Krokodilstränen des Kapitals

Weltwirtschaftsforum: Westliche Staatschefs beklagen zunehmende Ungleichheit. Ausbeutungs- und Abschottungskurs gegen Ärmste wird fortgesetzt

Düstere Töne gab es zum Abschluss der Onlineversion des Weltwirtschaftsforums, die am vergangenen Freitag anstatt in Davos in den virtuellen Räumen des Internets zu Ende ging. Über die fortdauernde Covid-19-Pandemie hatten die Teilnehmer debattiert, über den Klimawandel und über die gefährlich eskalierenden politischen Spannungen zwischen den westlichen Mächten und Russland. »Wir sehen Herausforderungen zunehmen«, zählte Klaus Schwab, der 83jährige Gründer des Weltwirtschaftsforums, auf, »von Unterbrechungen in den Lieferketten über tektonische Verschiebungen auf den Arbeitsmärkten bis zu Inflationswerten, die bei Politikern und Privatpersonen gleichermaßen Sorgen wecken«. Führende Politiker von Chinas Präsident Xi Jinping über Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bis zu US-Finanzministerin Janet Yellen hatten sich eine Woche lang mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten zur »Lage der Welt« geäußert. Das Resultat, so klang es bei Schwab recht eindeutig durch: besorgniserregend.

Da war zum einen die wachsende Ungleichheit zwischen Reich und Arm, die UN-Generalsekretär António Guterres bereits am ersten Tag des Weltwirtschaftsforums beklagt hatte. Guterres hatte nicht nur darauf hingewiesen, die Impfquoten in den wohlhabenden Staaten seien »schändlicherweise« um ein Vielfaches höher als auf dem afrikanischen Kontinent. Er hatte auch erwähnt, dass 80 Prozent der Mittel, die weltweit zur wirtschaftlichen Erholung nach der Covid-19-Pandemie bereitgestellt worden seien, in entwickelten Industriestaaten zur Verfügung stünden: Die ärmeren Länder seien auch diesbezüglich enorm benachteiligt; sie verzeichneten zur Zeit das geringste Wachstum seit Jahrzehnten und müssten zudem verzweifelt versuchen, sich »mit beklagenswert unzulänglichen nationalen Haushalten« aus der Krise herauszuarbeiten. Die Welt könne es sich »nicht leisten, die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu wiederholen, die weiterhin Dutzende Millionen Menschen zu einem Leben in Not, Armut und schlechter Gesundheit verdammen«, mahnte Guterres: »Wir können nicht weiterhin Mauern zwischen den Besitzenden und den Nichtbesitzenden errichten.«

Ob der UN-Generalsekretär damit auch die EU gemeint hatte, die – wie die Vereinigten Staaten – Mauern, pardon: Grenzzäune gegenüber Elendsflüchtlingen aus drei Kontinenten baut? Wie auch immer: Die EU schottet sich mit aller Kraft nach außen ab. Sie hortet zwar ohne Ende Impfstoffe, die in den ärmeren Ländern fehlen, erweckte aber in den Onlineauftritten etwa von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EZB-Präsidentin Christine Lagarde dennoch nicht den Eindruck, als liefe für sie alles rund. Lagarde etwa äußerte sich zu den heftig gestiegenen Energiepreisen und zur Inflation: Sie teilte mit, in der EZB gehe man »davon aus, dass sich die Energiepreise im Laufe des Jahres 2022 stabilisieren« und »die Inflationsraten allmählich zurückgehen« würden. Allerdings räumte sie unumwunden ein, all dies sei »mit großer Unsicherheit behaftet«. Von der Leyen wiederum äußerte sich zu einem Bereich, der der Industrie Bauchschmerzen bereitet: zur Produktion von Halbleitern, an denen starker Mangel herrscht, und dies ganz besonders in der EU. Anfang Februar will von der Leyen einen »European Chips Act« vorstellen, um Abhilfe zu schaffen: »Bis 2030 sollte ein Fünftel der weltweiten Mikrochipproduktion in Europa erfolgen.« Sehr erfolgreich war die EU mit derlei Ankündigungen zuletzt nicht.

Neben den eskalierenden Spannungen mit Russland, die immer wieder thematisiert wurden, schienen auch die Spannungen zwischen dem Westen und China immer wieder durch. Chinas Präsident Xi hatte gleich am ersten Tag der Veranstaltung für Offenheit geworben – nicht nur in der Weltwirtschaft, sondern auch in der Politik: Es gelte, die »Kalter-Krieg-Mentalität abzulegen und friedliche Koexistenz zu suchen«, hatte er betont. Ironischerweise beklagte am letzten Tag der Veranstaltung auch ein Politiker die Spannungen, der sie wie kaum ein zweiter in den vergangenen Jahren forciert hat: Australiens Premierminister Scott Morrison. Morrison, der sein Land seit Beginn der Trumpschen Angriffe gegen Beijing immer wieder als Rammbock für allerlei Aggressionen gegen China zur Verfügung gestellt hat, jammerte mit Blick auf chinesische Gegenmaßnahmen, Australien habe »an unseren Werten festgehalten«, obwohl dies »nicht ohne Kosten« vonstatten gegangen sei. In den nun entstandenen Auseinandersetzungen gewinne wohl niemand. »Die Welt kann es sich nicht erlauben, in diese Richtung zu marschieren.« Seltsame Klage: Morrison hätte die Abkehr vom großen Konflikt mit Beijing schließlich selbst in der Hand.

Ein wenig positivere Perspektiven sagte zumindest Chido Munyati, ein Afrikaexperte des Weltwirtschaftsforums, überraschenderweise dem afrikanischen Kontinent voraus. Zwar ist die Versorgung mit Covid-19-Impfstoffen dort zur Zeit desolat, die Pandemie dürfte noch gravierende Schäden in Afrika anrichten, doch für die Zeit danach gab sich Munyati überraschend optimistisch. Nicht nur wachse die Wirtschaft in Afrika mit aktuell rund 3,8 Prozent deutlich schneller als etwa in Südasien (1,2 Prozent) und in Lateinamerika (0,9 Prozent). Es komme hinzu, dass die afrikanische Bevölkerung schneller als diejenige aller anderen Kontinente wachse. Während weithin – so auch in Europa – die Arbeitsbevölkerung schrumpfe, nehme sie in Afrika zu. Munyati zog aus dem Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung die Hoffnung, beides könne »dem Kontinent eine größere Rolle in der globalen Politik und in der Weltwirtschaft verschaffen«. Auch wenn man skeptisch sein mag: Es gibt immerhin Hoffnung.

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/419109.davos-krokodilstr%C3%A4nen-des-kapitals.html

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