Eine neue Etappe für die Linke in Mexiko

Der marxistische Soziologe Atilio Boron zum Amtsantritt von Claudia Sheinbaum

Von Atilio Boron, Mexiko-Stadt

Sheinbaum bei ihrer Amtseinführung am 1. Oktober

Quelle:https://amerika21.de/analyse/271776/mexiko-eine-neue-etappe-fuer-die-linke

Claudia Sheinbaum wurde am Dienstag für eine neue sechsjährige Amtszeit im Rahmen der Vierten Transformation1 vereidigt, die mit der Präsidentschaft von Andrés Manuel López Obrador (Amlo) am 1. Dezember 2018 begann.

Sheinbaum kommt in das höchste Amt Mexikos dank eines beeindruckenden Wahlsiegs: 59,76 Prozent gegen die mageren 27,45 Prozent ihrer engsten Herausforderin, der rechtsgerichteten Kandidatin Xóchitl Gálvez.

Außerdem profitiert sie von dem positiven Vermächtnis ihres Vorgängers, der sich mit einer beeindruckenden Zustimmungsrate von 74 Prozent aus dem Präsidentenamt – und aus der Politik, wie er sagte – zurückzieht. In anderen Umfragen erreicht sie sogar 77 Prozent. Bei den Frauen steigt die Zustimmung zu Amlo auf 78 Prozent, doch der größte Sprung ist bei den über 65-Jährigen (87 Prozent) und den jüngeren Wählern unter 34 Jahren zu verzeichnen, wo die Zustimmung um die 80 Prozent liegt.

Für diesen Zuspruch gibt es objektive Gründe. López Obradors Regierung brachte eine Reihe von Sozialprogrammen auf den Weg, die den älteren Menschen, die früher auf sich allein gestellt waren, eine Rente ermöglichten. Außerdem legte er ein umfangreiches Stipendienprogramm für Schüler und Studenten auf. Während seiner Amtszeit wurden 145 Universitäten oder Universitätsinstitute im Rahmen des Programms “Universitäten für die Wohlfahrt Benito Juárez” gegründet, mit dem die kostenlose öffentliche Hochschulbildung auf ländliche Gebiete und Randgebiete des Landes ausgedehnt werden soll, in denen der Zugang der Bevölkerung zu den Universitäten sehr schwierig war.

Dieser Vorschlag orientiert sich an den Erfahrungen amerikanischer Community Colleges, die in der Regel zweijährige Studiengänge in Fachbereichen mit unmittelbaren Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten, wie beispielweise Agronomie, Krankenpflege, Automechanik und andere. Sie ermöglichen den Studenten, sich auf die Bedürfnisse ihrer Gemeinde einzustellen, oder dienen als Einstieg in die von traditionellen Universitäten angebotenen Laufbahnen.

Auch in der kleinbäuerlichen Bevölkerung ist die Unterstützung für die Morena-Regierung und die mit ihr verbündeten Parteien, vor allem die Arbeiterpartei und die Grüne Partei, in der Mehrheit. Dies ist das Ergebnis zahlreicher Initiativen im Rahmen des Programms “Sembrando Vida” (wirtschaftliche Unterstützung zur Wiederaufforstung und Wiederherstellung landwirtschaftlicher Flächen); garantierter Preise für Mais, Bohnen, Weizen, Reis und Milch, Mikrokredite “a la palabra”2; direkter Subventionen für die Erzeuger; sowie zahlreicher Infrastrukturmaßnahmen, die die Lebensbedingungen und die Möglichkeiten zur Entwicklung wirtschaftlicher Aktivitäten verbessern und einen angemessenen Transport der erzeugten Produkte gewährleisten. Die neue Präsidentin hat ihre Entschlossenheit signalisiert, die Errungenschaften von Amlo fortzuführen.

Sie kann sich auf eine qualifizierte Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses stützen und auf die Gouverneursposten in 23 der 32 Bundesstaaten, aus denen die Republik besteht. Sie wird die sozialen Errungenschaften beibehalten, aber auch die Sozialagenda ausweiten und den Kampf gegen die Armut intensivieren. Die Armut ist zwar in den letzten sechs Jahren zurückgegangen, liegt aber aufgrund der durch die Covid-19-Pandemie verursachte Zunahme immer noch bei 35 Prozent der Bevölkerung.

Die derzeitige und künftige Führungsriege hat nichts an sich, was man mit unbedarftem Konformismus verwechseln könnte. Zufrieden mit dem Erreichten herrscht jedoch die klare Überzeugung vor, dass es noch viel zu tun gibt und dass das schändliche Erbe jahrzehntelanger neoliberaler Orthodoxie nicht in einer sechsjährigen Amtszeit beseitigt werden kann. Ein Beweis dafür war die Schwierigkeit, Fortschritte bei der Steuerreform zu erzielen, die Unabhängigkeit der mexikanischen Zentralbank zu beschneiden oder die neoliberalen Komponenten des T-MEC-Freihandelsvertrages3zu ändern, die den Handlungsspielraum der mexikanischen Regierung einschränken.

Innenpolitisch wird sich Sheinbaum mit mehreren brennenden Problemen auseinandersetzen müssen, von denen das wichtigste die Unsicherheit ist. Die Gewalt und der Drogenhandel, vor allem in den nördlichen Bundesstaaten des Landes ‒ wobei der Schwerpunkt auf Sinaloa und seinem Kartellkrieg liegt ‒ , führen zu durchschnittlich rund 80 Morden pro Tag, an manchen Tagen sogar bis zu hundert. Im Jahr 2023 lag die Mordrate bei 23,3 pro 100.000 Einwohner.

Im Zusammenhang mit der Gewaltproblematik wird die Umsetzung der Justizreform, die bereits Verfassungsrang hat, eine der größten Herausforderungen für die Regierung Sheinbaum sein. Ganz Lateinamerika blickt mit Hoffnung auf diesen Fortschritt, den die Regierung der Vierten Transformation erreicht hat, um den Widerstand einer der rückständigsten und konservativsten Strukturen in unseren Ländern zu brechen.

Die neue Präsidentin beginnt ihre Amtszeit mit einer Wirtschaft, die ein solides Fundament hat. Der Peso hat sich gegenüber dem Dollar deutlich aufgewertet; die internationalen Reserven der mexikanischen Zentralbank haben in den letzten Monaten ein historisches Niveau von 225,427 Milliarden US-Dollar erreicht, während die Exporte im Jahr 2023 etwa 600 Milliarden Dollar erreichten. Hinzu kommt eine wachsende Handels- und Technologieverflechtung mit China, das inzwischen zum zweitwichtigsten Handelspartner nach den USA geworden ist.

Zusätzlich zu diesen günstigen Bedingungen hat das Land 63 Milliarden Dollar an Überweisungen von Mexikanern im Ausland (remesas) und mehr als zwölf Milliarden Dollar aus dem Tourismus erhalten.

Dies ergibt ein wirtschaftliches Bild, das zwar nicht ohne Herausforderungen ist, uns aber mit vorsichtigem Optimismus in die Zukunft blicken lässt. (…)

Auf der äußeren Flanke wird Sheinbaum mit einem erschütterten internationalen Szenario zu tun haben.

Das unmittelbarste: die Spannungen innerhalb des T-MEC, des neuen Abkommens zwischen Mexiko, den USA und Kanada. Es ist bekannt, dass Mexiko für Washington das wichtigste Land der Welt ist, auch wenn seine Bürokraten und Experten etwas anderes behaupten, um die Verhandlungsposition des aztekischen Landes zu schwächen.

Diese Bedeutung geht einher mit einer unbändigen Neigung, sich in die inneren Angelegenheiten Mexikos einzumischen. Beispiele: die militante Opposition gegen die Energiereform und aktuell gegen die Justizreform. Hinzu kommt das komplexe Thema der Migration, da Mexiko eine Durchgangsstation für die riesigen Karawanen von Opfern der neoliberalen Politik aus den Ländern Mittelamerikas und der Karibik ist, die in die USA einreisen wollen. Dies provoziert rassistische und sehr aggressive Reaktionen der US-Führung, wie die von [Ex-Präsident Donald] Trump und nur geringfügig weniger die von [Vizepräsidentin Kamala] Harris.

Das wachsende wirtschaftliche und politische Gewicht Chinas wird ein weiteres Thema sein, das die stets komplizierten Beziehungen zu Washington belasten wird. Es ist nicht nur eine Frage des Handels, sondern eine geopolitische Frage von großer Tragweite.

Amlos Infrastrukturprojekt “Maya-Zug” (Tren Maya) wird nicht nur die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des mexikanischen Südostens fördern, sondern ist auch ein Schlüsselelement für die Umwandlung des Isthmus von Tehuantepec in eine neue bi-ozeanische Passage zwischen dem Atlantik ‒ über das Karibische Meer ‒ und dem Pazifik. Mit einer Breite von nur 200 Kilometern ist er die attraktivste Alternative zur Erleichterung des Ost-West-Güterverkehrs, die den de facto von Washington kontrollierten Panamakanal in eine enorme Schieflage bringen würde. China hat ein großes Interesse daran, diese Initiative zu fördern, was unweigerlich zu einer Kollision mit der US-Regierung führt.

Auf der außenpolitischen Agenda Mexikos stünden auch noch andere Themen, wie zum Beispiel seine tiefe Achtung der nationalen Selbstbestimmung, seine Unterstützung des Multilateralismus und natürlich des Multipolarismus, der sich im internationalen System durchsetzen wird. Bislang ist nicht die Rede davon, dass Mexiko der Brics-Gruppe beitritt, was einer Kriegserklärung an Washington gleichkäme ‒ aber die Frage steht im Raum.

Kurzum, Sheinbaum wird sich allen möglichen Herausforderungen stellen müssen, sowohl im Inland als auch auf internationaler Ebene. Aber sie ist eine sehr intelligente Person mit einem soliden politischen Hintergrund und einer langen Erfolgsbilanz in der öffentlichen Verwaltung.

Und vor allem ist sie eine Frau mit starken Überzeugungen, die sich nicht von den Mächtigen einschüchtern lassen wird: der mexikanischen Plutokratie und ihren amerikanischen Herren. Sie konnten Amlo nicht besiegen, der ihnen viele ihrer Privilegien nahm und der Ausplünderung ein Ende setzte, die sie seit mehr als einem Jahrhundert betrieben hatten. Sie werden auch nicht in der Lage sein, Claudia Sheinbaum zu besiegen, und das ist eine gute Nachricht für Mexiko und ganz Lateinamerika.

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