Making cash from chaos

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Vor genau 40 Jahren erschien das erste und einzige Album der Sex Pistols. Anarchie, wie sie Johnny Rotten und seine Mitstreiter forderten, kam dann auch, allerdings in unerwarteter Form.

Einen Song veröffentlichen, damit sofort zwei Plattenverträge ergattern und gleich wieder platzen lassen, um insgesamt 115 000 Pfund Vorauszahlung zu kassieren (was heutzu­tage in etwa einer knappen halben Million Euro entspräche) – so hat wohl niemals zuvor oder danach eine Newcomer-Band gleich zwei Groß­labels hintereinander zur Ader gelassen. Die Rede ist von der im November 1976 auf dem Label EMI veröffentlichten Single »Anarchy in the U.K.« der Sex Pistols, die die Firma bereits Anfang Januar wieder vom Markt nahm und die Band nach einem skandalösen Fernsehauftritt feuerte. Zwei Monate später nahm das Label A & M die Gruppe unter Vertrag: Die Sex Pistols spielten daraufhin die Single »God Save the Queen« ein, die das anstehende silberne Thronjubiläum der Königin schockierend rüde kommentierte. Diese Platte erreichte die Läden zunächst überhaupt nicht, A & M stampfte die erste Auflage noch vor Auslieferung ein und schmiss die Band raus. Die Reaktion der Sex Pistols: Sie präsentierten den Song mit maximal möglicher Lautstärke auf einem Boot, das auf der Themse vor dem Parlamentsgebäude kreuzte und selbstverständlich von der Flusspolizei gestürmt wurde.

Die Sex Pistols führten im Frühjahr vor 40 Jahren alle gültigen Regeln der Musikindustrie ad absurdum, indem sie die Hände, die sie fütterten, nach Kräften bissen. Das war wirklich neu, denn bis dahin hatte das Musikbusiness noch jeden teenage rebel entweder so präpariert, dass er die rebellische Attitüde brav verkaufen half, oder, falls sich der potentielle Star als allzu bockig erwies, darauf setzen können, dass er ohne Plattenvertrag wieder in der Obskurität verschwinden würde.

 

Verzweiflung und Wut auf den gesellschaftlichen Konsens

Beim Punk – ein Wortgebrauch des englischen Begriffs für Strichjungen, den der Boutiquebetreiber Malcolm McLaren für sich reklamierte, um die Musik der von ihm gemanagten Sex Pistols zu beschreiben – klappte das nicht. Denn in einem waren der Leadsänger der Band, John Lydon aka Johnny Rotten, und McLaren wahre Meister: in der Inszenierung von Provokationen und Ärgernissen, von denen die britische Boulevardpresse einfach nicht die Finger lassen konnte. Je mehr aber Abscheu und Hass auf die unverschämten Lümmel aus der Schlange beim Arbeitsamt – dole queue, das englische Wort fürs Warten auf Stütze, wurde damals synonym für Punkrock gebraucht – die Schlagzeilen beherrschten, desto interessanter wurden genau diese Lümmel.

Zunächst galt das selbstverständlich für Jugendliche, die ebenfalls Schlange standen; und das waren nicht ­wenige, denn die Jugendarbeitslosigkeit stieg Mitte der Siebziger zum ersten Mal in der Nachkriegszeit steil an. Das Gefühl aber, dass insbesondere der die Charts verheerende Softrock der Wings, Elton Johns oder Leo Sayers die Lebenssituation im krisengebeutelten Großbritannien geradezu verhöhnte, war noch viel weiter verbreitet – kein Wunder in einem Land, das seinerzeit seine Zahlungsfähigkeit nur mit IWF-Krediten und den höchsten Steuern der westlichen Welt sichern konnte, in dem Benzin rationiert war, ganze Industriezweige im Sterben lagen, Haushalte und Betriebe tagelang auf Strom verzichteten und verzweifelte Streiks dafür sorgten, dass Krankenhäuser Patienten abweisen mussten und der Müll sich meterhoch in den Straßen stapelte.

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Glühwein und Betonfrisur: Die Hassikone des Punk, Margaret Thatcher

Bild:

picture alliance / empics

Verzweiflung und Wut auf den Zustand, in den die Krise den britischen post-war consensus gebracht hatte, prägten die Stimmung. Jener gesellschaftliche Konsens, auf den sich Konservative und Labour ge­einigt hatten – also die Kombination von keynesianischem, auf deficit spending basierendem Wohlfahrtsstaat, verstaatlichten Industrien und starker Rolle der Gewerkschaften samt tariflich abgesicherter Vollbeschäftigung –, schien sich von dem Versprechen, das er nach dem Krieg bedeutet hatte, in eine Plage mit absurden Auswüchsen verwandelt zu haben. Das war der Nährboden des Punk, der Sex Pistols und ihres ebenso hellsichtigen wie skrupellosen Managers Malcolm McLaren. Er gab die Stichworte, die er zuvor aus einigen situationistischen Schriften der sechziger Jahre zusammengeklaubt hatte, an Lydon weiter, der wiederum möglichst anstößige und provokante Texte drumherumstrickte. Anarchy war der wichtigste dieser Schlüsselbegriffe, violence ein anderer. Die solcherart entstehende Rhetorik war genial darin, dass sie radikal und ambivalent zugleich war, dass sich in ihr linksradikale Junggewerkschafter und arbeitslose Vorstädter ebenso wiederfanden wie Jungakademiker und hedonistische Alternativunternehmer, die – ob nun von klassischen Avantgarde-Konzepten beeinflusst oder nicht – eine als verkrustet erscheinende Konsensgesellschaft und ihre Regeln über den Haufen werfen wollten, obwohl die ökonomischen Interessen der Beteiligten gegensätzlicher kaum hätten sein können.

Und nirgendwo ist die für den Urpunk typische rhetorische Vereinheitlichung in der blanken Negation so perfekt ausbuchstabiert und so zielgenau in auf extreme Ruppigkeit getrimmte musikalische Arrangements gegossen worden wie auf dem Ende Oktober vor vierzig Jahren doch noch auf dem damals unabhängigen Label Virgin erschienenen Album »Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols« (in etwa: Vergiss den ganzen Scheiß, hier kommen die Sex Pistols). Allein schon das Aufmacherstück der Platte, »Holidays in the Sun« kokettiert mit der Lust an der Katastrophe schlicht aus persönlichem ennui, wie es vorher in der Rockmusik kaum je getan worden war: Das KZ Bergen-Belsen, die Berliner Mauer und die kommunistische ­Bewegung tauchen in dem Song nurmehr als austauschbare Reize auf, um dem unentrinnbaren Stumpfsinn (»Pretty Vacant« heißt denn auch eine andere Nummer der Platte) ein wenig dramatische Würze zu ver­leihen.

So zerschlug Punk zwar rüde alle utopisch-konstruktiven Konventionen des bisherigen Rock, die sich vor der gesellschaftlichen Realität als »Great Rock ’n’ Roll Swindle« entpuppt hatten (so der Titel des Films, mit dem McLaren den Pistols-Hype bediente), zerfiel dabei aber auch selbst fast sofort; die negative Einheit jugendlicher Unzufriedenheit, der vor allem die Sex Pistols für einen kurzen ­Moment den passenden ästhetischen Ausdruck gegeben hatten, zerbrach ebenso wie die Band schon 1978. Die einzelnen Bestandteile der neuen ­Jugendkultur strebten mächtig auseinander: Der proletarische Teil mündete eher in die verschiedenen Strömungen der Skinhead-Subkultur – vom freundlichen Ska bis zum Nazisound von Skrewdriver –, der klassische Linksradikalismus, den The Clash und andere propagierten, ging spätestens 1984/85 zusammen mit den streikenden Bergarbeitern unter, während der eher kommer­ziell und künstlerisch geprägte Flügel unter der Bezeichnung New Wave ­reüssierte und das müde gewordene Musik- und Modebusiness mit neuen Klängen und schrill recycelten Klamotten und Frisuren aus der Steinzeit des Rock ’n’ Roll zumindest für eine Weile revitalisierte.

 

Stichwort anarchy: »So etwas wie ­Gesellschaft gibt es nicht!« (Margaret Thatcher)

Die radikale Zerstörung der britischen Nachkriegsgesellschaft aber, mit der die Sex Pistols geliebäugelt hatten, übernahmen ab 1979 andere. Die Lust am Destruktiven, die Beschwörung des Konventionen verachtenden Individuums, aber auch die im prononcierten Amateurismus des Punk lauernde Anspruch, nicht mehr von anderen oder vom Staat abhängig zu sein, sondern sich auf die eigene Kraft zu stützen – und sei das Ergebnis noch so dürftig –, oder die provokante Aufkündigung jeder gesellschaftlichen Regulation, Stichwort anarchy – all diese Motive fanden sich in zunächst paradox scheinender Weise am ehesten im Programm einer der heftigsten Opponentinnen des Punk und, in späteren Jahren, dessen liebstem Feindbild wieder: im Programm der damaligen konservativen Oppositionsführerin im Unterhaus, Margaret Thatcher, das sie in etwa zur selben Zeit entwickelte, als Malcolm McLaren den Punk als alternative Geschäftsidee konzipierte und bündig so definierte: making cash from chaos. Und es war eben auch eine Art Chaos, sprich: die ­Zerstörung unrentabler Infrastruktur und Industrie sowie der Lebensweise ihrer ebenso unrentablen menschlichen Anhängsel, das die 1979 zur Premierministerin gewählte Thatcher anrichtete. Trotz der absolut nicht punkaffinen Neomoralität, die die Lady mit der Betonfrisur vordergründig propagierte, setzte sie doch mit Sprüchen wie »So etwas wie ­Gesellschaft gibt es nicht!« auf eine Form von gesellschaftlichem Überdruss an den Sixties, in dem die Hippie-Aversion des Punk und sein ­Koketterie mit dem Nihilismus widerhallte.

https://www.jungle.world/artikel/2017/44/making-cash-chaos

 

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