Das Bündnis mit der rechtsnationalistischen Partei Anel hat weder in der Syriza noch bei den antiautoritären Bewegungen zu größerem Unmut geführt.
Die 40jährigen haben so etwas Ähnliches schon einmal erlebt. 1981 lautete der Wahlslogan der sozialdemokratischen Partei Pasok »Wechsel«. Die nach der Diktatur und dem Demokratisierungsprozess politikmüde Bevölkerung fand in dem Populisten Andreas Papandreou ihren Retter. Ihm gelang in der ersten Hälfte der achtziger Jahre die Integration großer Teile der linken Bewegung in den Staat, der gesellschaftliche Frieden war hergestellt, das kapitalistische System wurde munter modernisiert.
Diesmal ist der Retter jünger. Sein Slogan hieß »Hoffnung« und der Hintergrund des Wahlerfolgs war diesmal keine postdiktatorische Gesellschaft, sondern die destruktive Austeritätspolitik der Europäischen Union. Doch Grund zur Hoffnung gab es für viele schon am nächsten Morgen kaum noch. Nicht einmal richtig ausgeschlafen nach ihrem Triumph bei den Parlamentswahlen am 25. Januar hatten die Politiker der Syriza, als bereits um 10.30 Uhr am Montagvormittag die Regierungskoalition mit der Partei »Unabhängige Griechen« (Anel) feststand. Die Ankündigung von Treffen mit den Vorsitzenden der kommunistischen KKE und der liberal-postpolitischen Partei »Der Fluss« (To Potami) des bekannten Journalisten Stavros Theodorakis am Abend zuvor sollte offensichtlich verbergen, dass die Vereinbarung mit Anel bereits im Voraus beschlossene Sache war.
Um das Phänomen »Unabhängige Griechen« zu verstehen, muss man nachvollziehen, wie manche griechische Politiker ihre Haltung zum Troika-Memorandum im Laufe der vergangenen vier Jahre verändert haben. Es gab eine ganze Reihe von Abgeordneten von Nea Dimokratia und Pasok mit jeweils langer Parteikarriere, die die Austeritätsmaßnahmen bedenkenlos mitgetragen hatten, plötzlich aber auf die Idee kamen, eine neue kleinere Partei zu gründen beziehungsweise in eine andere zu wechseln. Sie hofften, so ihre politischen Karrieren trotz des absehbaren Absturzes der Altparteien fortsetzen zu können. Ein Sammelbecken für Pasok-Politiker war Syriza, die jedem Aussteiger gerne einen Ablass gewährte und ihn über Nacht zum tapferen Memorandumgegner erklärte.
Die meisten der kleineren Parteien, die auf diese Weise entstanden sind, haben sich wieder aufgelöst, manche Politiker sind später in die Altparteien zurückgekehrt. Die »Unabhängigen Griechen«, eine von den überlebenden neuen Parteien, haben es nun jedoch neben Syriza sogar in die Regierung geschafft. Richtig ernst genommen hatte sie lange Zeit niemand, man machte sich eher über sie lustig und riss Witze über den Namen ihres Vorsitzenden Kammenos, der wortwörtlich übersetzt »abgebrannt« oder in der Umgangssprache »geistig gestört« bedeutet. Doch plötzlich avancierte ausgerechnet diese Partei zum Lieblingspartner Tsipras’ in dessen wildem Rennen um die Macht.
Als Geburtsstunde der Anel gilt der Februar 2012, als Panos Kammenos, ein bekannter rechter Nationalist und früherer stellvertretender Schifffahrtsminister der Nea Dimokratia, die neue Partei gründete und dabei »die Jungfrau Maria als Helfer und Schützer« zu sich bat. In der Präambel der Gründungserklärung war zu lesen, »die griechischen Bürger, die sich in den letzten zwei Jahren mit dem Angriff der Neuen Ordnung durch das Memorandum, mit der nationalen Demütigung und dem wirtschaftlichen Kollaps der Griechischen Familie (Großschreibung im Original, die Red.) auseinandergesetzt haben«, hätten sich nun in dieser Partei zusammengeschlossen.
Panos Kammenos galt bis dahin auch in der antiautoritären Szene eher als Witzfigur. Schon 1992 veröffentlichte er sein Opus Magnum »Terrorismus: von der Theorie zur Praxis«, worin er eine Verschwörungstheorie über die angebliche Zusammenarbeit der Untergrundgruppe »17. November« mit der Pasok aufstellte. Das Buch löste damals zwar allgemein Belustigung aus, unter Polizisten soll es sich jedoch großer Beliebtheit erfreut haben. Dass sich nach der Aushebung der Gruppe 20 Jahre später kein einziger Satz seiner Theorie bestätigte, hat Kammenos nie kommentiert. Als 1996 Anarchisten eine nationalistische studentische Veranstaltung in Thessaloniki, bei der er auftrat, störten, gab er an, acht von ihnen erkannt zu haben, obwohl sie vermummt waren. Es kam zu Gerichtsverfahren. Nach vielen Jahren folgten Freisprüche für alle Beschuldigten. 2004 tauchte er ohne Ladung zum Prozess der Stadtguerillagruppe ELA auf, mit einem dicken Dossier unter dem Arm, das angeblich belastende Stasi-Akten gegen die Angeklagten beinhaltete. Die Akten wollte er sich durch geheime Kontakte mit den deutschen Behörden besorgt haben. Das wirkte so grotesk, dass die Richter Kammenos sofort des Saales verwiesen. Die Angeklagten wurden übrigens auch in diesem Fall später freigesprochen.
Für Anel jedenfalls hat sich der Hauptwahlslogan von Syriza, »es gibt Hoffnung«, bewahrheitet. Wäre die Lust der Linken zu regieren nicht so groß gewesen, hätte wohl niemand diesem Zusammenschluss von nationalistischen, christlich-radikalen, homophoben Politikern zugetraut, je an die Macht zu gelangen. Angesichts der eingetragenen Lebenspartnerschaft des schwulen luxemburgischen Ministerpräsidenten Xavier Bettel twitterte der Anel-Abgeordnete Nikos Nikolopoulos verächtlich dass sich ein »Europa der nationalen Staaten zu einem Europa der Schwuchteln« entwickele. Rachil Makri, eine andere Abgeordnete von Anel, ließ sich ein Spartaner-Schild (ein beliebtes Symbol bei Neonazis) tätowieren. Sie wechselte kürzlich von den »Unabhängigen Griechen« zu Syriza. Vor den Parlamentswahlen hatte sie tagelang für Schlagzeilen gesorgt, weil sie angekündigt hatte, Griechenland werde im Falle einer Streichung der EU-Gelder 100 Milliarden Euro einfach selber drucken.
Obwohl immer wieder von »roten Linien« zwischen Anel und Syriza die Rede war, wie zum Beispiel bei nationalen Themen wie Zypern oder Mazedonien, sind diese Gräben letzlich offenbar doch nicht so unüberbrückbar. Nur drei Tage nach seiner Ernennung warf der neue Verteidigungsminister Panos Kammenos am 30. Januar, dem Jahrestag des Konflikts 1996 zwischen Griechenland und der Türkei um den Felsbrocken Imia in der Ägais, der jedes Jahr für große Mobilisierungen der Nazis sorgt (Jungle World 6/2014), von einem Militärhubschrauber aus einen Lorbeerkranz auf Imia ab, was große Empörung auf der türkischen Seite auslöste. Am selben Tag mahnte der neue Ministerpräsident Alexis Tsipras in einem Interview in der türkischen Zeitung Sabah den türkischen Staat, die griechischen souveränen Rechte zu respektieren. Seine Position war dabei nicht weniger nationalistisch als die all seiner Amtsvorgänger: »Wie können wir in eine gemeinsame Zukunft gehen, wenn sich die Zahl der Verletzungen des Luftraums Griechenlands 2014 seitens der türkischen Luftwaffe verdreifacht hat? Wir hätten zwar gerne eine Föderation auf Zypern, dieses Ziel wird jedoch durch die Verletzung der ausschließlichen Wirtschaftszone Zyperns durch das türkische Forschungsschiff ›Barbaros‹ behindert, das umgehend die Gegend verlassen muss.«
Auch das auf den ersten Blick unterschiedliche Verhältnis der zwei Parteien zur Kirche war kein Hinderungsgrund für eine Zusammenarbeit. Während Kammenos die enge Verbindung mit der orthodoxen Kirche zum Grundsatz seiner Partei erklärt hat, pflegt Tsipras eine widersprüchliche Haltung. Im Sommer hatte er den Heiligen Berg Athos besucht, um den Fortbestand der kirchlichen Steuerprivilegien zu versprechen (Jungle World 40/2014), vor seinem Amtseid als Ministerpräsident suchte er den Erzbischof auf und bat ihn um seinen Segen. Auf eine religiöse Vereidigung verzichtete Tsipras jedoch. Der gesellschaftliche Konsens, den Syriza ausdrücklich anstrebt, setzt voraus, keine Brüche mit der Kirche, den Wirtschaftsbossen, den Medien und den Sicherheitsapparaten zu riskieren. Zum Feind werden lediglich die »deutsche Besatzung« und die Troika stilisiert, damit das griechische Volk vereint gegen seine bösen Gläubiger im Ausland vorgehen kann. Zur Erinnerung an den nationalen Widerstand gegen Nazi-Deutschland besuchte Tsipras direkt nach seinem Eid den Hinrichtungsort in Kesariani, wo am 1. Mai 1944 200 Griechen durch die Wehrmacht erschossen wurden. Dass solchen antifaschistischen Gesten jedoch auch nationalistischer Wahn innewohnt, zeigte sich, als Panos Kammenos an die gemeinsame Sprengung der Brücke in Gorgopotamos 1942 durch linke und rechte Wiederstandsgruppen erinnerte, um klarzumachen, dass die nationale Einheit gegen Deutschland triumphieren könne.
Die Zusammenarbeit von Kammenos als Verteidigungsminister mit dem neuen Außenminister Nikos Kotzias, einem ehemaligen stalinistischen Kader der autoritär-kommunistischen KKE, später Berater des Pasok-Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou, mit ausgesprochen guten Kontakten zu Wladimir Putin und zu ultranationalistischen Kreisen, dürfte auch außenpolitisch für Spannung sorgen.
Die Regierungsbildung mit den »Unabhängigen Griechen« hat nur vereinzelt innerparteilichen Protest bei Syriza hervorgerufen. Bis auf zwei kleinere trotzkistische Fraktionen, die Kritik an der Kooperation übten, befinden sich alle Flügel von Syriza im Machtrausch. Es hat den Anschein, als sei Kammenos mit seiner Anel ein unumstrittener Bündnispartner. Schließlich pflegen beide Parteien keine Konkurrenz miteinander, fischen sie ihre Wähler doch an verschiedenen Stellen: Syriza im Bereich Mitte-Links und Anel auf der rechten Seite der Gesellschaft.
Doch auch da, wo man Kritik vermutet hätte, nämlich in den antiautoritären Bewegungen, herrscht größtenteils Zufriedenheit vor. Infolge der düsteren vergangenen vier Jahre nach den großen Protesten gegen die Austeritätsmaßnahmen und deren Niederschlagung haben nicht wenige Anarchisten das Hoffnungsmärchen von Syriza geschluckt und sogar teilweise bei den Wahlen für das linke Bündnis gestimmt. Schon die ersten populistischen Ankündigungen der neuen Minister, die weniger Polizeipräsenz versprechen und es sogar gewagt haben, Polizisten als Bullen zu bezeichnen – während Syriza der Polizei vor den Wahlen selbstverständlich ihr tiefstes Vertrauen ausgeprochen hat –, sind für viele Jugendliche im Athener Szenebezirk Exarchia ein Grund zum Jubeln.
Das wichtigste Versprechen, mit dem Syriza die Anarchisten zu den Wahlurnen gelockt hat, war die sofortige Abschaffung des Hochsicherheitstrakts Kategorie C (Jungle World 29/2014). Dieses Haftregime, eine Maßnahme der vorigen Regierung, zielte hauptsächlich auf die Isolation der wegen Terrorismus verurteilten Insassen, stieß aber nicht nur auf heftige Kritik der anarchistischen Bewegung, sondern ist auch unter Jura-Professoren, Polizeigewerkschaftern und Vollzugsbeamten höchst umstritten. Auch die Rechten sehen nicht, was diese Maßnahme bringen soll. Deshalb gilt es als so gut wie sicher, dass Syriza zumindest dieses Wahlversprechen einlösen wird. Hier könnte sich die neue Regierung als konsequent profilieren und trotzdem im Rahmen des gesellschaftlichen Konsenses handeln. Genau das ist Syrizas Strategie.