Die Polizei dreht frei am 1. Mai – Betroffene der Willkür berichten

Quelle: https://www.ajourmag.ch/polizei-dreht-frei-am-1-mai/

Die Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit sei auch am 1. Mai gewährleistet, hiess es noch am 30. April 2020 aus Bundesbern. So verkündete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Tagesanzeiger: «Denkbar sind alle Formen von politischen Äusserungen, bei denen es zu keinen Menschenansammlungen kommt (beispielsweise Aufstellen von Plakaten im öffentlichen Raum).» Die Behörden hätten einen Handlungsspielraum, «insbesondere wenn sich nur einzelne Personen an einer Aktion beteiligen». Ganz anderer Meinung waren aber die Sicherheitsorgane verschiedener Schweizer Kantone und Städte. Sie genossen am 1. Mai ihren neuen Spielraum und schritten rigoros gegen jede Regung von Protest ein. Besonders aus den Städten Bern und Zürich erreichten uns Berichte von Repression und Willkürakten rund um den 1. Mai. Aktivist*innen wurden verhaftet, weil sie ein Transparent aufgehängt oder irgendwo ein Plakat mit Klebstreifen angebracht hatten. Fahnen und andere sichtbare politische Statements wurden konfisziert. Und im Knast wurden Verhaftete gedemütigt.

Dabei fällt auf, dass etwa in Bern bereits am 2. Mai 2020 ein völlig anderes Regime galt: Gut 300 Verschwörungstheoretiker*innen und Lockdown-Gegner*innen konnten auf dem Bundesplatz zwei Stunden lang ungestört und eng beisammen demonstrieren. Ganz anders die Linke tags zuvor: In Bern hielt die Polizei sogar einen 97-jährigen Eisenbähnler an, der mit seiner SEV-Gewerkschaftsfahne und einem Freund spazieren ging. Die Fahne wurde prompt konfisziert, die beiden Rentner verwarnt.

Ruhe sollte auch in Zürich die erste Bürgerpflicht sein. Das Aufhängen von Transparenten im öffentlichen Raum wurde zum kriminellen Akt und Robocops nahmen sämtliche Transparente, die sie entdeckten, gleich wieder ab. Kritik und Protest sollte unsichtbar gemacht werden. Bereits am frühen Morgen hielten etwa Vertreter*innen der gewerkschaftlichen Basisgruppe «Zürich bleibt öffentlich» und Arbeiter*innen des Gesundheitswesens vor dem Rathaus einige Reden – coronakonform in Kleingruppen und mit Abständen.

Doch schon nach kurzer Zeit löste ein Grossaufgebot der Polizei die Aktion auf und nahm sogar Verhaftungen vor. Dies mit Verweis auf die geltenden Hygienemassnahmen. Massnahmen, die die Polizist*innen im Unterschied zu den Protestierenden nicht einhielten. Im Verlauf des 1. Mai 2020 wurden in Zürich, wo die grüne Stadträtin Karin Rykart die Polizei anführt, 24 Personen verhaftet und 113 weggewiesen. Dabei kam es auch zu Prügelattacken auf kleinere Ansammlungen.

Ganz anders in Winterthur, wo es wie in der Nachbarsstadt zahlreiche Kleingruppen-Proteste gab, die Polizei aber kaum sichtbar war und völlig passiv blieb. In Basel wiederum war es sogar möglich, eine Distanz-Demonstration mit rund vierhundert Personen durchzuführen.

Kurzum: Der Auftritt einiger Polizeien am diesjährigen 1. Mai zeigt, wie selbstgefällig die Sicherheitsapparate agieren können. Öffnet sich ihnen ein Spielraum, nutzen sie diesen sofort aus und wenden neue Praktiken an, wie es ihnen gerade beliebt. Das zeigen deutlich die folgenden Erfahrungsberichte aus Bern und Zürich. Sie gehören zu einem Dutzend Zeug*innenaussagen, die das Ajour Magazin erhalten hat.

1) Transparent aufgehängt: Sechs Stunden in Isolationszelle und Verfahren wegen Verstoss gegen Sprengstoffgesetz

Milo*, aus Zürich:

«Um 10.30 Uhr wurde mein Kollege und ich von Polizisten angehalten. Sie verdächtigten uns, auf einer Fussgängerbrücke ein Transparent aufgehängt und dabei Rauchstäbe gezündet zu haben. Nach Sprüchen wie «Die passed ja gnau i oises Beuteschema» brachten sie uns auf den Posten St. Jakobstrasse/Zeughausstrasse. Dort sassen wir von 11.30 bis 17.30 Uhr. Und zwar jeweils alleine in komplett leeren Räumen. Mein Raum war übertrieben hell beleuchtet, so dass ich sogar dann geblendet wurde, wenn ich die Augen geschlossen hielt. Ganz unabhängig davon, was eine Person gemacht hat: Es ist nie gerechtfertigt, jemanden stundenlang so fertig zu machen. Nach zwei Stunden versicherten die Polizisten, dass es jetzt bloss noch zehn Minuten ginge. Es dauerte aber weitere zwei Stunden. Dann erneut: «Nur noch zehn Minuten.» Sie logen, ohne sich zu schämen. Erst nach dieser langen Zeit, haben sie uns verhört und versuchten unsere geschwächte Verfassung auszunutzen, um an Geständnisse zu kommen. Ihr absurder Vorwurf: Nichts weniger als «Verstoss gegen das Sprengstoffgesetz». Ausserdem haben wir bereits eine Busse von je hundert Franken erhalten, da wir während der Polizeikontrolle angeblich die Zwei-Meter-Regel nicht eingehalten hätten.

Hier sah die Zürcher Polizei ein Sprengstoffdelikt. Foto: Bewegung für den Sozialismus

Während den sieben Stunden in Polizeigewahrsam wurde mir die Einnahme meiner Medikamente verwehrt. Dies, obwohl ich drei Mal betonte, dass ich nun meine Medikamente brauche, die im konfiszierten Rucksack lagen, samt der ärztlichen Bescheinigung («Drei Mal täglich einnehmen»). Statt Medikamente gab es für mich eine Entnahme der Fingerabdrücke sowie eine schriftliche Aufforderung zur DNA-Probe. Wir sollen uns nun innert 14 Tagen melden, um einen entsprechenden Termin zu bekommen. Dabei gibt es von der Staatsanwaltschaft gar keine Anordnung hierzu.»

2) «Corona war nie ein Thema. Der Polizei ging es nur um unsere politischen Inhalte»

Carmen* und Isabelle*, aus Zürich:

Carmen: «Wir waren in einem Zweier-Grüpplein und einem Dreier-Grüpplein beim Goldbrunnenplatz spazieren. Und wir haben dann ein Ni-Una-Menos-Plakat mit Malerklebband an einem Hauseingang angebracht. Keine 3 Sekunden später waren wir umzingelt von drei Sixpacks. Robocops sprangen raus, umzingelten uns, und unterzogen uns einer Personenkontrolle. Dann haben sie unsere Rucksäcke eingepackt. Da fragten wir uns schon, was das nun wird. Bald war aber klar, dass sie uns verhaften wollten. Wir waren völlig perplex. Das kann doch nicht sein. Wir kamen uns vor wie im falschen Film, dass sie uns für das verhaften wollten – für das Malerklebband und das A4-Plakat, auf dem Anlaufstellen und Notrufnummern bei häuslicher Gewalt draufstehen.

Die Ni-Una-Menos-Aktivistinnen hängen mit Malerklebband ein Plakat auf. Das sei Sachbeschädigung, fand die Polizei.

Wir wurden dann alle fünf auf den Posten mitgenommen und es hat sich rausgestellt, dass jede von uns völlig unterschiedlich behandelt wurde von den Cops. Einige wurden befragt, andere nicht, einige wurden viel länger dabehalten als andere. Einigen haben sie am Schluss gesagt, dass sie alles fallen lassen werden, wiederum anderen haben sie gesagt, «ja, sie werden schon noch Post von der Staatsanwaltschaft erhalten» und sie würden einen Verzeig oder eine Busse erhalten. Ich habe dann auf meinem eigenen Rapport gesehen – weil der Bulle das Papier falsch hielt – was der Tatbestand ist, den sie uns vorwerfen:  Sachbeschädigung, unbewilligte Demonstration und Vermummung. Sachbeschädigung durch etwas Malerklebband? Unbewilligte Demonstration, weil wir zu dritt und zu zweit auf dem Trottoir gingen? Und Vermummung wegen eines farbigen Schals im Gepäck? Das ist doch völlig jenseits.

Harmlose beschlagnahmte Gegenstände: Polizei legt einen Böller hinzu.

Während der Verhaftung haben die Bullen einfach einen Gegenstand, der nicht uns gehörte – es sah aus wie ein Böller – vom Boden aufgelesen und in den Effektensack einer Freundin gesteckt. Die Freundin meinte dann: «Hey, das gehört nicht mir!» Sie meinten bloss: «Ah jaja, wir nehmen das dann nachher schon wieder raus». Wir wissen aber nicht, ob sie das dann tatsächlich wieder rausgenommen haben.

Das beschlagnahmte Corpus Delicti: Ein Plakat mit Anlaufstellen bei häuslicher Gewalt

Und dann sind wir für dieses Klebband in unserem Rucksack drei Stunden gefesselt in einer Garage der Bullen am Boden gehockt – wir mussten auf diesem kalten Boden sitzen. Andere mussten drei Stunden lang in einen Einzel-Warteraum. Die waren drei Stunden in diesen kleinen Räumen völlig abgeschnitten von allem und wussten nicht, was vor sich ging.

Demütigung mit offenem WC

Sehr unangenehm war auch, dass sie sich auf dem Posten weigerten, uns die WC-Tür zu schliessen. Die Türe war immer offen. Und man musste die Hosen runterlassen und dort aufs WC sitzen, währendem draussen Bullen hin und her liefen und neu verhaftete Leute reinbrachten. Eine Polizistin meinte: «Ihr seid ja sonst auch nicht so prüde.»

Während der ganzen Prozedur hat sich eindeutig gezeigt, worum es ihnen wirklich geht. Corona war nie ein Thema! Sie haben uns alle ohne Handschuhe, ohne Masken angefasst, kontrolliert, sie sind uns allen so nahe gekommen, als wir verhaftet wurden und es waren insgesamt fünf riesen Kastenwägen mit zwanzig Cops drin. Immer ging es bloss darum, dass wir politische Inhalte verbreitet haben. Sie haben offen gezeigt, dass sie Corona gar nicht wirklich interessiert.»

Isabelle*: «Ich – als eine der fünf Verhafteten – hatte eine heftige Panikattacke. Ich hatte Herzrasen, musste erbrechen und mir war sehr schlecht. Und der Typ nebenan, also der Bulle in der Garage, hat geraucht. «Tu nicht so hysterisch», sagten die Beamten, und «wir holen die Ambulanz dann schon, wenn du zusammenklappst». Irgendwann haben sie mich rausgeführt durch die Türe an die frische Luft und die anderen haben angenommen, dass ich nach Hause kann, weil es mir nicht gut geht. Und ich war dann aber letztlich die Person, mit der als einzige ein vollständiges Verhör gemacht wurde. Meine Situation wurde ausgenutzt. Alle Polizist*innen haben das ganz offensichtlich gesehen und realisiert.»

3) «Sie sagten, mein Freund und ich seien eine unbewilligte Demonstration»

Thomas*, aus Bern:

«Ich bin alleine mit einer eingerollten Fahne der Basisgewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) zum Rosengarten gegangen. Es wurde ja zu keiner Demo aufgerufen, sondern dass man irgendwann zwischen 16 und 18 Uhr die übliche Route läuft. Ich hatte um 16 Uhr mit einem Arbeitskollegen abgemacht. Der Rosengarten ist schon länger abgesperrt wegen Covid-19. Das hatte ich nicht mehr auf dem Radar. Als ich an der Bushaltestelle vorbeigekommen bin, hat mich ein Anruf des Arbeitskollegen erreicht, dass sie in der Innenstadt Demo-Sachen beschlagnahmen. Er sei durchgekommen und warte auf dem Bänkli im Aargauerstalden grad unterhalb des Rosengartens. Bei der Bushaltestelle im Rosengarten ist ein Freund, der seit Jahren Demos filmt, auf mich zu gekommen und hat erstaunt bemerkt: «di hei si düre gla?!» Er sagte mir, dass sie etwas weiter oben «grad vori» kontrolliert hätten und Schilder einkassiert und Leute weggeschickt. Ich lief dann alleine mit ausgerollter Fahne vom Rosengarten zum Aargauerstalden, dort wartete auf einem Bänkli mein Arbeitskollege, der sich mir anschloss. Wir liefen auf gleicher Höhe, hielten Abstand. Vor uns und nach uns waren andere bekannte Gesichter in Zweiergruppen und mit mindestens zehn Meter Abstand zueinander. Ohne Demomaterial. Wir spazierten auf dem Trottoir den Stalden runter. Kurz vor dem Bärengraben wurde unsere Zweiergruppe von drei Polizist*innen gestoppt. Diese wiesen gerade Leute, die uns entgegenkamen, darauf hin, dass die Demo verboten sei

Die Berner Polizei löst eine angeblich illegale Zwei-Personen-«Demonstration» auf. Wie den SEV-Gewerkschaftern im Bild erging es auch dem IWW-Gewerkschafter Thomas. Bild: Screenshot Tele Bern.

Dann sahen sie uns mit der Fahne. Personenkontrolle. Was wir hier machen würden, wir sagten nichts. Ausweise fotografiert. Die Fahne müsse beschlagnahmt werden. Die Demo sei verboten. Wir sagten, wir seien keine Demo, sondern zu zweit – sie sagten das sei eine verbotene Demo unabhängig der Anzahl Teilnehmer. Ich sagte, dann gehe es hier allein ums Prinzip. Und nicht um Massnahmen gegen Covid-19? Und dass das lächerlich sei. Der Polizist sagte nichts darauf. Sondern erklärte mir die Wegweisung. Sie waren freundlich, hielten aber den Abstand nicht ein und ich musste mit ihrem Kugelschreiber eine Quittung unterschreiben, damit ich die Fahne am Montag abholen kann. Wir wurden mündlich weggewiesen für 24 Stunden für die Demoroute, inklusive der ganzen Innenstadt mit Reitschule/Schützenmatte. Wir gingen dann mit dem Bus ins Quartier und trafen uns mit drei weiteren Leuten, die ähnliches erlebt hatten, und einer unentdeckt gebliebenen Fahne, um ein Bier zu trinken. Dort blieben wir unbehelligt.»

4) «Was tragen Sie da unter dem Arm?» – «Einen Karton.» – «Der ist verboten!»

Rebecca, aus Bern:

Verboten? Kinderwagen mit SGB-Plakat

«Meine Kollegin und ich laufen mit meinem Sohn, der im Kinderwagen sitzt, durch die Berner Altstadt. In der Kramgasse steigen plötzlich drei Polizisten aus einem Auto und halten uns an. Sie fragen meine Kollegin, was sie unter dem Arm trage. Sie antwortet: «einen Karton». Die Polizisten wollen den Karton sehen und teilen uns mit, dass dieser nicht erlaubt sei. Auch ein A4-Plakat des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB), das vorne im Kinderwagen steckt, ist gemäss den drei Beamten zur Zeit verboten. Auf die Frage, warum wir solche Schilder nicht bei uns haben dürfen, heisst es, dass Kundgebungen verboten seien. Wir führen eine kurze Diskussion über Sinn und Unsinn dieser Massnahme und machen klar, dass wir uns nicht mit anderen Menschen treffen wollen. Das scheint den Polizisten nicht einzuleuchten und sie bestehen darauf, dass wir die beiden Schilder abgeben. Wir lassen uns für die konfiszierten Schilder eine Quittung ausstellen. Wir könnten diese am Dienstag abholen.»

5) «Mein Kind schrie zehn Minuten lang ununterbrochen»

Daniela*, aus Zürich:

«Wir, vier erwachsene Aktivistinnen und meine zweijährige Tochter, waren friedlich in Zürich unterwegs. Mit Abstand und Schutzmasken. Als wir um die Ecke bogen, wurden wir von Zivis abgefangen. Personenkontrolle. Ich gab meinen Ausweis ab und weigerte mich aber, die Musik abzuschalten, was die Zivilpolizistin schon sichtlich verärgerte. Sie forderte mich auf, an die Wand zu stehen. Mit dem Kind im Fahrradanhänger gehe ich Richtung Wand und bleibe aber leicht in Bewegung, weil ich mein Kind umsorgen musste (ich gab ihr eine Banane, denn sie hatte Hunger). Ich holte mein Handy aus dem Fahrradanhänger, woraufhin die Polizistin sofort auf mich zukam und mich energisch aufforderte, das Telefon wegzutun. Als ich dies nicht sofort tat, griff sie brutal nach mir und will mir das Telefon gewaltvoll aus der Hand reissen. Ich nehme das Telefon reflexartig zu mir und wehre mich. Ich schreie: «Keine Gewalt». Darauf hin folgt ein blinder Moment ohne Erinnerung, die Gewalt nimmt zu. Ich werde von der Polizistin weggezerrt und will zu meinem Kind, da es losschreit, weint und meinen Namen ruft. Es zerreisst mich, ich schreie laut (weiss aber nicht mehr was). Ich denke mir bloss: Was ist hier los? Ich bin doch friedlich hier! Das ist Willkür. Ich habe hier keine Rechte. Ich werde gewaltvoll in Handschellen gelegt, an das Polizeiauto gedrückt. Als mein Kind zehn Minuten ununterbrochen weinte (der Klang der Panik in meiner Stimme schien ihr Angst zu machen), wurde sie von einer Genossin ausser Sichtweite gebracht. Ich musste ca. 45 Minuten verharren, bis ich wieder mit meinem Kind in Kontakt treten darf. Ich bin wütend und habe Angst um die Kleine. Wenn sie mich mitnehmen, was passiert denn mit ihr? Wie konnte das passieren? Warum all diese Aggression?


Ein Mitgrund für meine Festnahme war, dass ich «vermummt» war. Ich trug eine Atemschutzmaske, um mich unter anderem vor der Polizei zu schützen, die keine trug und mir definitiv näher als zwei Meter kam. In meiner Wahrnehmung hatte mich auch die Zivilpolizistin bereits von Anfang an im Visier, da ich mit dem Fahrradanhänger mit der Musik und den Transparenten unterwegs war. Sie war auffallend gewaltvoll und kaltherzig, als müsse sie sich in diesem machoiden Konstrukt der Polizei als Frau besonders stark behaupten. Das macht mich aus feministischer Perspektive im Nachhinein besonders wütend.«

6) «Sie haben sich politisch betätigt!» – sechs IWW-Gewerkschafter*innen in Zürich verhaftet

Die Betroffenen schreiben uns:

«Am 1. Mai 2020 wurden sechs Mitglieder der Basisgewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) im Zürcher Niederdorf verhaftet und über mehrere Stunden festgehalten. Sie waren in Zwei-Meter-Distanz und in zwei Gruppen auf dem Weg zu einer Firma, in der ein Arbeitskampf tobt. Ziel: Mit Transparenten und Fahnen Solidarität zeigen.

Die sechs Personen bewegten sich um 13:45 Uhr auf den «Oberen Zäunen» in zwei Dreiergruppen von der Kirchgasse herkommend Richtung Blaufahnenstrasse, als die eine Dreiergruppe von hinten von zwei Polizisten eingeholt und aufgehalten wurde und gefragt wurde «Wo machen sie?» (sic). Der anderen Gruppe wurde mit einem Polizeifahrzeug der Weg abgeschnitten und die drei Personen wurden ebenfalls festgehalten. Auf die Frage nach den Gründen der Kontrolle wurde der einen Gruppe von einem Beamten etwas undeutlich mit Aussagen wie «Ja, erster Mai halt…» und «Sie wissen schon, warum» geantwortet, auf erneutes Nachfragen dann immer noch vage mit «Verstoss gegen die Covid-Verordnung» und, dass sich die sechs Personen «politisch betätigt» hätten und an einer unbewilligten Demo teilgenommen hätten. Es gäbe Videoaufnahmen. Auf den Hinweis, dass das Vorgehen der Beamten nicht im Sinne der Covid-Verordnung sei, wurde nicht geantwortet. Ebenfalls konnte keine Antwort darauf gegeben werden, was denn eine Demo sei und was nicht.

Polizei ohne Schutzmasken

Während des Wortwechsels zwischen Beamten und Verhafteten wurden die festgehaltenen Personen zu keinem Zeitpunkt dazu aufgefordert sich aufzulösen. Die vier Beamten kontrollierten Identität, Taschen und Rucksäcke. Mit Hilfe der inzwischen herbeigerufenen Verstärkung von zwei bis drei weiteren Einsatzteams wurden den IWW-Mitgliedern mit Kabelbindern die Hände hinter die Rücken gebunden. In zwei Kastenwagen wurden um kurz nach 14 Uhr je drei Personen in die Hauptwache der Stadtpolizei gefahren. Zu keinem Zeitpunkt haben die Polizist*innen Schutzmasken getragen oder den Abstand zu den Verhafteten versucht einzuhalten. Einzelnen wurde die Schutzmaske erst nach vermehrtem Kontakt mit Polizist*innen direkt vor dem Einsteigen in den Kastenwagen angezogen.

Was in Grenchen möglich war, wäre in Zürich mit Knast geahndet worden. IWW-Aktion in Grenchen am 1. Mai

Keine Kooperation? Strafe per Kabelbinder

Die Behandlung in der Hauptwache fiel sehr unterschiedlich aus. Alle sechs Personen wurden zunächst gefesselt im Kastenwagen (bis zu vierzig Minuten) und auf dem Boden einer Garage festgehalten, abfotografiert und danach für zwanzig bis neunzig Minuten in Einzelhaft festgehalten. Die Personen wurden auf eine Weise aufgefordert, ihre Fingerabdrücke abzugeben, die nicht klarmachte, dass dies nicht Pflicht ist. Personen die sich geweigert haben, ihre Fingerabdrücke zu geben, wurden für die Zeit in der Einzelzelle nicht von den Kabelbindern befreit, einer Person wurden die Kabelbinder um die Handgelenke hinter dem Rücken noch enger angezogen bevor sie in die Einzelzelle kam. Es wurde klargemacht, dass dies eine Konsequenz der Kooperationsunwilligkeit ist. Ausserdem hat sich die Polizei uns gegenüber mal wieder von der rassistischsten und sexistischsten Seite gezeigt und hat einzelne Mitglieder während der Verhaftung entsprechend beleidigt.

Willkür wohin das Auge reicht

Einzelne Personen wurden befragt, andere nicht. Die angedrohten Konsequenzen reichten von einem Bericht an die Staatsanwaltschaft und Anzeigen wegen Teilnahme an einer unbewilligten Demo, über Bussen wegen Verstosses gegen die Covid-Anordnung (100 Fr.) und Anschuldigungen wegen Gefährdung Dritter sowie geplanter Gewaltausübung. Alle bekamen ein Rayonverbot. Die erste Person wurde um 15:53 Uhr entlassen die letzten beiden Personen kurz vor 18 Uhr. Weitere IWW-Mitglieder, die in kleinen Gruppen unterwegs waren und zum Zeitpunkt der Verhaftung der sechs Personen offenbar zu weit weg waren, wurden später beim Central angehalten, kontrolliert und weggewiesen. Einem Mitglied wurde von der Polizei gesagt, dass sie jetzt ein Auge zudrücken würden und ihn deshalb nicht wie die anderen sechs Personen mit auf die Wache nähmen.»

7) «Die Polizisten waren respektlos» – Aktion von gewerkschaftlicher Basisgruppe unterdrückt

Hanna*, aus Zürich:

Als Mitarbeiterin einer NGO, die sich für prekäre Migrantinnen einsetzt, wollte ich am 1. Mai mit der VPOD-Gewerkschaftssekretärin für NGOs und mit zwei anderen Personen, die in NGOs arbeiten, mit einem Transpi in der Stadt präsent sein. Wir wollten eine kurze Rede halten. Ich habe mich dieser Aktion angeschlossen, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Staat versagt und wir es sind, die Nothilfe leisten. Und es war mir wichtig, öffentlich zu zeigen, was wir bei unserer Arbeit in den letzten Wochen durchgemacht haben. Wir waren nur zu viert und mit Schutzmasken unterwegs, haben also die BAG-Auflagen eingehalten. Die Stadtpolizei hat das aber nicht toleriert und uns kontrolliert, durchsucht und wir alle haben ein 24-stündiges Rayonverbot für die Innenstadt erhalten. Ausserdem waren die Polizisten respektlos und hielten uns dreissig Minuten in aller Öffentlichkeit fest

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