Dutzende Tote, Hunderte von Verletzten und keine Aussicht auf einen Ausweg aus der politischen Krise: In Peru wurde erneut der Ausnahmezustand ausgerufen.
Die Übergangsregierung Perus hat einen seit Sonntag geltenden 30tägigen Notstand in der Hauptstadt Lima sowie drei weiteren Provinzen im Süden ausgerufen. Dadurch sind das verfassungsmäßige Recht auf Versammlungs- und Reisefreiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung ausgesetzt, das Eingreifen der Armee erlaubt. Seit der Amtsenthebung und Verhaftung des linken Präsidenten Pedro Castillo am 7. Dezember halten die schweren Unruhen in Peru an. Castillo wird vorgeworfen, dass er widerrechtlich das Parlament auflösen wollte, um einem Amtsenthebungsverfahren zu entgehen (Jungle World 51/2022). Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei kamen seit Anfang Dezember mindestens 42 Menschen ums Leben, Hunderte wurden teilweise schwer verletzt, Dutzende verhaftet. Die Demonstrant:innen fordern die Auflösung des Kongresses, des peruanischen Einkammerparlaments, Neuwahlen noch in diesem Jahr, eine verfassunggebende Versammlung und den Rücktritt von Übergangspräsidentin Dina Boluarte. Den lehnt die 60jährige Rechtsanwältin ab, forderte den Kongress jedoch auf, vorgezogene Wahlen anzusetzen. Innenminister Víctor Rojas Herrera, Frauenministerin Grecia Rojas Ortiz sowie Arbeitsminister Eduardo García Birimisa sind vorige Woche zurückgetreten.
Der Flughafen von Cusco, dem Touristenzentrum im Süden, wurde am 12. Januar nach zwei Tagen der Schließung durch das Verkehrsministerium wieder geöffnet; auch der zunächst ebenfalls eingestellte Zugverkehr zur nahen historischen Inka-Stadt Machu Picchu wurde mittlerweile wiederaufgenommen. In der gesamten Region gibt es Straßenblockaden, Proteste und ein Maß an Empörung, das auch Carlos Herz, der Direktor einer kirchlichen Bildungseinrichtung in Cusco, selten erlebt habe: »Auch auf den Bergbau im Süden werden die Proteste einen spürbaren Effekt haben.«
Es deute vieles darauf hin, dass die Wirtschaft Perus einbrechen werde. Herz verurteilt die Gewalt, die vor allem von den Sicherheitskräften ausgehe. Das Gros der Toten hätten der Nationalen Menschenrechtskoordination aus Lima zufolge Polizei und Armee durch gezielte Schüsse zu verantworten, oft aus wenigen Metern und teilweise mit verbotener Munition. Die Regierung habe das brutale Vorgehen der Ordnungskräfte gedeckt, es mit dem Verweis auf die Unterwanderung der Protestbewegung aus dem Drogenmilieu und durch Anhänger von Splitterorganisationen der aufgelösten maoistischen Guerillaorganisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) verteidigt, sagt Herz. Die peruanische Polizei gab am Freitag voriger Woche die Festnahme der Gewerkschaftsführerin Rocío Leandro aus der südlichen Region Ayacucho bekannt, der Kontakte zum Sendero Luminoso sowie die Finanzierung und Rekrutierung von Demonstrant:innen zur Last gelegt werden.
Boluarte, die seit dem 8. Dezember das Land als Nachfolgerin Castillos regiert, hat kaum politischen Rückhalt. In der eigenen Partei, der gespaltenen und wenig progressiven linkssozialistischen Perú Libre, wird sie weitgehend abgelehnt. Für die Demonstrant:innen ist sie meist eine »Verräterin«. Aus dem Lager der konservativen Parteien hat sie ohnehin keine Unterstützung zu erwarten. Die Generalstaatsanwaltschaft in Peru hat Ermittlungen gegen die Regierung wegen »Völkermords, vorsätzlicher Tötung und schwerer Körperverletzung« angekündigt. Die Vorermittlungen richteten sich außer gegen Boluarte auch gegen Ministerpräsident Alberto Otárola, den zurückgetretenen Víctor Rojas und Verteidigungsminister Jorge Chávez Cresta. Otárola hatte sich vor die Ordnungskräfte gestellt und ihnen dafür gedankt, dass sie »während des Ausnahmezustands für die Kontrolle der öffentlichen Ordnung« gesorgt hätten.
Salomón Lerner Febres, ehemaliger Vorsitzender der peruanischen Wahrheitskommission zur Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in Peru zwischen 1980 und 2000, begrüßt die Ermittlungen, hält aber den Begriff des Völkermords für unangemessen. Lerner zufolge zeigen die Proteste die grundlegende Zweiteilung des Lands in einen eher weißen Mestizo-Teil und einen weitgehend abgehängten indigenen Teil und zudem, wie zerrüttetet das politische System sei. »Für die indigene Bevölkerung, die in Peru von der konservativen Elite offen diskriminiert wird, ist Pedro Castillo ihr Präsident, der unter fadenscheinigen Gründen aus dem Amt gedrängt wurde«, meint Lerner. Er bewertet die 18 Monate von dessen Amtszeit zwar als Desaster, weil Castillo keine seiner Ankündigungen wie die Förderung des kleinbäuerlichen Sektors oder die Bildungsreform verwirklicht habe, aber eine echte Chance dazu habe er auch nicht gehabt, weil die Rechte vom ersten Tag an Castillo jegliche Unterstützung im Parlament verweigert habe.
Carlos Herz verweist darauf, dass die Protestbewegung im Süden Perus besonders stark ist. Dort ist der Widerstand gegen die Plünderung natürlicher Ressourcen in den letzten Jahren gewachsen, zum Beispiel gegen die Kupfermine Tía María, welche die Ackerflächen und die Trinkwasserversorgung Hunderter Kleinbauern bedroht. Die Menschen hier forderten eine an ihren Bedürfnissen und nicht an denen der Vermögenden orientierten Politik und Neuwahlen unter der Regie einer glaubwürdigen Übergangsregierung noch in diesem Jahr, so Herz.
Seit Jahren scheitern notwendige Reformen am Wahlrecht, auch die Novellierung der Verfassung scheitert an den politischen Verhältnissen im Parlament. »Dort agieren Parteien und Wahlbündnisse, die für die Interessen von Oligarchen eintreten und ausschließlich persönliche Ziele verfolgen«, sagt Herz. Er plädiert für eine Wahlrechtsreform, die die Zulassung zu den Wahlen an einem dezidierten Parteiprogramm, politischen Konzepten und der Gemeinnützigkeit festmacht. In den vergangenen sieben Jahren wechselten sich genauso viele Präsident:innen ab, strukturelle Reformen sind dabei immer wieder auf der Strecke geblieben. Wie die in den kommenden Monaten initiiert werden sollen, ist derzeit nicht ersichtlich.
Quelle: https://jungle.world/artikel/2023/03/eine-aeusserst-verfahrene-situation