25. Mai hatte eine Polizeistreife auf den Hinweis reagiert, Floyd habe versucht, in einem Laden mit Falschgeld zu bezahlen. Einer der Beamten, der 44jährige Derek Michael Chauvin, gegen den bereits 18 offiziell eingereichte Beschwerden vorlagen, drückte Floyd zu Boden und stemmte mehr als acht Minuten lang sein Knie gegen dessen Genick. Eine Handykamera filmte das Geschehen. Es ist zu sehen, wie Floyd um sein Leben fleht. »Ich kann nicht atmen«, sagt er mehrmals, doch vergeblich. Ein Krankenwagen brachte den reglosen Mann ins nahegelegene Hennepin County Medical Center, wo er für tot erklärt wurde.

Erstmals seit 1992 sind in der Innenstadt von Los Angeles wieder Panzerfahrzeuge und Soldaten zu sehen. Die schrillen Sirenen und lauten Rufe in der Nacht sind bis in die frühen Morgenstunden zu hören.

Floyd war 46 Jahre alt. Er war Afroamerikaner, Chauvin ist Weißer. Die Tötung Floyds war der neueste Gewaltakt auf einer langen, unrühmlichen Liste von Übergriffen. »Es ist eine Liste, die mehr als 400 Jahre zurückgeht«, sagte der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden bei einer Videoansprache am 29. Mai. »Schwarze Männer, Frauen, Kinder – die Ursünde dieses Landes beschmutzt unsere Nation noch heute.« Jene »Ursünde«, die systematische Diskriminierung von Afroamerikanern, nahm 1619 ihren Anfang, als die ersten afrikanischen Sklaven nordamerikanischen Boden betraten. Mit dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 endete die Sklaverei, doch im selben Jahr wurde auch der Ku-Klux-Klan gegründet. Vom Ende des Bürgerkriegs bis 1950 wurden in den USA über 4 000 Lynchmorde dokumentiert. In den sechziger Jahren kam es dank der Bürgerrechtsbewegung zu wichtigen Reformen wie dem Civil Rights Act von 1964, doch auch heute noch leidet die schwarze Minderheit unter behördlicher Willkür, weil die Machtstrukturen von der weißen Mehrheitsgesellschaft geprägt sind. Besonders gilt dies für die Polizei. Berüchtigt war beispielsweise Daryl Gates, von 1978 bis 1992 Polizeichef von Los Angeles. 1982 sagte er in einem Interview, dass Afroamerikaner vor allem deshalb im Würgegriff von Polizeibeamten ums Leben kämen, weil ihr Körperbau »anders« sei als bei »normalen Menschen«. Es waren Gates und sein Amtsvorgänger William Parker, die das Los Angeles Police Department stark militarisierten und die Polizei mit Panzerfahrzeugen und Helikoptern in beziehungsweise über der Stadt patrouillieren ließen. Parker und Gates schufen ein Modell, dem fast alle US-amerikanischen Großstädte bis heute folgen.

1991 verprügelten im kalifornischen Simi Valley vier Polizeibeamte den schwarzen Bauarbeiter Rodney King mit Schlagstöcken, sie wurden im folgenden Jahr von einem Geschworenengericht freigesprochen. Auch der Angriff auf King war auf Video festgehalten worden. Die Diskrepanz zwischen dem Freispruch und der Brutalität der Tat – 33 Schläge und sieben Tritte – war klar erkennbar. So kam es nach dem Freispruch in Los Angeles zu den schwersten Unruhen in der Geschichte der Stadt, über 60 Menschen kamen zu Tode. In den Folgejahren kam es zu einer weitreichenden Polizeireform, heutzutage untersteht die Polizei von Los Angeles einer zivilen Aufsichtskommission.

Doch viele der Probleme bestehen weiterhin, auch in anderen Städten. 2014 wurde in New York City der 43jährige, asthmakranke Eric Garner von einem Beamten des New York Police Department erwürgt; die Anwendung des Würgegriffs war im Vorjahr verboten worden. Vor seinem Tod sagte auch Garner: »Ich kann nicht atmen.« Das zuständige Gericht beschloss, keine Anklage zu erheben; 2019 wurde der betreffende Beamte allerdings aus dem Polizeidienst entlassen. Bei einer Verkehrskontrolle außerhalb von Minneapolis erschoss 2016 ein Polizist den 32jährige Philando Castile vor den Augen seiner Freundin Diamond Reynolds und deren vierjähriger Tochter. Reynolds filmte die Sekunden nach der Tat mit ihrem Handy und veröffentlichte das Video auf sozialen Medien, doch der Täter wurde später freigesprochen. Dass solch schwere polizeiliche Übergriffen seit der Prügelattacke auf Rodney King 1991 so viel Protest nach sich ziehen, liegt auch an der wachsenden Verbreitung von Videotechnik. Damals war die Aufnahme eines Amateurfilmers im Fernsehen zu sehen gewesen, mittlerweile schaffen die Allgegenwart von Handykameras und die Verbreitung von Aufnahmen im Internet eine neue Art von Transparenz – zumindest geschehen viele dieser ­Taten also nicht mehr unbemerkt von der Öffentlichkeit.

Es gibt auch Bemühungen, belastbare Statistiken zu erstellen. Die Ergebnisse sind erschreckend: Afroamerikaner werden im Durchschnitt 2,5 Mal häufiger von der Polizei getötet als Weiße, wie aus einer gemeinsamen Studie der Rutgers University, der Washington University, der University of Michigan und des St. Louis Department of Sociology hervorging. Die konservative Zeitschrift National Review berichtete am 31. Mai, dass sich vor allem Polizeigewerkschaften gegen jede Form von Transparenz sträubten. So unterliegen beispielsweise die bereits erwähnten 18 Beschwerden, die gegen Derek Chauvin vorliegen, einer Vertraulichkeitsvereinbarung, die die Polizei von Minneapolis mit der zuständigen Gewerkschaft getroffen hat.

Nur wenige Fälle polizeilicher Gewalt kommen tatsächlich vor Gericht, und selbst dann ist es schwierig, eine strafrechtliche Verurteilung zu erwirken, wie die Nachrichtenagentur Reuters am 8. Mai berichtete. Die Gerichte müssen in solchen Fällen die Frage stellen, ob die Beamten bei ihrer Gewaltanwendung wissentlich und vorsätzlich gegen den vierten Zusatzartikel der Verfassung verstoßen haben, der die Bürger vor staatlichen Übergriffen schützt. Falls das Gericht das verneint, erhalten die angeklagten Beamten automatisch eine »eingeschränkte Immunität«, die sie vor weiteren Klagen schützt. Seit der Grundsatz der eingeschränkten Immunität 1967 erstmals rechtskräftig angewandt wurde, hat er Tausende Beamte vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt. Kein Wunder, dass die Anzahl tödlicher Übergriffe durch Polizisten immer weiter zu steigen scheint. Dem Online-Projekt »Fatal Encounters« des Journalisten D. Brian Burghart zufolge, der Zwischenfälle dieser Art seit 2000 akribisch katalogisiert, droht das Jahr 2020 in Hinblick auf tödliche Polizeigewalt das blutigste seit Beginn der Dokumentation zu werden; bis zum 1. Juni wurden 819 polizeiliche Tötungen registriert. Das Vertrauen in den Rechtsstaat ist erschüttert. »Ich möchte endlich Taten sehen«, sagte Tera Brown, die Cousine von George Floyd, der New York Times. »Das war eindeutig Mord.«

Als die Staatsanwaltschaft in Minneapolis am Donnerstag voriger Woche bekanntgab, gegen Chauvin keine Anklage zu erheben, entlud sich die geballte Wut. In Minneapolis stürmten Protestierende ein zuvor evakuiertes Polizeirevier und brannten es nieder. Am Freitag wurde Chauvin zwar doch noch verhaftet, die Unruhen waren aber nicht mehr aufzuhalten. Zahllose Demonstranten strömten durch die Großstädte der Vereinigten Staaten. Im Lafayette Square, einem Park in Washington, D.C., kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Das Weiße Haus, das sich direkt neben dem Park befindet, unterliegt einer Absperrung. Als Protestierende sich Freitagabend vor dem Weißen Haus sammelten, brachten Geheimdienstmitarbeiter Präsident Donald Trump in den unterirdischen Bunker, der zuletzt bei den Terrorangriffen vom 11. September 2001 genutzt worden war. Von dort twitterte er eifrig.

Auch in anderen Städten herrscht der Ausnahmezustand. In Los Angeles wurde eine Ausgangssperre verhängt, Bürgermeister Eric Garcetti hat am Samstag den Einsatz der Nationalgarde autorisiert. Erstmals seit 1992 sind in der Innenstadt wieder militärische Panzerfahrzeuge und Soldaten zu sehen, die in den Straßen patrouillieren. Die schrillen Sirenen und lauten Rufe der Nacht sind bis in die frühen Morgenstunden zu hören. Eine Apple-Filiale wurde geplündert. Den teuren Rodeo Drive in Beverly Hills schützt eine Polizeiabsperrung. Der Schlachtruf der Demonstranten ist: »Ich kann nicht atmen.«

In der US-amerikanischen Linken ist eine heftige Debatte darüber entbrannt, inwieweit solche riots politisch sinnvoll sind. »Amerika muss erkennen, dass solche Unruhen nicht aus dem Nichts entstehen«, sagte der Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. in einer Rede im April 1967. »In unserer Gesellschaft gibt es weiterhin Bedingungen, die ebenso energisch verurteilt werden sollten wie die Unruhen. Letztlich ist ein Aufstand die Sprache derer, die nicht gehört wurden.«

Quelle: https://jungle.world/artikel/2020/23/die-sprache-derer-die-nicht-gehoert-werden

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Trump heizt Riots an

US-Präsident provoziert und diffamiert Proteste gegen rassistische Polizeigewalt. Einsatzkräfte lassen Taten folgen



Inmitten der sozialen Spannungen in der Coronakrise gerät US-Präsident Donald Trump angesichts der sich mittlerweile über fast die gesamten Vereinigten Staaten ausbreitenden Proteste gegen rassistische Polizeigewalt offenbar immer mehr in Bedrängnis. Darauf deuten zumindest seine aggressiv-martialischen Statements, mit denen er die Situation im Land immer weiter anheizt. Neben dem Ruf nach »Law and Order« (Recht und Ordnung) forderte Trump am Sonntag (Ortszeit) die Bürgermeister und Gouverneure der Demokratischen Partei dazu auf, eine »härtere Gangart« zu fahren. »Diese Leute sind Anarchisten. Ruft jetzt die Nationalgarde. Die Welt schaut zu und lacht euch aus.« Auch die Verantwortlichen für die Proteste hat der Präsident längst ausgemacht, weshalb er ebenfalls am Sonntag und wieder über Twitter erklärte, »die Antifa« als Terrororganisation einstufen zu wollen.

Am Sonntag war es den sechsten Tag in Folge zu Protesten in praktisch allen Großstädten der USA gekommen. Auslöser für die Wut ist der Tod des schwarzen US-Bürgers George Floyd durch den Übergriff eines weißen Polizisten in Minneapolis im US-Bundesstaat Minessota, der vergangenen Montag den Mann minutenlang mit dem Knie in seinem Nacken zu Boden gepresst hatte, bis dieser erstickte. Zwar wurde der Beamte mittlerweile verhaftet und soll am 8. Juni vor Gericht aussagen. Unter dem Motto »No justice – no peace« (Keine Gerechtigkeit – kein Frieden) haben die Proteste mittlerweile jedoch eine eigene Dynamik entwickelt.

Wie der TV-Sender CNN berichtete, haben bereits 15 der insgesamt 50 US-Bundesstaaten sowie der Hauptstadtbezirk Washington die Nationalgarde gegen die Protestierenden mobilisiert. Mindestens 40 Städte verhängten zudem nächtliche Ausgangssperren, darunter auch Washington D. C. Trotzdem kam es in der Nacht auf Montag auch dort zu Protestaktionen unter anderem in direkter Nähe des Weißen Hauses, die teilweise in Auseinandersetzungen mit den Einsatzkräften mündeten. Aus Angst vor den aufgebrachten Massen hatte sich Trump laut einem CNN-Bericht bereits am Freitag in seinen Bunker geflüchtet.

Während die westlichen Regierungen zu den Vorkommnissen schweigen, meldete sich am Montag ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums zu Wort. Wie Xinhua berichtete, erklärte Zhao Lijian: »Wir verfolgen die jüngsten Entwicklungen rund um den Tod von Herrn Floyd.« Zudem forderte er die US-Regierung dazu auf, die Menschenrechte zu wahren.

Das forderten am Wochenende auch zahlreiche Gruppen in anderen Ländern. So zogen am Sonntag mindestens 1.500 Menschen durch Berlin, nachdem sich bereits am Sonnabend Tausende vor der US-Botschaft versammelt hatten. Auch in anderen europäischen Städten wie London, Madrid, Barcelona oder Kopenhagen forderten Protestierende ein Ende der rassistischen Polizeigewalt.

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/379359.proteste-gegen-rassismus-trump-heizt-riots-an.html

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Covid-19, Klassengesellschaft und anarchistische Selbstreflexion

Quelle: https://www.ajourmag.ch/covid-19-klassengesellschaft-und-anarchistische-selbstreflexion/

Wie kämpfen? Diese grosse Frage bringt die Corona-Krise mit neuer Dringlichkeit aufs Parkett. Gastautor M. Lautrèamont hat sich dazu grundsätzliche Gedanken gemacht und unterzieht einige aktuelle Erscheinungen des Linksradikalismus der Kritik.

Das Erstaunen war gross, als Anfang Mai 2020 in den Medien die Nachricht kursierte, dass in Genf 2500 Menschen stundenlang im Regen ausharrten, um kostenlose Lebensmittelpakete zu erhalten. Armut und Prekarität hierzulande? Das passt doch nicht ins Selbstbild der modernen Schweiz! Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass in Genf so viele Leute anstanden und auch in Zürich und Basel sind mit dem Fortschreiten der ökonomischen Krise immer mehr Leute auf kostenlose Grundnahrungsmittel und Hygieneartikel angewiesen. Es ist kaum verwunderlich, dass aus dem bürgerlichen Lager die Bilder der kilometerlangen Menschenschlange kleingeredet wurden. Die noch miserablere Lage in anderen Ländern diente als willkommener Relativierungsfaktor.    

Selbst der Nachklang all jener Stimmen von Aktivist*innen und marginalisierten Menschen, die seit Jahren versuchen mit dem ideologischen Selbstbild des Wirtschaftsstandorts Schweiz zu brechen, schien im Strudel der sozialen Medien ungehört zu verhallen. Dass diejenigen Leute, die keine Aufenthaltsbewilligung haben oder dazu gezwungen sind, sich im Billiglohnsektor zu verdingen, am härtesten von den wirtschaftlichen Einbrüchen betroffen sein würden, war zu erwarten. Meist sind es migrantische Frauen – egal ob in einem formellen oder informellen Arbeitsverhältnis. Dass bürgerliche Politiker*innen die elende Situation so vieler Menschen relativieren, ist ebenfalls nicht überraschend. Überraschend ist einzig die Passivität der Linken und der Anarchist*innen. Auf analytischer Ebene erfassen sie zwar meistens die soziale Dimension der Corona-Krise, doch auf praktischer Ebene scheinen sie, mit einigen Ausnahmen, vollkommen gelähmt – und das nicht nur aufgrund der staatlichen Lockdown-Massnahmen.

Selbstreferenzieller Aktivismus

Es ist klar, dass die momentane Lage den Radius widerständiger Aktionen reduziert. Da sich aber eine ökonomische Krise anbahnt, täten Linke und Anarchist*innen gut daran, sich auf kommende Kämpfe vorzubereiten und die eigenen theoretischen und praxisbezogenen Mängel zu reflektieren. Die missliche Lage der selbsternannten Revolutionär*innen hierzulande hat Programm, weil die linksradikale und anarchistische Szene jahrzehntelang durch einen selbstreferenziellen Aktionismus gekennzeichnet war. Durch das momentane Ausbleiben einer revolutionären Massenbewegung und die Unmöglichkeit eines Aufstands sieht sich die revolutionäre Aktivist*in einmal mehr auf sich selbst und ihre Szene zurückgeworfen. Die Aufrechterhaltung dieser festgesetzten Rolle – die an ein radikales Auftreten, spezifische sprachliche Ausdrücke und ritualisierte Aktionsformen gekoppelt ist – wird im schlimmsten Fall zur identitätsstiftenden politischen Praxis und dreht sich nur noch um sich selbst. Dabei stellt sich die Frage, ob eine emanzipatorische politische Praxis den eigenen politischen Zusammenhang (egal ob Affinitätsgruppe oder grössere Organisation) oder die Bedürfnisse unserer Klasse ins Zentrum stellen sollte. All diese Einwände sind nichts Neues, doch sie sollten immer wieder aufgegriffen werde, solange die Probleme, auf die sie zielen und aufzeigen, bestehen. Denn der selbstreferenzielle Aktivismus ist Symptom einer Selbstisolation im Szenekuchen.

Selbst das, was als Theorie und Analyse begriffen wird, fungiert meist als Legitimationsideologie für die eigene Praxis und Selbstisolation. Während der selbstreferenzielle Aktionismus die Theorie als Legitimierung des eigenen Handelns missbraucht, rechtfertigen die Intellektuellen ihr Nichtstun mit Theoriearbeit. Wer sich nicht in die identitätsstiftende und spektakuläre Welt des Aktivismus stürzt, richtet sich eine kleine intellektuelle Nische ein, in der die Resignation mit einer Zurückweisung jeglicher Praxis einhergeht. Was schliesslich bis zu einer merkwürdigen Nachahmung des so verteufelten Akademismus führen kann. Wenn Intellektuelle um ihrer Intellektualität willen über die verallgemeinerte Misere des Kapitalismus sinnieren, scheinen sie eine radikale und sozial-revolutionäre Perspektive zu verteidigen. Ihre Kritik bleibt indes idealistisch, weil ihr jeglicher praktischer Handlungshorizont abhanden kommt oder gar nie anvisiert wurde.

So schwadronieren Aktivist*innen und Intellektuelle von der sozialen Revolution, als wäre sie ein rein voluntaristischer Akt der selbsternannten Revolutionär*innen. Diese sollen durch Handlungen oder Ideen, den revolutionären Geist der Arbeiter*innenklasse entfachen. Der holländische Rätekommunist Cajo Brendel kritisierte Ende der 1970er Jahre solche Positionen, als er festhielt, dass nicht diejenigen die Gesellschaft revolutionieren, die «nicht müde werden von einer sozialen ‹Revolution› zu reden», sondern jene, «welche bloss ihre materiellen Interessen verteidigen, ohne überhaupt eine Revolution zu beabsichtigen.»

Die Lage des hiesigen linksradikalen und anarchistischen Milieus ist zwar alles andere als vielversprechend.  Aber wir müssen uns fragen: Wann soll es gelingen, die staaten- und klassenlose Gesellschaft international wieder als realistisches Ding der Unmöglichkeit zu positionieren, wenn nicht zu Zeiten, in denen selbst in der befriedeten Schweiz die Klassenwidersprüche in aller Deutlichkeit an die Oberfläche katapultiert werden?

Relativierungen und Ausnahmezustand

Selbstverständlich werden aus der aktuellen chaotischen Lage nicht automatisch emanzipatorische Kämpfe entstehen und die Gefahr, dass autoritäre und nationalistische Positionen noch mehr Aufschwung erhalten, ist gross. Es besteht auch die Möglichkeit, dass viele Leute sich vermehrt mit «Vater Staat» identifizieren, der seine «hilfsbedürftigen Bürger*innen» vor dem Virus und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Einbruch schützt. Passiv zu bleiben wäre aber ein grosser Fehler. Um über revolutionäre Interventionsmöglichkeiten nachzudenken, ist allerdings eine kritische Auseinandersetzung mit fragwürdigen gegenwärtigen Analysen unentbehrlich. Ansonsten leidet darunter auch die emanzipatorische Praxis.  

Ende März dieses Jahres publizierte die Zeitung Le Monde ein Interview mit dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben, dessen Analyse zur Corona-Krise vielen anarchistischen Positionen ähnelt. Der 78-jährige Agamben schien sichtlich überfordert mit der aussergewöhnlichen Lage und hatte nichts Besseres zu tun, als die Pandemie kleinzureden und zu relativieren. Die Medien hätten Angst und Panik geschürt, das ganze Leben drehe sich nur noch um das blanke Überleben. Dies bilde einen perfekten Nährboden für den Autoritarismus im Namen der Gesundheit und der Sicherheit. Agamben ist zuzustimmen, dass die Eindämmungsmassnahmen einen autoritären Charakter haben. Genauso ist es Tatsache, dass Rechtsbeschränkungen schwer rückgängig gemacht werden können, sobald sie einmal implementiert worden sind. Doch die Pandemie als «Medienhysterie» zu bezeichnen und sie zu relativieren, indem sie implizit mit einer normalen Grippewelle verglichen wird und dabei auch noch eine pragmatische Abwägung zwischen bürgerlichen Freiheiten und der Gesundheit zu fordern, bedeutet, zu ignorieren, welche Konsequenzen unzähligen Lohnarbeiter*innen drohten.

Die einseitige Fokussierung auf das Vorgehen des Staates, abgekoppelt von wirtschaftlichen Prozessen, ist vor allem in anarchistischen Kreisen anzutreffen. Auch wenn eine Kritik des Agierens des Staates von enormer Wichtigkeit ist, wird durch eine einseitige Fokussierung auf diesen Aspekt nicht nur eine differenzierte Auseinandersetzung mit der aktuellen Lage vermieden, sondern die Pandemie selbst wird in postmodern anmutender Manier zu einem rein diskursiven Phänomen umdeklariert. Der argentinische Marxist Rolando Astarita fragt in diesem Kontext berechtigterweise: «Wenn alles eine ‹neoliberale Medienhysterie› ist, warum sollte man sich dann mit den materiellen, objektiven Bedingungen befassen, unter denen die Massen leben oder arbeiten und dem Virus ausgesetzt sind?»4

Auch der geforderte Pragmatismus Agambens konzentriert sich in diesem Sinne nur auf das Agieren des Staates, ohne zu beachten, dass im Umkehrschluss eine Zurückhaltung des Staates in Zeiten einer Pandemie einen grossen Teil der proletarisierten Massen dazu gezwungen hätte, die eigene Gesundheit – mehr noch als sonst – auf’s Spiel zu setzen. Arbeiter*innen in verschiedenen Ländern haben diese Gefahr erkannt und die Arbeit verweigert.

Eine Kritik an den staatlichen Massnahmen sollte es vermeiden, ins Fahrwasser der ewigen Apologet*innen des freien Marktes zu geraten, die im Namen der Freiheit ungeniert die Weiterführung der Ausbeutung fordern – egal was die gesundheitlichen Konsequenzen für die Arbeiter*innen sind: Wir sollen uns bis zum Umfallen als doppelt freie Lohnarbeiter*innen verdingen und unsere Gesundheit auf’s Spiel setzen. Das ist das blanke Überleben. Diejenigen hingegen, die vorübergehend von der Arbeit «befreit» sind, müssen um ihre Existenz bangen. Wer Glück hat, für den wird hierzulande Kurzarbeit angemeldet. Aber zwanzig Prozent weniger Lohn, ist für viele nur schwer zu verkraften. Im selben Zug fühlen sich viele, die bei vollem oder magerem Lohnausgleich zu Hause bleiben können, schlichtweg von der Gesellschaft ausgeschlossen, isoliert und überflüssig.

Wissenschaft und Gesundheit

Wie Tristan Leoni und Céline Alkamar in ihrem Artikel «Koste es, was es wolle. Der Virus, der Staat und wir» über die Situation in Frankreich schreiben – wo die staatlichen Massnahmen strenger sind als hierzulande – täten wir falsch daran, das staatliche Vorgehen im Zuge der Pandemie rein repressiv und machtpolitisch zu verstehen. Die gesundheitliche Dimension des ganzen Schlamassels darf nicht ausser Acht gelassen werden. Aus dem medizinischen Bereich wurden bereits vor dem Inkrafttreten der staatlichen Massnahmen in verschiedenen Ländern Stimmen laut, die eine möglichst schnelle und konsequente Einschränkung der wirtschaftlichen Normalität forderten. Aus Angst, den eigenen Wirtschaftsstandort zu gefährden, reagierten jedoch viele Staaten zunächst zögerlich. Das führte ironischerweise dazu, dass kurze Zeit später umso drastischere Massnahmen erforderlich wurden. Doch letzten Endes hatten die Massnahmen einen rationalen Kern: Auch in einer Gesellschaft ohne Staat, in einer vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft, hätte man weitgehend auf Social-Distancing-Massnahmen zurückgreifen müssen, um die Pandemie einzudämmen. Die Massnahmen wären aber dann hoffentlich nicht von oben nach unten angeordnet worden und die physische Distanzierung wäre vermutlich an soziale Solidarität gekoppelt gewesen. Dies sei erwähnt, weil viele in ihrer Ablehnung gegen den Staat eine Anti-Haltung gegen die Eindämmungsmassnahmen einnehmen und das zugrundeliegende gesundheitliche Problem aus den Augen verlieren.

Dann gibt es noch diejenigen Anarchist*innen, die die Wissenschaft verteufeln (PDF) und dementsprechend praktisch alles, was Epidemolog*innen und Virolog*innen sagen, zurückweisen. Ihnen sei nur Folgendes gesagt: Aus meiner Sicht haben anti-wissenschaftliche Positionen zu diesem historischen Zeitpunkt mehr mit Verschwörungstheorien gemein als mit Bakunin. Dieser kritisierte zwar die unhinterfragte Autorität und Machtposition der Wissenschaft, gestand aber trotzdem ein, dass es Leute gibt, die in einem bestimmten Gebiet über mehr Wissen und Erfahrung verfügen als andere. Daraus folgt nicht, dass man sich unüberlegt der Expertise eines anderen zu unterwerfen hat, sondern, dass sich die eigene Position in der Auseinandersetzung mit Argumenten und verschiedenen Positionen entwickeln sollte. Eine Haltung, die davon ausgeht, dass alles, was nach institutionalisierter Autorität riecht, per se falsch ist, kann damit nicht begründet werden.

Aus meiner Sicht gehört also zu einer emanzipatorischen Praxis in Zeiten von Covid-19, die Pandemie nicht kleinzureden, die Verschlechterung der Lebensverhältnisse nicht zu ignorieren, kritisch gegenüber dem Vorgehen des Staates und seinen Institutionen zu bleiben, den Tod von Menschen nicht zu bagatellisieren und die Zwiespältigkeit der Forderung nach individueller Freiheit anzuerkennen – weil diese in der bürgerlichen Gesellschaft an die Freiheit des Marktes gekoppelt ist. Die Rückkehr zur wirtschaftlichen Normalität ist keine Freiheit.

Solidarität ist en vogue

Es käme einer Anmassung gleich, ein starres Konzept zu präsentieren, was aus sozialrevolutionärer Perspektive in diesem Moment zu tun ist. Doch einige der grundlegenden Säulen des Anarchismus in Erinnerung zu rufen ist essenziell: Selbstorganisation, gegenseitige Hilfe, Anti-autoritarismus und Solidarität. Die Frage ist nur, wie können diese Konzepte kombiniert werden, ohne Wohltätigkeitsarbeit nachzuahmen und wie kann daraus eine offensive Stärke entwickelt werden.

Es ist für Sozialrevolutionär*innen natürlich irritierend, zu sehen, wie die kleinen Ansätze von selbstorganisierter Solidarität, die Nachbarschaftshilfen, die Gabenzäune, die Essensausgaben, die Unterstützung für Geflüchtete oder arbeitsrechtliche Beratungen von Basisgruppen bis weit ins bürgerliche Lager hinein auf Sympathie stossen. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, mit unseren Ideen, Praktiken und Analysen versuchen in verschiedenen solidarischen Zusammenhängen zu intervenieren und uns über die Szeneschranken hinaus zu vernetzen. Sobald es die Zustände ermöglichen, ist es selbstverständlich auch wichtig, sich kollektiv den öffentlichen Raum wieder zu nehmen und gegen die sich anbahnende Verschlechterung unserer Lebensverhältnisse zu mobilisieren. Doch auch eine breitere Vernetzung an den Arbeitsplätzen und in den Quartieren dürfte von Bedeutung sein, um die auf uns zurollenden sozialen Angriffe zu bekämpfen.

Wir müssen versuchen, unsere gesellschaftliche Rolle als atomisierte Subjekte aufzuheben und uns über unsere subkulturellen Schranken hinweg zu vernetzten und mit Leuten zu solidarisieren, die nicht zu unserem linksradikalen und anarchistischen Milieu gehören. Natürlich kann es mühsam sein, wieder Grundsatzdiskussionen führen zu müssen, doch um einen antiautoritären, feministischen und antikapitalistischen Pol mittel- bis längerfristig zu etablieren, sollten wir solidarische Beziehungen und Strukturen quer durch die Gesellschaft aufbauen. Das ist nicht zu verwechseln mit dem Aufbau von Massenorganisationen und dem damit verbundenen Zahlenfetisch. Denken wir etwa an die chilenische Revolte, im Zuge derer sich Territorialversammlungen im ganzen Land verbreiteten: In ihnen sind Koordinierungsinstanzen entstanden, durch die unsere Klasse ihre Bedürfnisse artikulieren und die Befriedigung derselben organisieren kann – von der Solidarität im Quartier in Form von Essensverteilung und Voküs bis zur kollektiven Verteidigung gegen Bullenangriffe.

Die kollektive Selbstorganisation ist aus meiner Sicht auch hierzulande essenziell, um aus der aktuellen defensiven Lage herauszufinden. Das entspricht leider oft nicht dem Selbstbild vieler selbsternannter Revolutionär*innen, die Revolution bloss als Aufstand, Strassen-Action, Heldentum und hollywoodeske Inszenierung von Radikalität verstehen, anstatt als einen Prozess, in welchem neue soziale Beziehungen etabliert werden müssen. Dass beispielsweise Basisarbeit in vielen Fällen viel wichtiger ist, als sich selbst beim Farbanschlag zu filmen, kommt einer Banalität gleich. Doch als neoliberale Subjekte sehnen wir uns nur allzu oft eher nach dem Spektakel, als nach der Überwindung der eigenen Atomisierung. Um Missverständnisse zu vermeiden: Das soll nicht heissen, dass ich Militanz ablehne. Die Kritik gilt lediglich einer unreflektierten und selbstreferenziellen Militanz. Einige Anarchist*innen haben das bereits vor mir schön auf den Punkt gebracht: «Das Problem ist, dass jene, die denken, dass sie weiter vorne stehen und radikaler sind als die anderen, dies aus einem bestimmten Grund tun. In diesen Fällen liegt der Grund im Gebrauch von gewissen Instrumenten: diejenigen, die reden, schwatzen bloss, diejenigen, die bewaffnet angreifen, agieren. All diese perfekten bewaffneten Kämpfer haben sich in ihre Instrumente verliebt. Sie lieben sie so sehr, dass die Waffen aufhören, solche zu sein. Sie werden zum Selbstzweck, sie werden zum Daseinsgrund. Sie wählen nicht die für den Zweck am besten geeigneten Mittel, sie verwandeln das Mittel zum Zweck an sich.»

Die Zeiten sind scheisse, aber auch zu scheisse um zu resignieren. Und genau in Zeiten wie diesen sollten wir nicht vergessen, dass die soziale Revolution ein realistisches Ding der Unmöglichkeit ist.

Fotos: Uve Sanchez / Unsplash

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Stoppt die rassistischen Übergriffe im Bässlergut

Wir haben heute Mittag vor dem Nölliturm in Luzern ein Transparent mit der Aufschrift «Stoppt die rassistischen Übergriffe im Bässlergut» aufgehängt.

Wir sind entsetzt über die körperlichen Übergriffe im Basler Asylheim Bässlergut, welche von der Rundschau und der WOZ aufgedeckt wurden und fordern eine unabhängige Untersuchung sowie die Freistellung prügelnder Securitas Mitarbeiter*innen. Ausserdem verlangen wir ein Ende der Lager-Politik und eine dezentrale Unterbringung von geflüchteten Menschen.

Mehr Infos:
https://www.srf.ch/play/tv/sendung/rundschau?id=49863a84-1ab7-4abb-8e69-d8e8bda6c989
https://www.woz.ch/2020/asylpolitik/tatort-besinnungsraum

RESolut.tk

Quelle: http://www.resolut.tk/

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Lancierung Petition: Evakuierung Moira

Am 11. Mai lancierte JUSO Stadt Luzern, zusammen mit Seebrücke Luzern, eine Petition, welche die Luzerner Kantonsregierung auffordert, sich beim Bund u.a. für die sofortige Evakuierung vom Flücht- lingscamp Moria in Griechenland stark zu machen. Gleichzeitig soll Bereitschaft signalisiert werden geflüchtete Menschen, auch im Kanton Luzern aufzunehmen.


In Camp Moria müssen zurzeit über 20’000 Menschen unter unmenschlichen Bedingungen leben. Auf 1’500 Menschen kommt ein Wasserhahn, sanitäre Infrastrukturen sind nur spärlich vorhanden und die Möglichkeit der Einhaltung von Hygienestandards ist unmöglich. Während wir Grosskonzerne retten und Millionenbeträge an Dividenden ausgeschüttet werden, verschlimmert sich die Situation in den Flüchtlingslagern auf Griechenland stetig. Solidarität in Zeiten von Corona wird grossgeschrieben. «Wir sitzen alle im gleichen Boot». Leider nein, wir kämpfen vielleicht gegen denselben Sturm an, aber im selben Boot sitzen wir nicht.

Am 18. Mai 20 wird, in der Sondersession des Kantonsrates, eine dringliche Motion der SP-Kantonsrä- tin Sara Muff behandelt, welche den Bund zum Handeln auffordert. Eine Vertagung oder Ablehnung dieser dringenden Motion erachten wir als äusserst bedenklich!

Die Schweiz verfügt über alle Möglichkeiten, sich daran zu beteiligen, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Wir fordern eine klare Stellungnahme der Kantonsregierung und fordern diese auf, sich beim Bund für die sofortige Evakuierung einzusetzen.

Link zur Petition

Quelle: luzern.juso.ch

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