Das Jahr 2024 wird in die Geschichtsbücher der Bundesrepublik eingehen. Zum ersten Mal seit der Befreiung am 08. Mai 1945 werden Faschist:innen als stärkste Kraft in ein deutsches Parlament einziehen. Und das in gleich drei Bundesländern. Am 01. September stehen in Thüringen und Sachsen, drei Wochen später in Brandenburg Landtagswahlen an. In allen drei Bundesländern wird die AfD zweifelsohne als Siegerin hervorgehen. Diese Wahlabende im Spätsommer werden zur Zäsur. Zum historischen Moment für die neue faschistische Bewegung. Ihnen wird damit etwas gelingen, das für Republikanern, DVU und NPD auch zu ihren stärksten Zeiten in weiter Ferne lag.
Deren Erfolg fällt nicht vom Himmel.
Der Aufstieg von Höcke und Co. ist nur als Facette einer konsequenten Rechtsentwicklung der gesamten politischen Landschaft der BRD zu verstehen. Diese Entwicklung ist eine direkte Reaktion auf die tiefgreifende Krise des Kapitalismus. Um den Status Quo für die Herrschenden zu erhalten werden großflächig soziale Errungenschaften abgebaut, die Reallöhne gedrückt, Klimaschutzvereinbarungen missachtet, der Polizei immer mehr Möglichkeiten zur Gängelung und Überwachung an die Hand gegeben, die Militarisierung der Gesellschaft vorangetrieben und eine nie dagewesene Abschottung gegen Geflüchtete praktiziert. Flankiert und verschleiert wird der Klassenkampf von oben durch immer neue rassistische, antifeministische und chauvinistische Debatten. Kein Tag ohne Hetze gegen Geflüchtete, gegen Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, gegen Errungenschaften der feministischen Bewegung, gegen gesellschaftliche Minderheiten, …
Die AfD fungiert in all dem als Eisbrecher in der Diskursverschiebung nach rechts. Macht das bisher Unsagbare nicht nur diskutierbar, sondern schafft einen Raum, in dem die alten „Volksparteien“ oben genanntes umsetzten können, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Dass ihre Forderungen aber Stück für Stück umgesetzt werden, nimmt ihr nicht etwa den Wind aus den Segeln, sondern verschafft ihren menschenverachtenden Positionen umgekehrt erst breite Legitimität.
Der Aufschwung faschistischer Kräfte in Zeiten der kapitalistischen Krise ist nicht neu. Neu ist aber, dass er heute mit der absoluten Defensive der reformistischen und revolutionären Linken zusammenfällt. Dem Klassenkampf von oben weht nicht einmal ein laues Lüftchen des Widerstandes entgegen. Wir müssen uns gleich eine doppelte Niederlage eingestehen: Weder konnte die linke Bewegung das Spürbarwerden der Krisenfolgen für sich nutzen, noch ist es im letzten Jahrzehnt gelungen, dem absehbaren Aufstieg des rechten Lagers eine adäquate Antwort entgegenzusetzen. Während einige in ritualisierten Protestformen verharrten, wenden sich andere gänzlich vom Kampffeld Antifaschismus ab, das die radikale Linke über mehrere Jahrzehnte geprägt hat. Das Ergebnis ist heute unübersehbar: Die Wahl des ersten AfD-Landrats im Herbst 2023 hat die antifaschistische Bewegung praktisch ohne Reaktion zur Kenntnis genommen.
Schwere Zeiten.
Die Erfolge in Sachsen, Thüringen und Brandenburg werden mehr als ein losgelöstes Ereignis sein. Mit ihnen machen die Rechten einen bedeutenden Schritt vorwärts hin zur völligen Normalisierung. Einen Schritt, dem früher oder später erste AfD-Koalitionen auf Landesebene folgen werden. Und er ist eine Momentaufnahme für die Entwicklung der gesellschaftlichen Realität. In dieser Realität haben die Rechte an vielen Stellen, gerade im Osten der Republik, bereits den vorpolitischen Raum erobert und teilweise auch die Gewalt über die Straße übernommen. Im Fahrwasser der AfD erstarken auch wieder militante und terroristische Faschist:innen, vor allem im Osten etabliert sich wieder eine faschistische Jugendkultur und die staatlichen Repressionsapparate sind von Rechten durchsetzt. Die AfD ist der Kern eines rechten Mosaiks.
Eine Übernahme der Regierungsverantwortung durch die AfD wäre die nächste qualitative Zuspitzung dieser Entwicklung. Andere Länder wie Österreich, Italien oder die USA geben einen Ausblick auf das, was dann auch uns bevor stehen könnte. Auch wenn es in diesen Ländern bisher zu keiner Wiederholung des historischen Faschismus kam, ist es dort in Monaten gelungen, antirassistische und feministische Errungenschaften rückgängig zu machen, für die Jahrzehnte gekämpft werden mussten. Der Kampf zur Eindämmung des Klimawandels würde um Längen zurückgeworfen werden. Und je weiter Sie mit dem autoritären Staatsumbau kommen, desto schwieriger wird es für uns als linke Bewegung wieder aus der Defensive herauszukommen.
Aber auch wenn die AfD es nicht bis in eine Regierung hineinschafft, sind die Folgen für alle, die nicht in das rassistische und sexistische Weltbild der Faschist:innen passen, immens. Faschistische Gewalt wird wieder Normalität, die Bedingungen linke Alternativen aufzubauen oder wenigstens zu erhalten immer schwerer und bei Anschlägen wie München, Halle oder Hanau wird es nicht bleiben.
Wir werden nicht warten, bis es so weit ist.
So sehr der Erfolg der AfD im September 2024 zur Zäsur wird, so sehr muss er Ausgangsbedingung für eine neue antifaschistische Offensive werden. Wann, wenn nicht jetzt, ist der Moment, eine neue antifaschistische Bewegung aufzubauen? Was soll noch passieren? Nutzen wird den Moment, in dem wieder breite Teile der Bevölkerung Bereitschaft zeigen, gegen den Rechtsruck ankämpfen zu wollen. Drehen wir den Spieß um, wagen wir die richtigen Schritte, bevor es zu spät ist.
Dazu ein paar konkrete Überlegungen.
1. In Anbetracht der Stärke und des Zuspruchs, den die AfD mittlerweile erfährt, erfordert unser Kampf mehr als jemals zuvor die ehrliche Zusammenarbeit aller, die es ernst meinen und die bereit sind, mit den politischen und praktischen Konsequenzen, die der Kampf erfordert, zu leben. Auch und gerade über Lager- und Strömungsgrenzen hinweg.
2. Wenn es unsere Analyse ist, dass der Aufstieg von AfD und Co. nicht zufällig mit der mehr und mehr spürbar werdenden Krise zusammenfällt, ist die naheliegende Folgerung, dass ein Aufhalten, bzw. Umkehren des Rechtsrucks nur durch eine bereite antikapitalistische Bewegung geschafft werden kann. Gerade sind es nur die, die dazu aufrufen nach unten zu treten, die die Ängste vor der zunehmenden Krise, Abstieg und Krieg wahrnehmbar aufgreifen. Und solange es dazu keine Alternative schafft, der Krise einen Klassenkampf von unten entgegenzusetzen, nicht nur rhetorisch, sondern praktisch den Menschen eine Perspektive bietet, wird sich der weitere Aufstieg der Rechten nicht verhindern lassen. Der antifaschistische Abwehrkampf muss das mitdenken und einen Teil dazu beitragen, dass solche Bewegungen entstehen können. Er darf nicht bei einer moralischen Kritik am Rassismus und Sexismus der Faschist:innen stehen bleiben, sondern muss auch klar die Zusammenhänge zwischen kapitalistischer Krise, neoliberaler Elendsverwaltung und dem Aufstieg der Rechten benennen. Ein Antifaschismus ohne soziale Frage, ohne Kritik an den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen, ohne die Perspektive einer klassenlosen Gesellschaft, wird in diesen Zeiten zahnlos bleiben.
3. Das sehen aber nicht alle so. Die liberalen und sozialdemokratischen Parteien wollen von den Ursachen des Rechtsruck nichts wissen, müssten sie sich doch damit eingestehen, selbst Teil des Problems und nicht der Lösung zu sein. Ganz zu Schweigen davon, dass sie gerade einige der menschenverachtenden Forderungen der Rechten selbst umsetzen. Entsprechend ist es in ihrem Interesse, die aufkommenden Massenproteste gegen Rechts zu vereinnahmen, in staatstragende Bahnen einzuhegen und weg von tatsächlichem Antifaschismus zu bringen. Es war Anfang des Jahres also ein kalkulierter Kampf um die politische Hegemonie der Massenproteste. Es ist ihnen erschreckend einfach gelungen, diesen zu gewinnen und der Bewegung die Zähne zu ziehen, bevor sie überhaupt in der Lage war, sie zu zeigen. Wir müssen uns bei solchen Proteste zukünftig einmischen und den Kampf um deren Hegemonie aufnehmen. Denn auch wenn wir ihn nicht in Gänze gewinnen können, werden wir darin hoffentlich die Basis für eine neue antifaschistische Bewegung erkämpfen.
4. Wir müssen es schaffen, uns selbst grundsätzliche antifaschistische Prinzipien zu erhalten und sie gleichzeitig in solche großen Proteste hineintragen: Mit Faschist:innen wird nicht diskutiert, Faschist:innen werden bekämpft. Auf allen Ebenen, mit allen Mitteln, die dafür notwendig sind. Hierin mussten wir in den letzten Jahren die wohl direktesten Niederlagen hinnehmen. Aber uns diese Handlungsoptionen zu bewahren, wird in den nächsten Jahren überlebensnotwendig. Mit der Normalisierung der AfD wird auch das Entstehen einer neuen faschistischen Jugendbewegung einhergehen, nicht unwahrscheinlich inklusive einer Wiederholung der Baseballschlägerjahre.
5. So wie die Dinge gerade liegen, werden wir den Kampf gegen die Rechtsentwicklung weder heute noch morgen gewinnen. Dafür werden wir einen langen Atem und viel Durchhaltevermögen brauchen. In allem was wir tun, müssen wir deshalb vor allem für Kontinuität, Organisierung und Ansprechbarkeit sorgen. Nur so bleiben Großevents keine einmaligen Ereignisse, sondern tragen dazu bei, unsere Seite aufzubauen. Und nur so werden wir den Widrigkeiten, die das sich anbahnende „reaktionäre Jahrzehnt“ mit sich bringt, standhalten können. Nichts davon wird einfach. Aber an Gelegenheiten diese Punkte umzusetzen, wird es in naher Zukunft nicht mangeln.
Wir werden …
… nicht tatenlos dabei zusehen, wie das erste Mal im Nachkriegsdeutschland ein Parlament gewählt wird, in dem eine faschistische Partei die größte Fraktion stellt. Dabei machen wir uns keine Illusionen: Bürgerliche Parlamente sind keine antifaschistische Bastion. Sie sind und bleiben Orte, an denen die falschen gesellschaftlichen Verhältnisse zementiert und legitimiert werden. Und auch an der gesellschaftlichen Stimmung, die hinter den Wahlergebnissen steht, können wir kurzfristig nichts ändern. Aber die Landtagswahlen im Herbst können nicht nur zur Zäsur für die Rechten werden, sondern auch noch einmal eine Gelegenheit sein, viele Menschen in konkrete Aktionen gegen Rechts zu bringen.
Wir werden deshalb die Wahlsiege der Faschist:innen im September nicht unwidersprochen hinnehmen. Wir werden den Wahlkampf der AfD und ihre Wahlpartys stören, Proteste gegen das Erstarken der Rechten organisieren und den Faschist:innen im Osten nicht die Straße überlassen. Wir rufen bundesweit alle Antifaschist:innen auf, sich lokal wie überregional an den Protesten gegen die Wahlerfolge der AfD zu beteiligen und diese zu organisieren. Lasst uns damit den Startpunkt für eine neue Bewegung setzen, die mit langem Atem gegen die faschistische Gefahr kämpft. Die Zeit zu handeln ist jetzt.
Geschichte wiederholt sich nicht. Sorgen wir dafür, dass es so bleibt.
Eine gemeinsame Erklärung von:
Antifaschistische Aktion Süd ★ Antifaschistische Basisgruppe [abg] Frankfurt am Main/Offenbach ★ Antifaschistische Vernetzung Leipzig ★ Antifaschistischer Aufbau Köln ★ Autonome Antifa-Koordination Kiel ★ Antifa Westberlin ★ CAT Marburg ★ Gemeinsam Kämpfen – Kommunistische Gruppe Freiburg ★ Kämpfende Jugend ★ North-East Antifascists [NEA] Berlin ★ Perspektive Kommunismus ★ task – antifaschistische Gruppe Kassel ★ Waterkant Antifa Hamburg Im Juni 2024
Heute am 22.6.24 wollte die Junge Tat im Rahmen ihrer rassistischen „Remigrations“-Kampagne eine Veranstaltung im beschaulichen Langenthal durchführen. Nebst den nur wenigen Gästen der Veranstaltung waren jedoch auch wir Antifaschist:innen pünktlich auf dem Platz.
Die erschrocken davonrennenden Neonazis informierten daraufhin ihre Kameraden in der Mühle. Somit wurden wir von einem lächerlich am Fenster im 1. Stock tanzenden Corchia empfangen, während im Veranstaltungsraum die grosse Hektik ausbrach. Da sich die Internethelden nicht aus ihrer Mühle trauten, haben wir uns den Skoda von Corchia vorgenommen. Diese Aktion liess den Kragen vom emotionalen Lingg endgültig platzen und er kam, gefolgt von Roman Wüthrich und Colin Schaffner, wild fuchtelnd und schäumend aus der Mühle gestürmt. Wüthrich versuchte uns Steine schmeissend fernzuhalten, während Lingg, ausser sich vor lauter Gefühlen aufgrund des zerstörten Skodas, zurückgehalten werden musste. Wir liessen uns nicht unnötig von den Faschos provozieren und zogen unseren Plan durch. Denn die Clowns der JT riefen natürlich – wie immer, wenn sie sich mit Antifaschist:innen konfrontiert sehen – sofort die Polizei. Wir liessen die erschrockenen Neonazis im Schutz der Bullen zurück und gingen geschlossen unseres Weges.
Somit fiel die rassistische Veranstaltung nicht nur wegen dem schlechten Wetter ins Wasser, sondern es wurden auch viele Tränen seitens der Neonazis wegen dem brennenden Pfefferspray und Corchias zerstörtem Auto vergossen.
Wir halten fest: Es gibt kein ruhiges Hinterland und Neonazi sein heisst: Probleme kriegen! Und wir wünschen Corchia und Lingg nun viel Spass beim ÖV fahren.
Gelbe Lady rettet im zentralen Mittelmeer. Marie kommt vorbei und erzählt. Gerne über die Einsätze und das Einsatzkonzept, aber auch über Instandhaltung von einem alten Schiff und Betrieb, Kosten, Einnahmen und Herausforderungen.
Es gibt Raum für Fragen und Austausch, zum Beispiel zu: Wie weiter nach der Europawahl? Wie bekommt man Spendengelder, ohne Rassismus zu reproduzieren? Und warum klagt die Mare*Go gegen die AfD?
Dienstag 02. Juli 24, 18:30 Uhr im Neubad Luzern, Bistro
Bald ist es so weit: Der feministische Streik 2024 steht vor der Türe! Verschiedene Arbeitsgruppen (AG Demo, AG Technik, AG Programm, etc.) sind seit Februar 2024 fleissig am Planen und Organisieren. Das Programm und die Details werden laufend erweitert. Die hier aufgeschalteten Programmpunkte sind aber schon fix.
Programm
09.00-10.30 Uhr Brunch beim Inseli
14.00 Uhr Start Vögeligärtli
14.00-15.24 Uhr Offenes Programm mit Beisammensein, Postkarten schreiben, Transpi malen, Kinderprogramm, Infoständen von verschiedenen Organisationen und Parteien, Tombola, u.v.m.
15.24 Uhr Feministischer Feierabend – wir machen gemeinsam Lärm! Bring deine Stimme, Trillerpeife, Kochtöpfe, etc. mit.
15.30-17.30 Uhr Feministische Reden und Konzert von ENL Es gibt eine Offene Bühne! Bring deinen Text mit.
17.30 Uhr Drag Performance von Coochie Waters und Infos zur Demo
18.00 Uhr Start Demo: Beim ersten Glockenschlag der Lukaskirche laufen wir los
Ca. 20.00 Uhr Ende Demo beim Inseli
Bis 22.00 Uhr DJ’s und Ausfeiern beim Inseli
Unsere Forderungen
Das feministische Streikkollektiv orientiert sich an den Forderungen vom letztjährigen Streik, welche an einer Assise im März 2024 von mehreren Streikkollektiven der Schweiz definiert wurden.
In vielen Quartieren Zürichs organisieren sich Mieter:innen gegen Abriss und Verdrängung. Auf die Sozialdemokratie und Genossenschaften können wir uns dabei aber nicht verlassen.
Die Temperaturen lagen nur knapp über dem Gefrierpunkt und es regnete in Strömen. Trotzdem demonstrierten am 4. November 2023 über fünftausend Menschen gegen die Wohnungskrise. Es war der vorläufige Höhepunkt eines stadtpolitisch bewegten Jahres: Bereits im Februar 2023 trugen rund dreitausend Menschen ihre Wut über die Räumung des besetzten Koch-Areals auf die Strasse. Im Zuge der Kampagne «alles wird besetzt» wurden mehrere Häuser besetzt. In vielen Quartieren Zürichs organisieren sich Mieter:innen gegen den Verkauf ihrer Häuser sowie gegen Mieterhöhungen und Kündigungen.
Unsere Krise – ihre Profite
In der Stadt Zürich betrug die Leerwohnungsziffer im Jahr 2023 nur 0.06 Prozent – das sind 144 Wohnungen. Die Mieten stiegen allein im letzten Jahr um sechs Prozent an. Seit 2005 sind sie geradezu explodiert: Bei bestehenden Mietverträgen stiegen sie um 15 Prozent, bei Neumieten sogar um 39 Prozent. Die immens höheren Preise bei den Neumieten betreffen vor allem diejenigen, die sich aufgrund von Sanierungen ihre ehemalige Wohnung nicht mehr leisten können und keine neue Bleibe in der Stadt finden.
Beim Immobilienkapital herrscht derweil Goldgräberstimmung. In der ganzen Stadt wird günstiger Wohnraum teuer saniert oder gleich ganz abgerissen, um aus luxuriösen Appartements und Ersatzneubauten noch mehr Kohle als zuvor rauszuholen. Immobilien gelten als «sichere Wertanlagen» mit Potential zur Wertsteigerung, weshalb Banken, Versicherungen und Pensionskassen gerade in Krisenzeiten ihr Kapital in diesen Sektor pumpen. Institutionelle Anleger kaufen Immobilien und sanieren, was das Zeug hält. So werden die Preise und Mieten nach oben getrieben. Die grösste Immobilien-Besitzerin der Stadt ist die UBS, gefolgt von der Swiss Life. Mit unseren Mieten bezahlen wir deren Dividenden.
Gentrifizierung als Erfolgsmodell der Sozialdemokratie
Auch die linken Parteien – allen voran die SP – haben die Wohnungskrise als Wahlkampfthema entdeckt. Sie prangern die Verhältnisse lautstark an und haben mehrere städtische und kantonale Initiativen lanciert. Dabei wird die Stadt Zürich seit dreissig Jahren von einer links-grünen Mehrheit regiert. Diese geht nicht gegen die Gentrifizierung vor – ganz im Gegenteil, sie ist ihr Erfolgsmodell.
In den 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre befand sich die Stadt Zürich in der Krise. Zwischen 1998 und 2002 gingen 40’000 Arbeitsplätze verloren. Wer es sich leisten konnte, zog in die Agglomeration. Zurück blieb eine sogenannte «A-Stadt», bewohnt von Armen, Alten, Arbeitslosen und Ausländer:innen. Für die Bewohner:innen bedeutete das aber auch günstige Mieten und viel Platz: In dieser Zeit begann auch die Hochphase der Hausbesetzer:innen-Bewegung.
Die rot-grüne Stadtregierung tat einiges um Zürich wieder hip zu machen. Sie zog Dienstleistungsunternehmen – insbesondere im Finanz- und IT-Bereich – an, welche die abgewanderte Industrie ersetzten. Bekanntes Beispiel hierfür ist der Technopark in Zürich-West. Auch als Standort für Bildung und Gesundheitsdienstleistungen gewann die Stadt an Bedeutung. Dank der entstandenen Arbeitsplätze zogen wieder mehr gutverdienende Menschen nach Zürich.
Die Armen wurden dagegen aus dem Stadtbild vertrieben: Öffentliche Plätze wurden umgestaltet, Kameraüberwachung ausgebaut und immer mehr Sozialarbeiter:innen und Polizei auf Drogenabhängige, Prostituierte, Obdachlose und Bettler:innen losgelassen. Die offene Drogenszene rund um den Letten wurde geschlossen. Dort, im Kreis 5, stiegen die Immobilienpreise in den letzten 15 Jahren am Stärksten.
Die SP und die Grünen betreiben ihre erfolgreiche Standortpolitik bis heute. Standortpolitik heisst, finanzkräftige Unternehmen und Bewohner:innen anzuziehen. Das zeigt sich sehr gut am Beispiel Google. Die Wirtschaftsförderung von Stadt und Kanton Zürich haben einen sehr hohen Aufwand betrieben, damit sich der US-Konzern hier ansiedelt. Sie lockten mit Steuervergünstigungen und besonders einfachem Zugang in administrativen Fragen – etwa bezüglich Arbeitsvisa. In der Stadtverwaltung wurde dazu eigens ein «Google-Desk» eingerichtet. Während auf Geflüchtete nur Bunker, Behördenwillkür und Bullenkontrollen warten, wird für die Förderung des Wirtschaftsstandorts gerne ein bisschen an der Visa-Vergabepraxis geschraubt.
Mit Google kamen auch tausende von gutverdienenden Expats nach Zürich, welche die Nachfrage nach teuren Wohnungen und Business-Appartements in die Höhe trieben. Für die Stadtregierung ist das eine gute Sache, es winken Einkommenssteuern und Immobilienboom. Den Preis bezahlen aber all die Mieter:innen, deren Wohnungen nun luxussaniert werden.
Sind Genossenschaften unsere Genossinnen?
Die Verdrängung betrifft je länger desto mehr nicht mehr nur ärmere Menschen, zunehmend auch das mittelständische sozialdemokratische und grüne Milieu. Der Widerstand gegen die Gentrifizierung wird immer breiter, darum müssen sich die SP und die Grünen etwas einfallen lassen. Sie setzen in ihrer Politik insbesondere auf den genossenschaftlichen Wohnungsbau. Dessen Anteil ist in Zürich relativ hoch und soll noch weiter steigen. Die städtische Sozialdemokratie und die Genossenschaften sind eng miteinander verbunden – ein Erbe aus einer Zeit, in der die SP noch in der Arbeiter:innen-Bewegung verankert war.
Doch die Genossenschaften mischen in der Wohnungskrise ordentlich mit. Das zeigt sich etwa in Schwamendingen. In diesem Quartier am Zürcher Stadtrand wurde in der Nachkriegszeit viel Wohnraum für die Arbeiter:innen gebaut, die in den Fabriken in Oerlikon schufteten. Diese Häuser sind heute in die Jahre gekommen, aber die Mieten sind günstig. Viele arme Leute, Migrant:innen, ältere Menschen und Familien leben hier. Die Stadt behauptet gerne, dass Gentrifizierung in Schwamendingen kein Problem sei, da viele Siedlungen Genossenschaften gehören. Doch die Realität vor Ort ist eine andere: Ganze Häuserzeilen werden leergekündigt und abgerissen. An ihrer Stelle entstehen Ersatzneubauten, die sich die jetzigen Bewohner:innen niemals leisten können. Viele wissen nicht wohin. Die Genossenschaften schreiben sich auf die Fahnen, «nachhaltig», «sozial» und «ökologisch» zu sein. Aber sie schmeissen ihre Mieter:innen raus und bieten ihnen keine anderen Wohnungen.
Wie in verschiedenen anderen Stadtteilen wehren sich die Menschen auch in Schwamendingen gegen diese Entwicklungen und organisieren sich – etwa im Mietenplenum. Im April nahmen über hundert Personen an einer Kundgebung auf dem Schwamendingerplatz teil. Es kursierten verschiedene Ideen, was gegen steigende Mieten und Wohnungsnot unternommen werden kann: Gegenseitige Unterstützung bei der Wohnungssuche, symbolische Massenbewerbungen oder Petitionen an die Politik. Da und dort war auch zu hören, dass man die Immobilienkonzerne doch einfach enteignen und leerstehende Häuser besetzen sollte.
Widerständige Quartiere schaffen
Die selbstständige Aneignung von Wohnraum – also das Besetzen von Häusern – ist ohnehin eines der besten Mittel gegen Wohnungsnot. Doch gerade in letzter Zeit verschärft die Stadt ihre Räumungspraxis und betreibt einen grossen Aufwand, um Hausbesetzungen zu verhindern. Auch hier sieht man, auf welcher Seite die SP und die Grünen stehen.
Andere Formen des Widerstands, die in Zürich noch nicht erprobt wurden, sind Mietstreiks. Dabei entschliessen sich die Mieter:innen, die Mieten ganz oder teilweise nicht zu bezahlen. In den 1970erJahren wurde in Italien die Praxis der «autoriduzione» angewandt, bei der die Nebenkosten quasi selbstständig gesenkt wurden. In einigen europäischen Städten gibt es zudem Bündnisse, die versuchen, Zwangsräumungen zu verhindern. Meist finden solche Zwangsräumungen lautlos statt. Sie öffentlich zu machen und die Nachbarschaft dagegen zu mobilisieren, macht sie sichtbar und erzeugt Solidarität im Quartier.
Aus den Erfahrungen der vielen Initiativen und Kämpfe, die momentan in Zürich stattfinden, kann die Bewegung wichtige Erkenntnisse ziehen. Der Widerstand gegen die Wohnungskrise wird sich weiter zuspitzen und die Kämpfe werden intensiver werden. Wir wollen dabei immer die Selbstorganisierung der Proletarisierten ins Zentrum stellen. Denn damit sich irgendwas grundlegend ändert, muss sich die Bewegung zu einer Klassenbewegung ausweiten.
Die Gentrifizierung ist ein Angriff des Kapitals auf die proletarische Bevölkerung. Wir dürfen aber nicht vergessen: Die Wohnkrise steht nicht für sich alleine. Sie ist ein Ausdruck des krisenhaften Kapitalismus. Die Wohnungskrise ist Teil der Krise der sozialen Reproduktion. Die steigenden Mieten gehen mit steigenden Preisen für Lebensmittel, höheren Energiekosten und teureren Krankenkassenprämien einher. Dazu kommen die Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Immer mehr von uns haben Schwierigkeiten, ihr Leben zu bestreiten.
Die Kämpfe gegen steigende Mieten gehören also zusammen mit den Kämpfen um höhere Löhne, für bezahlbare Lebenshaltungskosten, für den Zugang zu sozialer und medizinischer Versorgung, für körperliche Selbstbestimmung, Bewegungsfreiheit und Bleiberecht für alle. Es liegt auf der Hand, dass wir uns nicht auf die Versprechen der Politik verlassen, mag sie noch so sozial und grün daherkommen. Vielmehr müssen wir in allen Bereichen des Lebens auf unsere eigenen Kräfte setzen. Auf ihre Wohnungskrise antworten wir mit unserer Klassensolidarität und kollektivem Widerstand!
Demo: Eine andere Stadt ist möglich!, 25.05.2024, 14 Uhr, Landesmuseum Zürich
Am 1. Mai demonstrierte die schwedische syndikalistische Gewerkschaft SAC unabhängig von den sozialdemokratischen und linken Parteien im Zentrum Stockholms.
Stockholm. Der Auftaktort der syndikalistischen Demonstration zum 1. Mai in Stockholm bot einen für linksradikale Veranstaltungen ungewöhnlichen Anblick: Die Rednerinnen standen in einer mit schwarz-roten Fahnen geschmückten Betonkanzel. Diese war von der sozialdemokratischen Stadtregierung gebaut worden, damit der tiefer gelegene Vorplatz des Hauptbahnhofs zwischen Einkaufsstraße und der verkehrsberuhigten sechsspurigen Hauptstraße, die fast nur noch von Straßenbahnen, Radfahrern und Lieferfahrzeugen befahren wird, besser für Demonstrationen genutzt werden kann.
Aufgerufen zur Demo hatte die Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC), die 1910 von Arbeitern gegründet worden war, die mit der Politik des Gewerkschaftsbunds unzufriedenen waren. Die SAC »ist eine der ganz wenigen Anfang des 20. Jahrhunderts gegründeten syndikalistischen Gewerkschaften, die kontinuierlich bis heute arbeiten«, ohne Verbote oder Spaltungen, sagte SAC-Generalsekretär Gabriel Kuhn 2023 der deutschen Zeitung Analyse & Kritik.
Die Forderung einer Verkürzung der täglichen Lohnarbeitszeit mit der Begründung, dass die Produktivität seit Jahrzehnten immer weiter steige, stößt in Nordeuropa bei vielen auf Interesse.
Die 1.-Mai-Demonstration hat eine 100jährige Tradition. »Wir haben Demo-Fahnen von 1920«, erzählt SAC-Aktivist Elvin der Jungle World. Er verdient seinen Lebensunterhalt als Sicherheitsmitarbeiter in der Stockholmer U-Bahn. Dem Demonstrationszug schlossen sich ungefähr 2.000 Menschen an, die gesittet nur auf einer Fahrbahn liefen und den entgegenkommenden Verkehr nicht behinderten. Einer kleinen Gruppe am Rand stehender rechter Gegendemonstranten, die Unterschriften sammelten für einen Austritt Schwedens aus der EU und Schilder mit Aufschriften wie »Sozialismus = böse« in Richtung der Syndikalisten schwenkten, schenkten die Demoteilnehmer wenig Beachtung. Thematisch war der Gaza-Krieg insgesamt weniger präsent als erwartet und bis auf wenige Ausnahmen hielten sich die Demonstranten an das von der SAC aufgelegte Nationalfahnenverbot.
Der Zug wurde von SAC-Aktivisten mit Bauarbeiterhelmen angeführt. Elvin berichtet, dass seine Organisation derzeit stark durch die Solidariska Byggare (Solidarische Bauarbeiter) und die neu gegründete Reinigungsgewerkschaft innerhalb der Stockholmer SAC wächst. Die Organisation stecke Ressourcen in Dolmetscher und die Organisation von migrantischen Arbeitern, für die sich die sozialdemokratischen Gewerkschaften nicht sonderlich interessierten. Deshalb sei 2023 das Bausyndikat in Stockholm von 389 auf 722 Mitglieder angewachsen. Das liege vor allem an Blockaden und Besuchen von »kriminellen Baufirmen«, die ihre Arbeiter nicht bezahlten.
Deren juristischen Kampf um vorenthaltene Löhne unterstützt die SAC – so wie bei der Putzkraft Chilo. Sie arbeitete für ein Subunternehmen einer Putzfirma als Reinigungskraft im Haushalt der ehemaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson. Chilo wurde von der Polizei festgenommen, weil sie keine Aufenthaltserlaubnis hatte, nachdem sie in Anderssons Haus versehentlich einen Alarm ausgelöst hatte. Vor kurzem erstritt Chilo vor Gericht, vertreten durch die Stockholmer SAC, den Anspruch auf ihren Lohn.
In der Debatte darüber in den schwedischen Medien sei es eher um ein »Sicherheitsrisiko« für Andersson gegangen, das mit einem unkontrollierten Subunternehmertum und einer »illegalen« Migrantin im Haus einhergehe, als um den Skandal, dass das Subunternehmen illegalisierte Arbeitskräfte ausbeutete und als Reinigungshilfen anbot, so Elvin. Nur die Stockholmer Syndikalisten zeigten Interesse daran, Chilo gegen ihren Arbeitgeber zu vertreten.
Der traditionelle 1.-Mai-Marsch der sozialistischen Vänsterpartiet mobilisierte über 20.000 Demonstrant:innen
Kaum ein Steinwurf entfernt vom Endpunkt der syndikalistischen Demonstration am Stortorget in der Altstadt lief der traditionelle 1.-Mai-Marsch der sozialistischen Vänsterpartiet (Linkspartei). Sie konnte in Stockholm über 20.000 Demonstrant:innen mobilisieren, die sozialdemokratische Sveriges socialdemokratiska arbetareparti (SAP) 6.000 Menschen. Beide Parteien gewinnen derzeit in Umfragen an Zustimmung und profitieren davon, dass die Politik der schwedischen Mitte-rechts-Regierung unter Ministerpräsident Ulf Kristersson (Moderata samlingspartiet; Moderate Sammlungspartei) teils unbeliebt ist. Kristersson führt eine Minderheitsregierung, die von den rechtspopulistischen Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten) toleriert wird.
Die Vänsterpartiet hatte einen Nato-Beitritt kategorisch abgelehnt. 2021 hatte sie zudem ein Misstrauensvotum gegen den damaligen Ministerpräsidenten Stefan Löfven unterstützt, das von den Schwedendemokraten initiiert worden war, nachdem Löfvens sozialdemokratisch-grüne Minderheitsregierung eine Liberalisierung ihrer Mietmarktpolitik angekündigt hatte. Sowohl bei der Demonstration der Vänsterpartiet als auch bei den Syndikalisten der SAC konnte man die Parole hören: »Vi vill ha sex timmars arbetsdag!« (Wir wollen den Sechs-Arbeitsstunden-Tag!)
Die Forderung einer Verkürzung der täglichen Lohnarbeitszeit mit der Begründung, dass die Produktivität seit Jahrzehnten immer weiter steige, stößt in Nordeuropa bei vielen auf Interesse. In Schweden werden bereits seit 2015 stellenweise Sechsstundentage ohne Lohnkürzung erprobt, in Dänemark und Norwegen in einzelnen Gemeinden eine Viertagewoche mit 35 Stunden. Den umfangreichen Protesttag beendete eine kleine Demo der Stockholmer Anarchisten von rund 200 Personen. Dort galt offenbar kein Nationalfahnenverbot, denn den Demozug führte eine Palästina-Fahne als Fronttransparent.
Die Proteste an mehr als 30 US-amerikanischen Universitäten dauern an, und die gewalttätige Repression von seiten der Polizei nimmt zu. Hunderte von propalästinensischen Demonstrierenden wurden auch diese Woche verhaftet. Landesweit sollen Schätzungen von US-Medien zufolge mehr als 1.700 Personen festgenommen worden sein.
Die Forderungen der Studierenden richten sich in erster Linie an ihre Universitätsleitungen: Akademische Einrichtungen sollen ihre Geschäftsbeziehungen mit Israel und Unternehmen aufgeben, die mit dem Krieg des israelischen Militärs im Gazastreifen in Verbindung stehen. Ein Protest an der Brown Universität im US-Bundesstaat Rhode Island zeigte bereits Erfolge. Dort räumten Studenten ihr Protestcamp bereits am Dienstag nachdem die Unileitung erklärt hatte im Oktober über den Abzug der Investitionen abstimmen zu lassen. »Als Fakultätsmitglied, dem die Meinungsfreiheit am Herzen liegt«, erklärte Sarah Phillips, Professorin für Anthropologie an der Indiana State University am Mittwoch gegenüber National Public Radio, bevor sie am Wochenende auf dem Campus verhaftet wurde, »sehe ich es als meine Pflicht an, meine Stimme zu erheben«.
Am Mittwoch abend versammelten sich Hunderte von Polizeibeamten in Einsatzkleidung auf dem Campus der University of California in Los Angeles (UCLA), um das Protestcamp zu räumen, das in der Nacht zuvor von Unterstützern der israelischen Regierung angegriffen worden war. Die chaotischen Szenen ereigneten sich nur Stunden nachdem die New Yorker Polizei am Dienstag abend in ein von Kriegsgegnern besetztes Gebäude an der Columbia University eingedrungen war und über 300 Demonstranten verhaftet hatte. Um drei Uhr morgens begann die Polizei mit einem gewaltigen Aufgebot unter Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen zunächst die mit Holz verstärkten Barrikaden und schließlich das gesamte Camp zu räumen. Bis zum Morgengrauen sollen laut Polizeiangaben mehr als 130 Demonstranten festgenommen worden sein.
Zwei »weltweit führende Holocaustforscher« mit israelischer Staatsbürgerschaft, Raz Segal und Omer Bartov, hatten sich am vergangenen Freitag am Protestcamp der University of Pennsylvania getroffen. Bartov erklärte danach gegenüber dem US-Medium Democracy Now, »es gab keinerlei Anzeichen von Gewalt oder Antisemitismus« und warnte davor, dass der Vorwurf des Antisemitismus dazu benutzt werde, um israelkritische Stimmen zum Schweigen zu bringen.
In Washington hat das US-Repräsentantenhaus am Mittwoch ein Gesetz zur »Sensibilisierung für Antisemitismus« verabschiedet. Sollte der Senat in den kommenden Tagen zustimmen, wird die Definition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) zum »Orientierungspunkt« für das Bildungsministerium. Antisemitismus ist demnach »eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen«. Dass es den Protestierenden vornehmlich um ein Ende des Krieges in Nahost geht, der von der US-Regierung massiv mitgetragen wird, scheinen die hohen politischen Kreise bislang zu ignorieren.
Nichts bleibt, wie es ist, und die alte Ordnung bröckelt. Der kriselnde Kapitalismus treibt alle vor sich her. Die Dominanz des westlichen Imperialismus wird immer stärker durch sich verändernde und neue Machtblöcke in Frage gestellt – mit allen ökonomischen und kriegerischen Eskalationsgefahren. Auch das bürgerlich-demokratische Herrschaftssystem hierzulande sieht sich mit einer Repräsentationskrise konfrontiert. Die Herrschenden arrangieren sich mit autoritäreren Lösungen zur Sicherung ihrer Profite. Und eigentlich wissen alle, dass die kapitalistische Jagd nach Kapitalverwertung die natürlichen Grundlagen des Überlebens der Menschheit untergräbt.
Der Kapitalismus hat keine Perspektive mehr. Um so wichtiger ist es für die Herrschenden, den Ausgebeuteten und Unterdrückten einzureden, dass es keine Alternative gäbe. Dabei ist es eben der Untergang ihrer Ordnung, die unsere Perspektive ist. Dass eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus möglich ist, dass die Wurzeln einer neuen Gesellschaft schon heute in den Kämpfen gegen oben und in der Solidarität untereinander liegt, wird weltweit am 1. Mai sichtbar.
Alle reden über die Kontakte der Jungen SVP-Strategiechefin Sarah Regez zur Jungen Tat. Doch sie ist nicht die einzige Politikerin, die mit den Mitgliedern der rechtsextremen Gruppierung die Hände schüttelt. Wer das alles ist und warum das ein Problem darstellt, wird im Folgenden aufgezeigt.
Remigration – Kampfbegriff der Neuen Rechten
Der Begriff „Remigration“ kam in den Diskussionen der Neuen Rechten in den 1960er-Jahren auf, wurde aber erst Anfang der Nullerjahre mit dem Erstarken der Identitären Bewegung in Frankreich zum Kampfbegriff von Neonazis und Rechtspopulist*innen. Im Kern ist es die Forderung nach der Abschiebung aller „nicht europäischen“ Menschen aus Europa.
Mit „Remigration“ sind drei weitere wichtige Konzepte der Neuen Rechten verbunden.
Erstens ein neuer Kulturbegriff: Kultur wird zum entscheidenden Identifikationsmerkmal einer Gruppe. Sprach man im Nationalsozialismus von „Blut und Boden“, sprechen Rechtsextreme heute von „Kultur“. Genau wie Blut, kann ein Mensch seine Kultur laut deren Ideologie nicht verändern. Nichteuropäische Menschen können sich somit nie integrieren oder assimilieren, sie bleiben „artfremd“.
Zweitens wird Migration nicht als ein historisches Kontinuum begriffen, sondern als ein gesteuerter Prozess, der das Ziel hat, die europäische Bevölkerung „auszutauschen“. Somit sei Migration ein Angriff auf die europäische Kultur, den es zu parieren gilt. Da es keine Integration oder Assimilation gebe, müssten alle „artfremden“ Menschen aus Europa deportiert werden.
Drittens seien demokratische Strukturen das Einfallstor in unsere Gesellschaft. Durch die Integration von Migrant*innen erhalten diese politische Rechte. Laut Martin Sellner, Vordenker der Identitären, eine „demokratische Biowaffe“. Da Nicht-Europäer*innen grundsätzlich anders seien, würden sie die europäische Gesellschaft von innen zerstören.
Die neurechte Erzählung knüpft direkt an den Narrativen der Nazis an – nur mit anderen Begriffen. Sprachen die Nazis von „den Deutschen“, sind es heute „weisse Europäer“. Wollten die Nazis 1940 alle Juden nach Madagaskar umsiedeln, sollen heute „artfremde“ Menschen nach Zentralafrika ausgeschafft werden. Waren für die Nazis das „Weltjudentum“ die Hintermänner, sind es heute die „Globalisten“.
Junge Tat und rechte Identität
Gestartet als Eisenjugend Schweiz , bekannt geworden mit Videos vermummter Männern und berüchtigt durch vorgelesene Texte von Heinrich Himmler legte die Junge Tat einen bemerkenswerten Aufstieg hin. Aus einer losen Gruppe junger verschüpfter Männer bildete sich eine Kerngruppe rund um Manuel Corchia, die sich medial zu inszenieren weiss. Eloquent behaupten sie heute, nichts gegen jüdische Menschen zu haben und friedliche Aktivist*innen zu sein. Sie pflegen gute Kontakte zu etablierten politischen Akteur*innen. Vor knapp drei Jahren verbrannten die Führungspersonen noch Isrealfahnen, störten Vorträge mit „Heil Hitler“-Rufen und lamentierten gegen das „bolschewistische Weltjudentum“. Man ging mit italienischen Rechtsterrorist*innen wandern, teilte das Manifest des Christchurch Attentäters und hortete zu Hause Schusswaffen.
Heute finden die Aktionen der Jungen Tat im sogenannten „politischen Vorfeld“ statt. Mit Aktionen auf der Strasse und immer mehr Präsenz in Sozialen Medien werden gezielt die aktuellen Themen und Debatten der Rechtspopulist*innen aufgegriffen und befeuert.
Ihre Veranstaltungen, Boxtrainings und Wanderungen haben politisch keine Relevanz und sind nur mässig besucht. Es geht viel mehr um die eigene Identität als männliche, wehrhafte und unangepasste Kämpfer. Diese Identität ist anschlussfähig an die politische Kultur der Rechtspopulist*innen. Die gemeinsame Identität ist Grundlage für ein kameradschaftliches Miteinander und somit das Fundament für einen europäischen Kulturkampf.
Junge Tat und die Junge SVP – One Love?
Die medial inszenierten Diskurse der Jungen Tat finden Resonanz bei der Jungen SVP und der SVP – allen voran Gender, Wokeness und Remigration. Der Begriff der „Remigration“ hätte es wohl auch ohne die Junge Tat in den Sprachgebrauch der SVP geschafft. Zu vernetzt ist die europäische Rechte, zu stark der Einfluss neurechter Theorien auf die SVP. Doch die Junge Tat hat diesen Prozess beschleunigt und den Begriff in einen medialen Hype verwandelt.
In ihrem Podcast, sowie in Gesprächen mit anderen Rechten erklärt die Junge Tat die Strategie, mit der sie das Konzept der „Remigration“ in die Gesellschaft tragen will: Über Lokalpolitiker*innen, insbesondere der SVP. Diverse Politiker*innen seien bereits daran, den Begriff in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen und bald werde das Konzept breiter diskutiert werden, so ihr Plan.
Ein solcher Lokalpolitiker ist Jonas Streule, Präsident der SVP Eggersriet. Er ist befreundet mit Tobias Lingg, einem der Anführer der Jungen Tat, und besucht mit diesem Veranstaltungen. Beispielsweise eine Demonstration der Corona-Massnahmengegner*innen im Herbst 2023 in Sissach. [Foto1] Auf Fotos zeigt Streule stolz das „White Power“-Zeichen.
Oder Maria Weggelin. Auch sie ist aktiv bei den Massnahmengegner*innen und musste wegen ihrer engen Kontakten zur Jungen Tat schliesslich von ihrem Amt als Präsidentin der SVP Winterthur zurücktreten. Warum bei ihr der Rücktritt gefordert wurde, während Streule, der dieselben Verbindungen pflegt, sein Amt weiterhin ausführt und im März 2024 für die SVP kandidieren durfte, bleibt unklar.
Joel Kaufmann, damaliger Präsident der SVP Buchs und Vizepräsident der Jungen SVP St. Gallen, ist ein anderes Beispiel. Kaufmann war aktives Mitglied der Jungen Tat und an zahlreichen Aktionen mit dabei. Als Aktivist stand er für die Rechtsextremen auf der Strasse, gleichzeitig gründete er auf politischer Ebene zusammen mit dem SVP-Nationalrat Mike Egger den „Verein für sichere Grenzen“. So konnte auch hier das Narrativ der Jungen Tat platziert werden.
Carla Anaba Olinga-Holtz, SVP Dietikon, ist eine weitere SVP-Verbindung, die freundschaftlichen Kontakt zu Mitgliedern der Jungen Tat pflegt. Sie befindet erst am Anfang ihrer Politisierung und steht beispielhaft für den Einfluss der Jungen Tat auf Jugendliche.
Die Strategie mit den Lokalpolitiker*innen ging zumindest im Falle Sarah Regez (fast) auf: Sie dürfte die Aktivist*innen der Jungen Tat ebenfalls aus dem Massnahmengegner*innen-Kontext kennen – damals als noch unbedeutende SVP-Politikerin aus Sissach. Im Frühling 2023 nahm sie an einem Geheimtreffen mit der Jungen Tat teil. Eingeladen waren auch der Neonazi Martin Sellner und der Schweizer Rechtsextremist aus dem identitären Umfeld, Stefan Thöny. Nur ein halbes Jahr später verpasste Regez knapp die Wahl in den Nationalrat, wurde Strategiechefin der Jungen SVP und hat damit bis heute eine riesige Plattform, über die sie das Konzept der «Remigraton» in die Gesellschaft transportieren kann.
Doch auch mit David Trachsel, bisheriger Parteipräsident der Jungen SVP, hat die Junge Tat einen Politiker, welcher ihre Inhalte weiterverbreitet: Trachsel posierte schon 2021 auf einem Bild mit dem damaligen Junge Tat-Mitglied Maksym Barda. [Foto2] Und auch Trachsel nahm in den letzten Jahren das Narrativ der Jungen Tat auf und verbreitete es in der Politik.
Eine äquivalente Organisation zur Jungen Tat, welche den Sprung in die etabilerte Politik bereits geschafft hat, ist die rechtsextreme Gruppierung Némésis aus der Romandie. Diese pflegt zahlreiche Verbindungen mit rechtsextremen und neonazistischen Strukturen wie der Jungen Tat, Militants Suisses, Résistance Helvétique oder La Hallebarde. Die Pressespecherin und eine der führenden Köpfe von Némésis ist Léa Sauchay, welche im Sekretariat der SVP Neuenburg arbeitet.
Im September 2023 posierten der SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor und der damalige SVP-Parteipräsident Marco Chiesa zusammen mit drei Mitgliedern von Némésis auf einem Foto. Jean-Luc Addor hat die Gruppe ins Bundeshaus eingeladen. Addor ist selbst kein unbeschriebenes Blatt: Er wurde wegen Rassendiskriminierung verurteilt. Nach einer Schiesserei in einer Moschee mit einem Todesopfer postete er: „Wir bitten um mehr!“. Trotz seiner Gesinnung, schaffte er es in der SVP bis ins Bundeshaus und lädt nun munter Rechtsextreme zu sich ins Parlament nach Bern ein.
Die Strategie der Jungen Tat, ihre Inhalte über Politiker*innen in den öffentlichen Diskurs einzubringen, scheint zumindest teilweise aufzugehen. Geholfen hat ihnen sicherlich die Corona-Pandemie: Zahlreiche Kontakte zwischen Politiker*innen und Rechtsextremist*innen entstanden an Events der Massnahmengegner*innen.
Die Junge Tat hat diese Strategie aber nicht erfunden. Die Identitäre Bewegung, welche insbesondere in Österreich, Frankreich, Italien und Deutschland erfolgreich ist, versucht dies schon länger. An Schulungen, welche auch von Exponent*innen der Jungen Tat besucht werden, wird diese Vorgehensweise gelehrt und professionalisiert. Auch Martin Sellner, Kopf der Identitären Bewegung, propagiert diese Strategie.
In der Schweiz pflegt insbesondere Olivier Chanson, Aktuar in der SVP Urdorf, mit langer SVP-Karriere und immer wieder auf Wahl-Listen der SVP, engen Kontakt zum identitären Umfeld. Ein Freund von Chanson ist Stefan Thöny, Aktivist bei der Identären Bewegung und eng vernetzt mit diversen rechtsextremen Strukturen in Deutschland, Österreich und der Schweiz – auch mit der Jungen Tat. Chanson benutzt denn auch das Wort «Remigration» schon länger. Er warnt eindringlich vor dem „Bevölkerungsaustausch“ und ist auch im Massnahmengegner*innen-Umfeld gut vernetzt.
Die SVP und die Junge Tat beeinflussen einander und profitieren aktuell voneinander – sie pushen sich geradzu. In der Konsequenz hat sich die Junge SVP bereits unter David Trachsel deutlich nach rechts bewegt. An deren Spitze steht seit März 2024 das Duo Niels Fiechter und Sarah Regez.
Fiechter ist ein verurteilter Rassist und beschreibt das Verhältnis zur Jungen Tat gegenüber SRF wie folgt: „Es wäre verfehlt, wenn wir uns als Partei einfach pauschal von irgendwelchen Positionen, Begrifflichkeiten oder Personen distanzieren würden. Wir sprechen Grundsätzlich mit allen Leuten. […] Wir haben keine Scheuklappen“1. Dabei will er wohl vor allem seine Strategiechefin Sarah Regez in Schutz nehmen, mit der er auch liiert ist. Doch auch viele andere SVP-Politiker*innen blasen ins selbe Horn. Allen voran Ramon Hug, Präsident der Jungen SVP Aargau,meint in internen Chats: „Wir müssen ehrlich sein und anerkennen, dass die Junge Tat inhaltlich die exakt gleichen Inhalte anspricht wie wir“2. Nach dem letzten (unterbundenen) Auftritt von Martin Sellner in der Schweiz überboten sich auf X und Instagram Exponent*innen der Jungen SVP mit Solidaritätsbekundungen. Allen voran wieder Ramon Hug.
Sind diese Positionen für eine Junge SVP neu? Was ist anders? Bereits in den späten Nuller-Jahren geisterte das Bild eines Indigenen mit dem Spruch „Sie konnten die Einwanderung nicht stoppen, heute leben sie in Reservaten“ durch die Schweizer rechtsaussen Szene. Das damals von der PNOS und den Schweizer Demokraten bemühte Bild bringt die Angst vor dem „Grossen Austausch“ auf den Punkt. Die Junge SVP fordert seit Jahren drakonische Massnahmen gegen sogenannte „kriminelle Ausländer“. Neu ist nur die Streichung des Wortes „kriminell“. Zusammenfassen lässt sich die Haltung als „Ausländer raus und zwar alle!“.
Im Zuge der Diskussion um neue Klassenpolitik und mit dem Ziel, die Verankerung in der Klasse zu verstärken, orientieren sich momentan viele Linke an Basisarbeit und autonomer Organisierung. Alle diese Projekte, Netzwerke und Organisationen müssen sich früher oder später mit dem stets wiederkehrenden Spannungsverhältnis zwischen Selbstorganisation und der Integration in den Sozialstaat auseinandersetzen. Unser Autor hat im Sozialarchivgestöbert, um die Erfahrungen der schweizweiten Arbeitslosenkomitees der Krisenzeiten der 1970er- und 1990er-Jahre nachzuzeichnen.
Um Arbeitslose bei ihrem Gang durch den bürokratischen Dschungel des Sozialstaats zu unterstützen, gibt es heute in der ganzen Schweiz verschiedene Hilfsangebote. Praktisch alle sind institutionalisiert und professionalisiert, meistens werden sie vom Staat oder religiösen Organisationen subventioniert und sind auf Spenden angewiesen. Doch das war nicht immer so. Die Selbstorganisation der Arbeitslosen bewegte sich in den 1970er und den 1980er Jahren ausserhalb des professionellen Rahmens, bevor es vor allem in den 1990er Jahren zur Institutionalisierung kam. Die Arbeitslosenkomitees waren ein Phänomen kollektiver Organisierung und fungierten in den meisten Fällen als Opposition, Korrektiv und Ergänzung zum Sozialstaat.
Im Kapitalismus sind wir dem Markt ausgeliefert. Die ökonomischen Strukturen sind ein soziales Gewaltverhältnis und zwingen uns dazu, unsere Lebenszeit dem Kapital zu verkaufen.Wer nicht erfolgreich seine «Haut zu Markte tragen» kann, wie es Marx ausdrückte, dem droht materielle Not und eine rapide Verschlechterung der Lebensverhältnisse: Fällt die Lohnarbeit weg, vermehren sich die Existenznöte und viele Menschen wären ohne Unterstützung ihrem Schicksal überlassen. Der Sozialstaat federt in der gegenwärtigen Produktionsform das schlimmste Übel derjenigen Menschen ab, die ein Anrecht auf Unterstützung haben. Doch zugleich individualisiert die staatliche Wohlfahrt gesellschaftliche Probleme: Jede:r ist selbst dafür zuständig, sich durch die staatliche Bürokratie zu schlagen und finanzielle Hilfe zu einzufordern.
Neben der finanziellen Unsicherheit, die mit dem Verlust der Arbeit einhergeht, bringt Arbeitslosigkeit auch gesellschaftliche Stigmatisierung mit sich und kann psychisches Leiden zur Folge haben. In einer Gesellschaft, die sich durch Arbeit, Individualismus und Leistung definiert, kommt für viele der Verlust des Arbeitsplatzes einem Scheitern gleich. «Es scheint, ich bin nichts mehr wert, einfach weggestellt!» schreibt ein:e anonyme:r Autor:in des Zürcher Arbeitslosenkomitees in den 1990er Jahren in einem Gedicht namens «Arbeitslos».
RAV: Scham und Schikanen
Neoliberale Ideologiefragmente wie die Humankapitaltheorie verstärken die Schamgefühle der Arbeitslosen, indem sie behauptet, dass ein guter Arbeitsplatz und die Höhe des Lohnes vom Willen und der Anstrengung des einzelnen Subjektes abhängt. Eine unsichere finanzielle Lage und sinkender Selbstwert können in Angst, soziale Isolation und psychische Probleme umschlagen. Eine 2020 publizierte Studie vom Schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan) führt Arbeitslosigkeit als Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Erkrankungen auf und hält fest, dass der «überwiegende Teil gesundheitlicher Ungleichheit in einer Bevölkerung […] sich durch sozioökonomische Unterschiede erklären [lässt].»
Demonstration in Zürich, ca. 1990 (Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)
Wer schon einmal arbeitslos war, weiss: Die staatlichen Auffangstrukturen sorgen zwar für eine gewisse finanzielle Erleichterung, gehen aber mit Repression und Disziplinierung einher. Viele Menschen fühlen sich durch sozialstaatliche Akteur:innen bevormundet und herabgewürdigt. Jeder noch so kleine Fehler sei es bezüglich der Anzahl von Arbeitsbemühungen, der Einhaltung von Terminen oder wegen falsch ausgefüllten oder zu spät eingereichten Formularen, wird mit der Einstellung von Taggeldern bestraft. Ob Menschen dadurch in finanzielle Not geraten, interessiert die Behörden nicht. Zudem ist man der Willkür und den Schikanen der RAV-Berater:innen ausgeliefert, die die gesetzliche Macht haben, jeder arbeitslosen Person eine «zumutbare Arbeit» oder Beschäftigungsmassnahmen aufzubürden.
Wer die deutsche Sprache nicht beherrschst, wem es schwerfällt, mit den bürokratischen Hürden klarzukommen oder mit digitalen Kommunikationsmitteln umzugehen, hat es noch viel schwerer. Hinzu kommt der entwürdigende Umgang den viele Menschen im RAV erleben. Viele RAV-Berater:innen vermitteln den Menschen das Gefühl, dass sie zu faul seien, um einer Arbeit nachzugehen. Dieses Narrativ wird von rechten Verbänden und Parteien seit Jahrzehnten gestärkt. Damit wird ein gesellschaftlicher Druck erzeugt, unabhängig von Arbeitsverhältnissen und Qualifikationen jegliche Arbeit anzunehmen. Das Zürcher Arbeitslosenkomitee schrieb hierzu 1992: «Eine Politik der Arbeitslosigkeit ist eine Politik der Entmündigung. Der Nachweis, dass man sich um Arbeit bemüht hat, ist ein erster Schritt zu dieser Entmündigung und Entwürdigung der Betroffenen. Die Angst vor dieser Entmündigung macht die Menschen an ihren Arbeitsplätzen stumm und jene auf Arbeitssuche einsam.» Diese Kritik an der repressiven Seite des Sozialstaats ist nichts Neues. Sie ging stets mit wirtschaftlichen Krisenerscheinungen einher.
Nachkriegsboom und Konjunktureinbruch
Die Arbeitslosigkeit verbreitet sich vor allem in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs oder der Krise. Im 20. Jahrhundert war einer der stärksten wirtschaftlichen Konjunktureinbrüchen in den 1970er auszumachen. Dabei schien in der Nachkriegszeit die Wirtschaft zunächst zu florieren, allerlei Apologet:innen des Kapitalismus sahen in diesen «goldenen Jahren» einen Beweis für den endgültigen Siegeszug des Kapitalismus als wohlstandsförderndes Wirtschaftssystem. Die Schweizer Wirtschaft der Nachkriegszeit war kurz nach Kriegsende tatsächlich im Aufschwung. 1946 herrschte praktisch Vollbeschäftigung und die brummende Wirtschaft brauchte dringend billige Arbeitskräfte. Zu diesem Zweck wurden in den darauf folgenden Jahren hunderttausende Saisonniers rekrutiert, vor allem aus Italien. Diese arbeiteten meistens in der verarbeitenden Industrie, der Baubranche, der Gastronomie oder in der Landwirtschaft. Für die Saisonniers galt das Rotationsprinzip, das heisst sie erhielten nur befristete Arbeitsbewilligungen für maximal elfeinhalb Monate, ab 1973 sogar nur noch für neun Monate. Sie hatten weder Anspruch auf Sozialleistungen noch auf Familiennachzug und mussten meistens, segregiert von den Schweizer Arbeiter:innen, in heruntergekommenen Baracken hausen. Nach ihrem Arbeitseinsatz wurden sie wieder in ihre Heimatländer geschickt. Bereits hier zeichnete sich ab, was auch Jahre später noch die Devise des Umgangs mit der Migration sein sollte: Die Migration soll sich nach den Anforderungen des Kapitals richten. Zugleich war das Saisonnierstatut auch eine Massnahme, um – wie es im politischen Diskurs damals bezeichnet wurde – «die ausländische Überbevölkerung» zu bekämpfen.
Der stabile und florierende Zustand der Nachkriegswirtschaft spiegelte sich nicht nur im Bedarf an neuen, billigen und entrechteten Arbeitskräften, sondern auch im Konsum. Haushaltsgeräte und Autos läuteten die Ära des Massenkonsums ein und der Verbrauch von Erdölbrennstoffen stieg massiv an. Die Arbeiter:innen nutzten den wirtschaftlichen Aufschwung ihrerseits , um höhere Löhne und bessere Ferienregelungen durchzusetzen. Insbesondere in der Textilindustrie und im Baugewerbe kam es zu verschiedenen Kämpfen.
In den 1970er Jahren kam es aufgrund der Erdölpreiskrise zu einem Konjunktureinbruch und zu einer starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Fast elf Prozent der Arbeitsplätze gingen verloren. Dass die Arbeitslosenstatistik jener Zeit die zunehmende Arbeitslosigkeit nicht widerspiegelt, ist darauf zurückzuführen, dass ein grosser Teil der Arbeitslosen Gastarbeiter:innen waren. Ihnen wurde mit der Kündigung auch das Bleiberecht entzogen, was dazu führte, dass die Arbeitslosigkeit ins Ausland «exportiert» werden konnte. Frauen hingegen wurden während dem Konjunktureinbruch wieder «zurück an den Herd» geschickt.
Als Antwort auf die Krise und die steigende Zahl der Arbeitslosen wurde die schweizweite obligatorische und lohnprozentual finanzierte Arbeitslosenversicherung eingeführt. Im Jahr 1976 nahmen die Stimmberechtigten die vom Bundesrat vorgeschlagene Neukonzeption der Arbeitslosenversicherung mit fast siebzig Prozent an. Zuvor gab es keine obligatorische Arbeitslosenkasse, man konnte sich nur bei den Gewerkschaften und bei privaten Arbeitslosenkassen freiwillig versichern lassen.
Die Arbeitslosenkomitees der 1970er-Jahre
Die ersten Arbeitslosenkomitees bildeten sich in den 1930er Jahren als Antwort auf die Auswirkungen der 1929 eintretenden Weltwirtschaftskrise heraus. Sie konnten aber keine politische Schlagkraft entwickeln und verschwanden schnell wieder. In den 1970er Jahren wurden sie angesichts der grassierenden Arbeitslosigkeit wiederbelebt. Inspiriert wurden sie durch den Aufschwung der neuen Linken im Zuge der 1968er-Bewegung. So erwähnte der Staatsschutz in einer Fiche vom Januar 1976, dass «viele aus linksextremen Organisationen» an den Arbeitslosentreffen teilnahmen.
Die Historikerin Anina Zahn legt in ihrem 2021 erschienenen Buch «Wider die Arbeitslosigkeit» dar, dass sich die Arbeitslosenkomitees durch ihre Autonomie und die Selbstorganisation der betroffenen Menschen, die als Industriearbeiter:innen oder Angestellte ihr Geld verdient hatten. Die Komitees verbreiteten sich in Zürich, Basel, Biel, Genf, Aarau, Lausanne, Bern, Thun, Delémont, Solothurn und Fribourg. Ihre Aktions- und Organisationsformen waren verschieden. Meistens waren sie als Vereine eingetragen und organisierten Demonstrationen, Rechtsberatungen, Petitionen, Besetzungen und publizierten Zeitungen. Im Jahr 1976 besetzte das Arbeitslosenkomitee Biel beispielsweise das Arbeitsamt, um gegen verspätete Auszahlungen von Arbeitslosentaggeldern zu protestieren, ein Jahr später wurde in Genf das Arbeitsamt besetzt, um gegen gestrichene Taggelder zu protestieren. Solche Aktionen waren oft erfolgreich und konnten eine unmittelbare Verbesserung für einzelne Arbeitslose erreichen.
Gemeinsam war allen Komitees, dass sie Arbeitslosigkeit nicht als individuelles sondern als gesellschaftliches Problem verstanden. Die Komitees sollten die Möglichkeit eröffnen, das Problem der Arbeitslosigkeit kollektiv zu politisieren und sozialstaatliche Massnahmen zu kritisieren. Die Arbeitslosenkomitees lancierten im März 1976 die «Nationale Petition der Arbeitslosen an den Bundesrat», für die sie fast elftausend Unterschriften sammelten. Mit der Petition forderten sie verschiedene Anpassungen und Veränderungen: Unbegrenzten Taggeldbezug, volle Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit, Finanzierung der Arbeitslosenversicherung durch die Unternehmenssteuer statt durch Abzug bei den Löhnen, Arbeitslosengeld für ausländische Arbeitskräfte und Arbeitslosengeld ohne Wartefrist. Die Petition wurde vom Volkswirtschaftsdepartement abgelehnt.
Lange blieben die Arbeitslosenkomitees jedoch nicht erhalten. Die starke Fluktuation bei den Mitgliedern (viele zogen sich zurück, sobald sie eine Arbeit gefunden hatten), die mangelnde Unterstützung durch bereits länger bestehende Organisationen und fehlende Ressourcen führten dazu, dass viele Komitees keine Versammlungsorte hatten und die grosse Heterogenität der Meinungen innerhalb der Komitees eine klare politische Ausrichtung erschwerte. Viele Arbeitslosenkomitees der 1970er verschwanden wenige Jahre nach ihrer Entstehung. Nur wo die Arbeitslosenkomitees von bereits etablierten Organisationen, wie Gewerkschaften, christlichen Organisationen oder sogar von staatlichen Institutionen – letzteres vor allem ab den 1990er Jahren – unterstützt wurden, konnten sie über längere Zeit bestehen bleiben.
Im Jahr 1980 war die Association de Défense des Chômeurs (ADC) in Genf der letzte verbleibende Arbeitslosenzusammenschluss. Doch auch beim Genfer ADC zeigten sich Probleme, die vielen Menschen, die sich mit Basisarbeit beschäftigen, bekannt vorkommen dürften: Beratungsangebote wurden zwar genutzt, aber nur wenige Leute interessierten sich für eine längerfristige Organisierung. Es entstand nur selten eine breit abgestützte gegenseitige Hilfe von Betroffenen für Betroffene. Zumeist konnte die Hierarchie zwischen Beratenden und Hilfesuchenden nicht aufgelöst werden. Dennoch fungierte der Treffpunkt als Austauschort unter Arbeitslosen, auch wenn viele keine weitere Verantwortung für die Räumlichkeiten und die Organisation übernahmen. Der Sprung von individueller Hilfe zu kollektiven Aktionen gelang der ADC Genf nur selten.
Die zwei Jahre später von Anarchist:innen, Linken und Linksradikalen gegründete ADC La Chaux-de-Fonds versuchte die Perspektive der gegenseitigen Hilfe und der Selbstverwaltung ins Zentrum zu stellen. Neben den Beratungen, den Informationsanlässen und der öffentlichen Mobilisierung für Gesetzesänderungen organisierte sie auch gemeinsame Essen und baute eine Kooperative auf, die den Arbeitslosen verschiedene temporäre Arbeitsstellen verschaffte. Die ADC La Chaux-de-Fonds grenzte sich dabei von Wohltätigkeitsorganisationen ab. In ihrem Selbstverständnis beschrieb sie das Arbeitslosenkomitee als Mittel, um durch Selbstorganisation mit der Ohnmacht und der sozialen Isolation zu brechen. Die ADC La Chaux-de-Fonds blieb bis 1988 bestehen, sah sich dann aber mit ähnlichen Problemen wie die ADC Genf konfrontiert.
Die 1980er Jahre und das Basler Arbeitslosenkomitee
In den 1980er Jahren beteiligten sich viel mehr Migrant:innen an den Arbeitslosenkomitees, da Gesetzesänderungen es dem Schweizer Kapital verunmöglichten, arbeitslose Gastarbeiter:innen einfach wieder in ihre Heimatländer zu schicken. Doch als die Arbeitslosenzahlen wieder stiegen, stellten die vom Andrang überforderten Arbeitsämter weder Übersetzer:innen noch übersetzte Formulare zur Verfügung. Hinzu kam, dass die Kontrollmechanismen des Arbeitsamts zugleich Mobilisierungs- und Vernetzungsmöglichkeiten mit sich brachten: Während heute meistens einmal im Monat ein Kontrollgespräch im RAV stattfindet, mussten die Arbeitslosen in den 1980er Jahren in den meisten Kantonen zweimal pro Woche beim Arbeitsamt vorsprechen, in Basel musste man sogar dreimal pro Woche «stempeln gehen». Der Gang zu Arbeitsamt war in dieser Hinsicht auch eine Begegnungsmöglichkeit mit Menschen in derselben Lage, was zu viel Austausch und Debatten vor dem Arbeitsamt führte und die Vereinzelung durchbrach.
Beispielsweise gründete sich im Jahr 1984 auf Initiative von Arbeitslosen, die in der Anti-Atom Bewegung und der autonomen Szene aktiv waren, das Arbeitskomitee Basel (AKB), dessen Beratungsangebot bis heute unter dem Namen «Kontaktstelle für Arbeitslose Basel» weiterbesteht. Das AKB verteilte Flyer und knüpfte Kontakte in den Warteschlangen vor dem Arbeitsamt – ein Vorgehen, dass bis in die 1990er Jahre verbreitet war. Zum Gründungstreffen des Komitees kamen über achtzig Menschen, darunter viele Migrant:innen. In den einige Monate später ausgearbeiteten Statuten des AKB wurde festgehalten, dass die «Beratung und Betreuung von Arbeitslosen, insbesondere auch von türkischen, spanischen, italienischen und anderen ausländischen Kollegen-innen[sic]» im Zentrum stehen sollte. Auf der Grundlage von Selbsthilfe und Solidarität sollten die «basisdemokratischen Bestrebungen von Arbeitslosen […] unterstützt und gefördert werden». Dafür stellte das AKB im Juni 1984 ohne Bewilligung der Behörden einen Bauwagen vor das Arbeitsamt und bot kostenlose Beratungen an. Die Beratungsstelle konnte jedoch nur dank der finanziellen und organisatorischen Unterstützung von Gewerkschaften und des Basler Industriepfarramts weiterbestehen. Auch wenn im Jahr 1986 die Arbeitslosenzahlen wieder sanken, suchten viele Menschen die Beratungsstelle weiterhin auf. Doch genauso wie viele andere Komitees, konnte das AKB ohne finanzielle Unterstützung, Professionalisierung und angestellten Berater:innen den vielen Beratungssuchenden nicht gerecht werden.
Die Krise der 1990er
Gegen Ende der 1980er Jahre sank die Arbeitslosenquote, dieser Zustand dauerte jedoch nicht lange an. Zu Beginn der 1990er Jahre schlitterte die Schweizer Wirtschaft erneut in eine langjährige Rezession, die Zahl der Arbeitslosen schnellte wieder in die Höhe. Bis 1994 verzehnfachte sie sich gegenüber dem Jahr 1990 und im Jahr 1997 betrug die Arbeitslosenquote 5,7 Prozent, was über 206.000 Arbeitslosen entsprach. Betroffen waren vor allem prekär Beschäftigte, die für Temporärfirmen arbeiteten, die Krise dehnte sich jedoh auf weitere Branchen aus. In dieser Situation reaktivierten sich schweizweit viele Arbeitslosenkomitees und sahen sich schnell mit ähnlichen Problemen konfrontiert, wie in den Jahrzehnten zuvor.
In der ADC Genf gab es in den 1990er Jahren in Diskussionen über die Ausrichtung der Komitees. Während sich einige auf die Professionalisierung der Beratungen fokussieren wollten und darin bereits einen politischen Akt sahen, empfanden andere die Beratungen als karitativen oder sogar paternalistischen Akt, der sich auf Probleme von Einzelnen fokussierte und keine gesellschaftliche Perspektive anvisierte. Letztgenannte Position forderte darum die Hinwendung zu mehr direkten Aktionen, Mobilisierungen und kollektiven Aktivitäten, wie beispielsweise ein tägliches Frühstück für alle. Schliesslich wurde entschieden, sich sowohl auf Hilfsangebote als auch auf Mobilisierungen zu fokussieren, was einen gewissen Erfolg mit sich brachte: Hatte die ADC Genf 1992 noch sechzig Mitglieder, waren es 1994 schon fünfhundert.
In den 1990er Jahren wurde die Mehrheit der Arbeitslosenkomitees institutionalisiert und in vielen Fällen erhielten sie eine Teilfinanzierung durch den Staat, zum Beispiel durch die Subventionierung von Raummieten oder fester Arbeitsstellen für die Beratungsangebote. Dass dies im Sinne der Arbeitslosenkomitees war, spiegelt sich in einem Brief vom März 1993 des Züricher Arbeitslosenkomitees (ZAK) an die Direktion der Städtischen Liegenschaftsverwaltung: «Sie werden sicher verstehen, dass auf Grund unserer Lage die Mittel fehlen, um Büroraum auf dem Markt anzumieten. Wir bitten deshalb die Direktion der Städtischen Liegenschaftsverwaltung zu prüfen, ob sie uns ein Angebot für günstigen oder unentgeltlichen Büroraum machen kann.» Die Gemeinden und der Staat übernahmen jedoch die Finanzierung meistens nicht vollumfängich und so waren die Beratungsstellen auch von Spenden von Privatpersonen sowie von kirchlichen oder anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen abhängig.
Die staatliche Teilsubventionierung führte zu internen Debatten denn sie hatte einerseits einen positiven Effekt, weil die Beratungen eine Kontinuität entwickeln konnten und den Angeboten eine gewisse Stabilität verliehen. Andererseits bedeutete die Einbindung in sozialstaatliche Strukturen auch die Aufgabe der Autonomie der Arbeitslosenkomitees, wodurch sich auch deren Aktionsradius verkleinerte. Das Zürcher Arbeitslosenkomitee hielt 1994 in diesem Sinne fest: «Einsatzplätze haben ein Doppelgesicht: einerseits sind sie ein Instrument um das ZAK politisch zu disziplinieren, andererseits ermöglichen sie dem ZAK Kontinuität und Wege zur Finanzierung».
Neue Arbeitslosenpolitik
Nicht nur finanzielle sondern auch politische und gesetzliche Faktoren beeinflussten die Institutionalisierung der Arbeitslosenkomitees massgeblich, allen voran die Veränderungen der Arbeitslosenpolitik. Die Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) von 1995 führte zu einschneidenden Veränderungen in der Arbeitslosenpolitik, denn sie legte die Grundlage für die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV). Ab 1996 übernahmen über 150 solcher Arbeitsvermittlungszentren die Beratung und Kontrolle der Arbeitslosen. Zuvor waren dafür über dreitausend Gemeindearbeitsämter zuständig. Zur AVIG-Revision gehörte auch, dass die Stempelkontrollen durch Beratungs- und Kontrollgespräche sowie durch arbeitsmarktliche Massnahmen ersetzt wurden, in der Hoffnung die Bezugstage von Arbeitslosengeldern zu reduzieren. Die Menschen sollten schneller und effizienter wieder eine Arbeit finden, die öffentliche Arbeitsvermittlung sollte leistungsfähiger und Wiederanmeldungen und Langzeitarbeitslosigkeit vermieden werden. Dafür wurde unter anderem der Begriff «zumutbare Arbeit» ausgedehnt und der Druck auf die Arbeitslosen erhöht. Es wurde fortan erwartet, jegliche Form von Arbeit anzunehmen, ansonsten drohten Taggeldstreichungen. Diese verstärkte Kopplung staatlicher Unterstützung an eine Gegenleistung prägt nicht nur die Arbeitslosenversicherung, sondern auch die Invalidenversicherung und die Sozialhilfe seit den 1990er-Jahren. Die Sozialwissenschaftlerin Bettina Wyer bezeichnet dies als neues aktivierungspolitisches Paradigma, das durch Leitbegriffe wie «Eigenverantwortung», die Erosion sozialer Solidarität und der neoliberale Selbstoptimierungs- und Leistungszwang überdeckt.
Die in den 1990er Jahre eintretende Investition in die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren und die Personalschulung sollte längerfristig ausgeglichen werden. Jürg Irman Leiter des RAV Uster brachte die Kosten-Nutzen-Rechnung 1996 in einem Interview im SRF auf den Punkt: «Wenn wir die Dauer, in der Geld bezogen wird, im Durchschnitt um sieben Tage reduzieren können, hat sich die Investition bereits gelohnt.» Um die Kosten der Arbeitslosenversicherung zu senken sollten ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Taggeldkürzungen eingeführt und die Löhne für eine zumutbare Arbeit und die Entschädigungen bei Teilzeit-Erwerbslosigkeit reduziert werden. Das Arbeitslosenkomitee Bern bezeichnete die angestrebten Veränderungen als Kürzungen auf dem Buckel der Arbeitslosen und als «verschärftes staatliches Lohndumping». Die Mobilisierungen der Arbeitslosenkomitees und der Gewerkschaften gegen diesen Sozialabbau konnten die Kürzungen jedoch bei der Abstimmung über die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung am 28. September 1997 verhindern. Dieser knappe Sieg ist angesichts der medialen Hetze gegen Arbeitslose bemerkenswert. Die «Neue Zürcher Zeitung» behauptete, dass ein Drittel der Arbeitslosen Alkoholiker:innen oder drogensüchtig seien und ein weiterer Drittel bestehe aus Drückeberger:innen, während eine Schlagzeile der Boulevardzeitung «Blick» suggerierte mit der Schlagzeile «Falsche Arbeitslose: Ihre 10 fiesen Tricks», dass viele Arbeitslose die Arbeitslosenkassen betrügen würden.
Dennoch läutete die AVIG-Revision die Phase des Niedergangs der Arbeitslosenkomitees ein, denn die Umstrukturierung wirkte sich auch auf die Mobilisierungsmöglichkeiten der Arbeitslosen aus: Die Schlangen vor den Arbeitsämtern fielen als Begegnungs- und Mobilisierungsorte weg, die Arbeitslosen wurden zunehmend voneinander isoliert. Der vermehrte Einsatz von Beschäftigungsmassnahmen führte zudem dazu, dass viele Arbeitslose keine Zeit mehr hatten, sich an den Komitees zu beteiligen. Im Zürcher Arbeitslosenkomitee ist beispielsweise in den Sitzungsprotokollen ständig von Mitgliederschwund die Rede, dadurch war es für das ZAK enorm schwierig die Infrastruktur aufrechtzuerhalten: «Die hohe Fluktuationsrate unter den Arbeitslosen erschwert die Kontinuität unserer Selbsthilfeorganisation erheblich. Um dem entgegenzuwirken, braucht es dringend einen stützenden Rahmen. Wünschenswert ist deshalb die Einrichtung von bezahlten, festen Sekretariatsstellen». Zudem stellte beispielsweise ds ZAK fest, dass sich auch eine gewisse Frustration, verbreitete: «Viele Arbeitslose mögen sich nicht engagieren (nach gewissem Anfangsenthusiasmus kehrt Resignation ein)». Auch das Berner Arbeitslosenkomitee (BAK) machte ähnliche Erfahrungen. In einem Lagebericht vom August 1993 ist zu lesen: «Stimmung in der Basler Arbeitslosen-Szene: nach einem Anfangselan von vielen Aktivisten, die sich erstmals politisch äussern, Artikel schreiben, Projekte starten, ist jetzt eine gewisse Ernüchterung eingetreten, weil sich der politische Druck nicht unmittelbar sichtbar auswirkt.» Dies, gepaart mit der Tatsache, dass in den 1990er Jahren die Wichtigkeit der selbstorganisierten Beratungsstellen vom Staat immer mehr anerkannt wurde, führte zur schrittweise Auflösung vieler Arbeitslosenkomitees. Was als Kritik an die staatliche Handhabung der Arbeitslosenpolitik begann, stellte sich als wichtige ergänzende Massnahme heraus, auf die viele Leute angewiesen waren
Von der Bewegung in die Beratung
Trotz dieser Widersprüche zeigt sich, dass autonome und selbstorganisierte Strukturen, die an Alltagsproblemen der Menschen ansetzen und von den Betroffenen selbst am Leben gehalten werden, spannende Kampfmittel sein können. Aber je mehr sie sich institutionalisieren und ihre Strukturen festigen, desto mehr verlieren sie an Radikalität und Mobilisierungspotential. Die direkten Aktionen treten zugunsten von längerfristigen Strukturen – zum Beispiel Beratungsangeboten – in den Hintergrund, wobei auch diese Angebote nach wenigen Jahren wieder verschwinden.
Der Schritt vom politischen Aktivismus der Betroffenen hin zu staatlich teilsubventionierten Beratungsstelle ist meistens kein grosser, spätestens dann, wenn selbst die staatlichen Institutionen merken, dass eine Lücke gefüllt wird, die sie selber nicht bedienen. Dennoch wäre es falsch, autonome Strukturen der Selbsthilfe lediglich als Dienstleistungsangebote abzutun, die dem Staat Aufgaben abnehmen. Im Falle der Arbeitslosenkomitees ging der Integration in die Sozialpolitik ein Prozess der kollektiven Selbstorganisierung, der Solidarität und der Kritik des repressiven Sozialstaats voraus. Sie versuchten die soziale Isolation der Arbeitslosen zu durchbrechen und das Problem gesamtgesellschaftlich anzugehen. So schrieb das Arbeitslosenkomitee Bezirk Dielsdorf 1993 in einem Flyer: «In der heutigen Wirtschaftslage ist die Arbeitslosigkeit nicht nur ein Problem der Arbeitslosen; sie ist menschengemacht und ein gesellschaftliches Problem. Du stehst auf der Strasse und haderst mit Dir. Es wird Zeit, dass wir, die Arbeitslosen, uns in unsere Angelegenheiten einmischen».
Darüber hinaus versuchten viele Arbeitslosenkomitees die Arbeitslosigkeit mit anderen sozialen Problemen zu verbinden. Das Winterthurer Arbeitslosenkomitee (WAK) stellte beispielsweise fest: «die steigende Arbeitslosenzahl ist für die Arbeitgeberseite ein ideales Druckmittel für Überstunden und Lohndumping». Im gleichen Text wird das Mensch-Natur-Verhältnis im Kapitalismus thematisiert: «die Ressourcen sind begrenzt, die Natur bis zur Schmerzgrenze ausgebeutet. Wir sind Teil der Erde und nicht umgekehrt.» Zugleich war auch der Kampf gegen Rassismus und Sexismus oft Bestandteil der politischen Themen, die in den Arbeitslosenkomitees präsent waren. In einem Mind-Map, in dem Mitglieder des ZAK Ideen zusammentrugen, spiegelte sich beispielsweise der Wille, über ökonomische Fragen hinauszugehen: «Gegen die Zurückdrängung der Frauen an den Herd, gegen jeden Rassismus, gegen zerstörende Produktionsweisen, gegen Krieg fördernde Produkte und Handel mit ihnen.»
Es lässt sich also festhalten, dass viele Arbeitslosenkomitees versuchten, unmittelbar und direkt in die eigenen Lebensrealitäten einzugreifen und von dort aus die Frage nach breiteren gesellschaftlichen Problemen zu lancieren. Ihr Scheitern und ihre Integration in die Sozialpolitik waren auch durch die mangelnde Verbreitung sozialer Kämpfe bestimmt. Der Entstehungskontext der Arbeitslosenkomitees war meistens durch ungünstige Kräfteverhältnisse gekennzeichnet, was von Anfang an ihren politischen Horizont bestimmte: Das Recht auf Arbeit und nicht deren Abschaffung stand im Zentrum – und dies in einer Schweiz, deren politische Landschaft zwar nicht immer, aber doch meistens durch Arbeitsfrieden und Sozialpartnerschaft und nicht durch betriebliche und soziale Kämpfe gekennzeichnet war. Am 1. Mai 1993 fasste eine Rednerin die widersprüchliche Lage der arbeitslosen Proletarier:innen in nichtrevolutionären Zeiten treffend zusammen: «Da stehe ich nun, im Regen (in der Sonne) und habe Feiertag, obwohl ich immer freie Zeit habe, ohne Arbeit, als Arbeitslose. Zeit, in der ich endlich machen kann, was Spass macht, was ich schon lange wollte. Aber die Freude dauerte nur kurz an. Bald häuften sich die Sorgen […] plötzlich lebe ich nur noch, immer einsamer, von Tag zu Tag.»
Angepasste Arbeitslose?
Dass es heutzutage keine Arbeitslosenkomitees mehr gibt, bedeutet nicht, dass alle Arbeitslosen die Schikanen und Repression passiv hinnehmen. Vielmehr leben widerständigen Verhaltensweisen auf verdeckte Art und Weise weiter. Sie äussern sich nicht öffentlich und meistens auch nicht kollektiv, sondern auf individueller Ebene: Gefälschte Arbeitsbemühungen, Absentismus und unzuverlässiges Arbeiten während Arbeitsintegrationsmassnahmen sind beispielsweise einige der Mittel, derer sich Arbeitslose bedienen, um der sozialstaatlichen Repression, Disziplinierung und Entwürdigung zu trotzen. Viele arbeitslose Arbeiter:innen spüren am eigenen Leib, dass der Sozialstaat nicht die Arbeitslosigkeit sondern die Arbeitslosen bekämpft. Eine klassenkämpferische Antwort darauf ist die Bekämpfung von soziale Leistungskürzungen, Sozialabbau und verstärkten Kontrollmassnahmen unter gleichzeitiger Betonung der strukturellen Ursachen der Arbeitslosigkeit. Zugleich sollte vermieden werden dem Ideal der Vollbeschäftigung das Wort zu reden und das Recht ausgebeutet zu werden, also Arbeit zu haben, mit Freiheit und Emanzipation zu verwechseln. Denn auch heute gilt gesamtgesellschaftlich auf ideologischer Ebene weiterhin das Credo, das 1995 vom Unesco-Berater Ignacy Sachs während dem Weltgipfel für soziale Entwicklung in Kopenhagen beschworen wurde: «Der erste Schritt zur sozialen Eingliederung ist, ausgebeutet zu werden.»
Quellen aus dem Sozialarchiv: SozArch Ar 509.10 (1.17). Bestand abrufbar unter:
LAGOTA kommt vom Spanischen und heisst „der Tropfen“.
LAGOTA ist eine politische Gruppierung, die sich als Teil der ausserparlamentarischen Linken versteht. Sie bietet eine Plattform, auf der sich interessierte Personen mit politischen Themen auseinandersetzen können.
LAGOTA setzt sich zum Ziel, das politische Bewusstsein der Gesellschaft zu fördern. Ihr Antrieb ist die Überzeugung, dass das kapitalistische System überwunden werden muss, um die bestehenden Herrschaftsverhältnisse abzuschaffen.